Hungern für die Liebe. Cassandra Light

Hungern für die Liebe - Cassandra Light


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geschafft, aber nur weil sie mich vergessen hatten und ich deshalb Zeit zum Essen hatte.

       Ich hoffe, dass ich morgen keine Bettruhe habe. Morgen ist der 1. Advent und ich will nach Hause. Ich vermisse sie. Wünsche mir Glück.

      Es ist erstaunlich, wie wertvoll mir mein Tagebuch war. Der einzige Gesprächspartner in dieser Zeit voller Druck, Gedanken, Ängste und Hoffen. Hoffen auf Besserung, Hoffen auf ein Wunder, das mich befreit.

       1. Advent, der 03.12.2000

       Heute habe ich keine Bettruhe. Als ich heute Morgen gewogen worden bin, habe ich 34,6 kg gewogen, das heißt, ich habe zugenommen. Vorher waren es 34,3 kg. Das war auch ganz schön schwer gestern. Die eine Schwester kann mich und ich sie nicht leiden.

       Was Mutti, Marleen und Papa jetzt wohl machen?

       Sie sitzen bestimmt mit einer Adventskerze zusammen und trinken Kaffee.

       Ich bin schon fertig damit. Bei mir gab es Baumkuchen und Joghurtdrink – liegt ganz schön schwer im Bauch, aber bis zum Abendbrot ist ja noch Zeit.

       Weißt du, ich habe eben wieder geweint. Ich bin hier ganz alleine und möchte so gerne nach Hause. Der Schmerz ist so groß. Ich vermisse sie so sehr und habe sie so doll lieb. Ich glaube, ich gehe hier ein. Es ist alles so schwer. Mein Herz kann bald nicht mehr.

       Morgen ist Montag und am Dienstag habe ich Geburtstag. Ob sie mich besuchen kommen?

       Ich habe die Regeln des Grazer Modells gelesen, dass ich 1 Mal in der Woche anrufen und 1 Mal für 2 Stunden Besuch haben darf.

       Ich wünsche mir zu meinem Geburtstag, dass ich hier rauskomme.

      Es tut weh und bringt ein bedrückendes Gefühl mit sich, wenn ich lese, dass ich emotional nicht mehr konnte. Wie die kleine Kinderseele von damals gelitten hat.

      Wie bildlich die Worte von damals geschrieben sind: das Herz, das dann nicht mehr kann. Gott hat uns das Herz als Mittelpunkt, als Zentrale des Körpers geschenkt. Das Herz, unser zentrales Organ, ohne das kein Leben möglich ist. Wenn das Herz nicht mehr kann, dann ist es das Ende für unseren physischen Körper. Das Ende des jetzigen Lebens auf dieser Erde. Und ich schrieb damals, dass es das Ende meines Lebens wäre.

      Verhungert. Verhungert an fehlender Liebe und Herzschmerz.

      Das berührt mich sehr. An diesem Punkt gibt es nicht viel zu schreiben, denn egal welche Worte ich jetzt verwende, sie könnten diese Tiefe nicht widerspiegeln. Jeder, der diese Zeilen liest, kann es fühlen.

      Ohne Worte …

      Am selben Tag schrieb ich weiter. Mit einer Hoffnung, die mich am »Leben« hielt. Die Hoffnung, die mich an diesem Tage getragen hat.

       Ich würde auch den Plan (das Grazer Modell) zu Hause durchführen. Ich weiß, dass ich das dann schaffen kann. Hier glaube ich das nicht, denn ich kann schon aus Sehnsucht und Schmerz nicht essen. Mutti und Papi müssen natürlich einstimmen. Wir können es doch probieren, jeden Morgen wiegen und so – alles nach dem Modell. Wenn irgendetwas nicht klappt, dann können sie mich doch sofort wieder herschicken.

       Ich wünsche mir das zu meinem Geburtstag. Von Herzen. Hoffentlich sind Mutti und Vati dafür bereit.

       Der liebe Gott, du, Diddl Maus, das Schweinchen von Mutti und alle Glücksbringer müssen mir helfen. Ich möchte es wenigstens probieren. Man kann es doch wenigstens versuchen. BITTE!

       Die Weihnachtszeit ist doch jetzt, mein Geburtstag und Nikolaus, ach BITTE!

      Ich glaube, es ist sehr schwer für Eltern, wenn ein Kind solche Lösungsvorschläge macht.

      Ich bin keine Mutter und würde aus meinem Gefühl heraus gegen alle logischen Argumente das Kind mitnehmen und ihm eine Chance geben, das Problem zu Hause zu lösen. Eine Mutter sieht das vielleicht ganz anders. Es ist ja auch eine riesengroße Gefahr und ein Spiel mit dem Leben. Die Verantwortung der Entscheidung trägt in diesem Moment die Familie.

       Es sterben circa 15 % an Magersucht, hat der Arzt zu mir gesagt, und ich bin nahe daran.

       Gott ist bei uns. Bei Mami, Papi, Marleen und auch bei mir. Er hilft uns.

      Ich frage mich, wie ein junges Mädchen oder auch ein erwachsener Mensch – egal wer – damit klarkommt, dass man gesagt bekommt: Du stirbst vielleicht gleich.

      Ich bekomme Gänsehaut und es ist komisch ruhig. Anders.

      Ich versuche nachzuvollziehen, wie man das verarbeiten kann.

      Ich schätze in diesem Fall, dass da eine große kindliche Leichtigkeit war und mir das Ausmaß dessen, was Tod eigentlich bedeutet, nicht vollkommen klar war. Tod bedeutete für mich nicht zwangsläufig das Ende.

      Es ist noch heute so, dass ich weiß, dass unser Körper von hier weggeht.

      Das ist jedoch nicht das Lebensende. Es ist aus meiner Sicht das Ende hier in diesem Körper, aber es geht auf einer anderen Ebene weiter. Es ist völlig legitim, wenn man das anders sieht. Das hier ist die Meinung, die ich dazu vertrete.

      Damals und auch heute.

      Der große Unterschied zu damals ist der, dass heute Respekt vor dem Tod da ist. Achtsamkeit.

      Ich kann verstehen, dass sich meine Eltern damals für diesen Weg entschieden haben. Zumindest vom Verstand her. Vom Herzen möchte ich es nicht verstehen. Ich kann nicht für sie reden, ich denke jedoch, dass die Angst um das Leben ihres Kindes, die Angst um mich, ihr Handeln bestimmte. Bestimmt fiel es ihnen alles andere als leicht.

      Angesichts der Zahlen von damals – 15 Prozent! – ist es ein erschreckender Faktor und ein großes Druckmittel, wie viele Menschen aus seelischen Gründen bei uns verhungern. Verhungern in einer Gesellschaft, die alle erdenklichen Lebensmittel und Luxusgüter bereithält.

      Unsere Gesellschaft hat vieles, emotional jedoch kaum etwas zu bieten. Alles Materielle ist gegeben, aber wenig von dem, was die Seele des Menschen nährt. Mit steigendem Materialismus fällt die emotionale Fürsorge. Man kann alles haben, es kann einem an nichts mangeln, und doch kann man in der Tiefe seines Geistes einsam und allein, traurig, gebrochen oder hilflos sein.

      In einer Gesellschaft, in der scheinbar genügend Nahrung zur Verfügung steht, starben schon zum damaligen Zeitpunkt 15 Prozent der an Magersucht Erkrankten. Die heutige Recherche ergab, dass in den vergangenen zehn Jahren die Zahl der Menschen, die an Magersucht sterben, um 30 Prozent gestiegen ist. 1,1 Prozent der Frauen und 0,3 Prozent der Männer in den westeuropäischen Ländern sind an Magersucht erkrankt. Das sind die offiziellen Zahlen. Hinzu kommen Menschen, die nicht behandelt werden, die nicht wissen, dass sie krank sind – die Dunkelziffer. (Quelle: statista.com)

      Darüber hinaus fiel mir bei der Recherche eine interessante Textstelle auf. Hier hieß es, dass die magersüchtige Person nicht das Problem beziehungsweise der Fehler im System ist. Die magersüchtige Person ist sozusagen das Symptom und »bringt etwas nach draußen«. Sie oder er deckt etwas auf. Die von der Krankheit betroffene Person ist der Ausdruck des Problems, nicht die Ursache.

      Dies ist ein wichtiger Fakt, den es zu erwähnen gilt. Er mag dem Leser als Hintergrundinformation dienen. Diese Information erscheint mir plausibel und nachvollziehbar. Sie ist jedoch nicht das »Gesetz«.

       Ich habe mir noch nie etwas so gewünscht wie jetzt. Mein einziger Geburtstagswunsch ist, dass ich nach Hause darf und wir es da mit dem Modell probieren.

       Ich würde dann auch nicht zur Schule gehen, erst im zweiten Drittel des Modells. Bloß Mutti und Vati müssen ja sagen. Meine Chancen stehen aber kaum gut. Fast gar keine Chance besteht.

       Ich hoffe nur, der liebe Gott steht mir bei und probiert es, dass sie ja sagen. Ein Versuch ist es doch wert, oder?

      


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