Start klar. Leibovici-Mühlberger Martina
Menschheit selber, so dicht gepackt und ständig auf der Achse, ist ein großartiger Wirtsorganismus für ein Virus.
Doch was uns so sehr zum idealen Wirt macht, ist tatsächlich nicht in erster Linie durch unsere Biologie als großes warmblütiges Säugetier festgeschrieben. Die wirkliche Nahrung der globalen Pandemie, das Sprungbrett des viralen Erfolgs, findet sich in unserer Lebensweise und der dahinter liegenden Geisteshaltung. Oder ganz einfach ausgedrückt: Die biologische Krise COVID-19 spiegelt in erster Linie eine ideelle Krise der gesamten Menschheit wider. Diese Erkenntnis geht durch Mark und Bein, weil sie uns einige brutale Wahrheiten auf dem Serviertablett präsentiert.
Erstens. COVID-19 ist, auch wenn es im Kleid einer Naturkatastrophe einherkommt, eine zivilisatorisch bedingte Krise. Unser Verhalten, unser Denken, unser Wertekanon, eben unser »way of living« dienen als Nährboden in der Petrischale des Globus für Pandemien wie den Corona-Ausbruch.
Zweitens. COVID-19 ist mit seiner Verlaufsform, sich rasant über den ganzen Globus auszubreiten, tatsächlich nicht unvorhersehbar über uns hereingebrochen, sondern folgte klaren systemtheoretischen Gesetzmäßigkeiten. Achtsamkeit in Bezug auf Grenzen des globalisierten Wachstums und kritische Reflexion bezüglich unserer Werte und Handlungsmuster sind eine viel effektivere Prävention als Masken, Impfungen und Sicherheitsabstände. Mit all diesen Maßnahmen können wir auch in Zukunft den Ereignissen immer nur einen Schritt hinterher hinken. Im besten Fall vermögen wir das Feuer zu löschen, doch nicht den Brand zu verhindern, und stehen am Ende in den rauchenden Trümmern.
Drittens. COVID-19 macht deutlich, dass einige bisher sakrosankte Paradigmen wie zum Beispiel das Streben nach grenzenlosem Wirtschaftswachstum und endlosem Konsum ausgedient haben müssen. Das Limit ist unsere eigene Biologie als verletzliches, sterbliches Wesen, denn die Mechanismen und Abläufe der Lebenswelt der Steigerungsgesellschaft töten uns.
Doch wir hatten Glück im Unglück. COVID-19 wird uns nicht ausrotten, sondern ist nur ein Schuss vor den Bug. Ein kräftiger, der ganzen globalen Menschheit spürbar hingeknallt, der uns zwingt, uns zu besinnen. Denn der Ausbruch der Pandemie macht sichtbar, dass diese gesamte Zivilisation weltumspannend im Eilzugtempo an die Wand fährt, wenn sie ihren Kurs beibehält.
Der Eilzug ist auch ein gutes Bild, um die gesellschaftlichen Auswirkungen zu verdeutlichen. Wir sitzen alle im Zug. Die Alten sitzen ganz vorne und werden von der Wucht des Aufpralls voll getroffen, vielfach mit Todesfolge. Die Jungen sitzen im letzten Waggon und können dem Crash vergleichsweise entspannt entgegenblicken. Doch wer sagt, dass bei der nächsten Fahrt nicht auch die Jungen auf den vordersten Plätzen gebucht sind?
Dieser Tage begegnet mir in Gesprächen mit Freunden oft das Bild der geknechteten Natur, die sich gegen ihren Peiniger, die Menschheit, auflehnt. Wen wundert es? Nicht zuletzt dank Fridays for Future sind die toten Flüsse, die gerodeten Amazonas-Wälder, die verheerende Verschmutzung der Weltmeere, die abschmelzenden Polkappen, die Sturm- und Hochwasserereignisse und sämtliche anderen Klimakatastrophen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Zum dramatischen Wendepunkt eines Thrillers ist es dann nicht mehr weit: Die versklavte Natur liegt schwer atmend vor ihrem arroganten Widersacher im Dreck. Doch dann geschieht das Unerwartete. Ein bislang nicht gekanntes Virus schwingt sich zur Rettung der Totgesagten auf. Mit letzter Kraft, aber dennoch würdevoll, hebt die Natur ihr Haupt, um die Spezies Mensch mit ihrer eigenen Lächerlichkeit im Angesicht einer tödlichen Seuche zu konfrontieren. »Du hältst dich für die Krone der Schöpfung?«, höre ich die Natur langsam, mit bedächtiger Stimme sprechen und als Zuschauer ahnt man bereits, dass sich jetzt gleich eine faktische Realität unabweislich enthüllen wird. »Mit dem Allerkleinsten, einem simplen Virus, vermag ich dich zu vernichten!«
Begann mit COVID-19 wirklich eine Dystopie, wie wir sie aus pathetischen, dunklen Katastrophenfilmen kennen? Ich behaupte, nein. Dies, obwohl ich mir bewusst bin, dass meine Behauptung von meinem Glauben an die reflektierenden Kräfte der globalen Gesellschaft und der Hoffnung, sie mögen den Diskurs bestimmen, getragen wird. Ich bin mir dabei bewusst, dass auch andere Optionen im Angebot sind. Aber ich habe neben Glauben und Hoffnung auch noch ein paar handfeste Argumente im Gepäck. Ich will sie in meinem Plädoyer »Machen wir uns startklar für einen Aufbruch in eine neue Welt« Ihnen als den Geschworenen und Richtern, die über das weitere Schicksal des Delinquenten namens Zivilisation entscheiden, präsentieren. Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter. Die COVID-19-Krise könnte die Auftaktveranstaltung für die gelebte Utopie eines Goldenen Zeitalters werden. Wir müssen nur die Zeichen richtig deuten und entsprechend handeln.
Wir müssen uns nur entscheiden
Ja, COVID-19 hat eine Krise ausgelöst. Das ist globaler Konsens, egal ob man zum Lager der kühlen Analysten oder zum Lager der mahnenden Hysteriker gehört. Die Krise ist real und deshalb mussten die politischen Entscheidungsträger handeln. Sie mussten mit Bedrohungsszenarien umgehen und der allgemeinen Unsicherheit entgegentreten. All das fand unter enormem Zeitdruck statt, gepaart mit der Gewissheit, dass jede Entscheidung weitreichende Auswirkungen auf unsere Zukunft haben wird. Nichts wird nach COVID-19 so sein wie vorher. Diese Festlegung transportierten Medien, Politiker und Experten unisono und fast vom Anfang der Krise an. So sicher die totale Veränderung zu sein scheint, so fragwürdig sind die damit verbundenen Konditionen des Weiterlebens.
Wie wird die Welt nach COVID-19 also aussehen? Sie wird gerade geboren, ist eben in statu nascendi. Doch eines ist klar. Ihr Antlitz, ob es sich um eine erschreckende, hässliche Fratze handeln wird oder sich ausgeglichene Harmonie in den Gesichtszügen spiegelt, wird davon bestimmt werden, für welche Spielregeln wir uns entscheiden.
Macht COVID-19 in der Folge also wirklich Tabula Rasa mit unserer Zivilisation und ihren Denkmustern? Oder werden wir uns in kollektiver Ängstlichkeit an das Bisherige klammern und mit noch mehr Härte, Druck und Konsum die Wirtschaftskreisläufe am Laufen halten, »koste es, was es wolle«? Könnte es stattdessen auch passieren, dass wir uns neu erfinden und uns von der Ausnahmesituation beflügeln lassen? Welche altgedienten Werte wollen wir dabei trotz der Aufbruchsstimmung in die neue Welt hinüberretten und wofür lohnt es sich zu kämpfen? Und am Allerwichtigsten, wie, in ganz praktischer und konkreter Weise, entwickelt sich die Welt nach COVID-19 weiter? Welche Schritte gilt es zu setzen?
Das Wort Krise kommt aus dem Altgriechischen und steht für eine »Beurteilung« oder »Entscheidung«. Das dazugehörige Verb »krinein« bedeutet »trennen« beziehungsweise »unterscheiden«. Womit eigentlich geklärt sein sollte, was im Moment zu tun ist. Wir müssen …
… erstens die Lage beurteilen und dazu möglichst viele kompetente Stimmen hören.
… zweitens Entscheidungen treffen, wie wir in Zukunft leben wollen.
… drittens unsere Handlungs- und Denkmuster auseinander dividieren, um dann zu entscheiden, von welchen dieser Muster wir uns in Zukunft besser trennen.
Das klingt eigentlich nicht so schwer und bedeutet dennoch eine Aufgabe, die sogar einem Titanen, wie sie in den griechischen Götter- und Heldensagen vorkommen, gröberes Kopfzerbrechen beschert hätte. Denn nicht weniger als eine schonungslose Selbstreflexion unseres Seins als Menschheit ist gefragt. Nackt und ungedeckt, dafür mit einer Haltung, die rationales Denken mit empathischem Empfinden in Einklang zu setzen vermag, müssen wir unserem Spiegelbild, der Zivilisation, vertrauensvoll und veränderungsbereit entgegenblicken. Wir werden dabei nicht nur wohlgefällige Errungenschaften erkennen, sondern auch mit Falten und Verwerfungen konfrontiert werden. Ja, und auch unsere eigene Hässlichkeit, ja sogar Niedertracht wird uns an mancher Stelle entgegen starren.
Doch seien wir mutig und sei es, weil wir jetzt bereits auf die Spitze der Klippe hinaufgeklettert sind und es kein Zurück mehr gibt. Das ist das Wesen der Krise. In der Medizin ist die Krise der Höhepunkt der Erkrankung, jener Zeitpunkt an dem sich entscheidet, wie sich die Krankheit weiter entwickeln wird, ob der Patient sterben oder genesen wird.
Besser also, wir machen uns nichts vor. Die Krise hat sich angebahnt. Sie hat sich im kollektiven Unbewussten Schritt für Schritt aufgebaut und wurde durch die gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte befeuert. Wir haben technologische Höchstleistungen in atemberaubendem Tempo vorangetrieben. Das exponentielle