Start klar. Leibovici-Mühlberger Martina

Start klar - Leibovici-Mühlberger Martina


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Autokratien und Blöcke wurden von aufblühenden Demokratien verdrängt.

      Über all das haben wir zurecht gejubelt. Diese Errungenschaften der jüngeren Vergangenheit haben uns aber nicht davon abgehalten, gleichzeitig Überforderung, Beliebigkeit, Macht- und Wohlstandsgefälle und ungebremsten Konsumismus zu züchten. Wir wollten von möglichst allem so viel wie möglich und haben das maßlose Streben als Teil unserer hart erkämpften Freiheit interpretiert. Wir haben also das Kleingedruckte im Vertrag bewusst ignoriert. Das war jener Teil, in dem es bei aller Wahlfreiheit um die gleichzeitig uns zufallende Wahlverantwortung ging. Das trifft uns jetzt breitseite.

      Dieser narzisstische Individualismus funktionierte ausgezeichnet im Fahrwasser einer neoliberalen Wirtschaftspolitik. Er prägte den Alltag unserer Gesellschaft und verursachte einen nur mehr als dramatisch zu bezeichnenden Anstieg bei der Diagnose von narzisstischen Persönlichkeitsstörungen. Im atemlosen Wettkampf der Selbstdarsteller blieben gleichzeitig viele auf der Strecke. Sie vermochten im Strudel der Selbstoptimierung weder zu bestehen noch sich ihm erfolgreich zu entziehen. Der sozialen Vernetzung standen Vereinzelung, Isolierung und Abschottung gegenüber.

      Zusammengefasst müssen wir wie der Arzt am Krankenbett attestieren: Es gab Errungenschaften und es gab Fehlentwicklungen. Es gab Gutes und es gab Schlechtes. Wir haben unsere Energien und unsere Zeit in Materielles investiert und unsere Menschwerdung vernachlässigt. Nun müssen wir der Krise alle Ehre machen und uns entscheiden, von welchem Ballast wir uns trennen.

      Die Normalität von früher gibt es nicht mehr

      COVID-19 ist also, soviel sollte mittlerweile klar sein, nur ein Brandbeschleuniger für eine tiefe ideelle Krise. Es ist ein biologisches Symptom, das auf den Nährboden einer taumelnden Gesellschaft trifft und nur und gerade deswegen diese globale Wucht entfalten kann. Und das Anliegen ist dringlich, duldet keinen Aufschub. Denn jetzt ist das Leben. Und die Grenzen des alten Systems sind erreicht. Wir entscheiden also, ob das Geschehen zu einer gesellschaftlichen Chance oder zum Steigbügelhalter einer stufenweisen Vernichtung wird. Dessen sollten wir uns in jedem Moment bewusst sein, nicht nur in bleischweren schlaflosen Nächten.

      Derzeit idealisieren wir noch das, was wir »Normalität« nennen und womit wir die Zeit vor COVID-19 beschreiben. Doch schon vor einigen Wochen, als wir noch in dieser »Normalität« lebten, war unser Leben bereits von tiefer gesellschaftlicher Verunsicherung und Orientierungslosigkeit geprägt. Der Vertrauensverlust gegenüber etablierten politischen und wirtschaftlichen Strukturen schritt stetig voran. Mancherorts ertönte sogar der Ruf nach einem »starken Mann«. In Teilen der Welt wurde dieser Wunsch auch erhört und in rückwärtsgewandte Reformbewegungen mit autokratischen Führungsfiguren übersetzt. Und die scheinbar stabilen Demokratien suchten Halt in einer neurotischen Überregulierung, die die Illusion von persönlicher Freiheit durch absurde Regelwerke, Verordnungen und Gesetzeskonvolute konterkarierte.

      COVID-19 macht Schluss mit diesem Firlefanz. Es demonstriert auf eindrucksvolle Weise, dass aufrechte Haltung ohne inneres Rückgrat ein Ding der Unmöglichkeit und für ein lebendiges Leben nie und nimmer durch ein äußeres Korsett ersetzbar ist. In Krisenzeiten sind die »Helden des Alltags« gefragt. Menschen, die Profil zeigen, deren Engagement sich nicht im Setzen eines Hashtags mit »stay at home« erschöpft. Menschen, die Haltung beweisen, wie etwa der Behindertenbetreuer Walter Weiss, der bei seinen mit Corona infizierten Schützlingen in der Wohngemeinschaft in Stockerau blieb. Oder das medizinische Personal in Italiens Spitälern, das sich der enormen Gefahr und der totalen Erschöpfung nicht durch Krankenstände entzog. Oder auch die Kassenkräfte in den Supermärkten, die geduldig die Hamsterkäufe der aufgewühlten Bevölkerung abfertigten. Sie alle setzen ein starkes Zeichen.

      In ihnen zeigt sich ein humanistisches Profil, das ebenfalls Bestandteil unseres kollektiven Unbewussten ist. Denn auch das steckt in uns und wird nun in der Krise sichtbar.

      Gerade jetzt und mit dem Vorbild all dieser Menschen, ihrem realen aktiven Handeln, eröffnet sich die Chance, frühere Fehler nicht nochmals zu begehen. Es ist wichtig, die positiven Aspekte der Krise wertzuschätzen. Doch heißt dies nicht, uns als »Gutmenschen« lautstark abzufeiern. Das würde bedeuten, den neuen weichen ideellen Kern der Krise in einem Overkill an kollektiver Selbstgefälligkeit untergehen zu lassen.

      Deshalb nochmals: COVID-19 zeigt uns, dass wir mit unserer Lebensart, die wir als »Normalität« einstufen, das Ende der Fahnenstange erreicht haben. Wir, und damit meine ich die gesamte Weltbevölkerung, stehen an dieser verdammten Weggabelung und haben gerade noch Zeit, uns schnell mal am Kopf zu kratzen, bevor wir eine folgenschwere Wahl treffen.

      Es wird ganz sicher nicht mehr mit lahmarschigem Herumlavieren funktionieren. Auch der Ruf nach einer neuartigen Versicherungspolizze im Gewand einer Sonderförderung oder einer anderen Hauruck-Maßnahme wird nichts helfen. Die Auswirkungen der Krise sind zu tiefgreifend. COVID-19 ist mehr als eine Stammtischgeschichte der politischen Kleingeldjäger einer fernen Zukunft. Wir werden Verantwortung für unser weiteres Fortkommen als Spezies übernehmen müssen. Es wird Zeit, dass wir als Menschheit erwachsen werden!

      Damit ist es klar, dass diese Krise an die Substanz unseres gesellschaftlichen Gefüges geht, ja gehen muss. Nach einer Normalität, wie wir sie kennen, brauchen wir uns nicht zurücksehnen. Sie hat in dieser Form ausgedient. Aber an der verdammten Weggabelung, an der wir jetzt sind, geht es um nicht weniger als die radikale Neudefinition von Normalität.

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