Ekiden. Adharanand Finn
seien, Teamwork über individuelle Konkurrenz zu stellen. Sie sagt, dass Tauziehen und drei-, fünf- oder siebenbeinige Rennen typische Disziplinen seien, in denen Zusammenarbeit unerlässlich ist, um Erfolg zu haben. Sie erwähnt auch, dass Fernsehsendungen für Kinder oft das Thema Kooperation wiederholen, indem zum Beispiel der Held daran scheitert, wenn er ein Monster oder eine außerirdische Macht allein besiegen will, und zwar so lange, bis ihm andere, die ebenfalls dieser Gefahr ausgesetzt sind, zu Hilfe kommen.
Unter Erwachsenen gibt es mehr Aktivitäten, die in geordneten Gruppen ausgeführt werden, als ich es aus Großbritannien gewohnt bin. Egal, wohin man geht – meist bei Touristenattraktionen, aber auch in unscheinbaren Vororten –, überall kann man geordnete Gruppen von Leuten sehen, die von Personen mit Fähnchen herumgeführt werden. Oft tragen sie auch gleiche Jacken und Hüte.
Diese konformistische Ader erklärt vielleicht bis zu einem gewissen Grad, warum der Ekiden in Japan so populär ist und warum gerade der Langstreckenlauf, eine typische Einzelsportart, in einen Mannschaftssport umgewandelt wurde.
Viele der besten Ekiden-Teams in Japan wurden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, als Teil des Wiederaufbaus. Wettbewerbe wurden als Möglichkeit gesehen, die Leute zusammenzubringen und die Moral und den Gemeinschaftsgeist des Volks nach den Schrecken des Kriegs wieder zu stärken. In dieser Zeit wurden auch viele der bekanntesten Marathonbewerbe des Landes ins Leben gerufen, etwa der Biwa-See Marathon (erstmals 1946) und der von Fukuoka (1947), sowie viele der wichtigsten Ekiden-Rennen, die anfangs nur als Training für Marathons gedacht waren.
Die größten Wettbewerbe wurden von Zeitungen gesponsert – und die meisten davon werden es noch immer –, damit die Menschen über die Teams und Läufer lesen und die Ergebnisse mitverfolgen konnten. Das half sehr dabei, die Popularität unter der Bevölkerung zu steigern. Und je stärker die japanische Wirtschaft in der Nachkriegszeit wuchs, umso mehr Geld begannen Firmen in ihre Teams zu stecken, indem sie die besten Athleten an den Universitäten verpflichteten und ihnen sogar zusätzlich Trainingszeit während der Arbeit gewährten.
Dieses starke Engagement im Langstreckenlauf begann sich bald zu rechnen, und in den 1960er-Jahren, als Japan zu einer weltweiten Wirtschaftsgroßmacht heranwuchs, dominierten japanische Läufer den Marathon so, wie es die Kenianer und Äthiopier heute tun. 1965 wurden zehn der elf schnellsten Zeiten von japanischen Männern gehalten. 1966 waren 15 Japaner unter den 17 Besten.
Eine vielbewunderte Eigenschaft der japanischen Gesellschaft war damals ein Konzept namens Wa, Gruppenharmonie. Ein ganz besonderer Verfechter dieser Idee war der Coach des wohl berühmtesten japanischen Baseballteams, der Yomiuri Giants, die von 1965 bis 1973 neunmal in Folge die nationalen Meisterschaften gewannen. Baseball ist in Japan sogar noch um einiges populärer als Ekiden, und laut William W. Kelly, Professor für Anthropologie und Japanologie an der Yale University, wurde der Erfolg der Yomiuri Giants zum kraftvollen Überbegriff für die vor Selbstvertrauen strotzende Industriegesellschaft und konkurrenzstarke, aufstrebende Wirtschaftsmacht, als die sich Japan gerne selbst darstellte. Mehr von einem Feldmarschall als von einem General Manager dirigiert, projizierten die Spieler der Giants ein Bild und einen Spielstil, der Teamwork, Engagement und das Kollektiv in den Vordergrund stellte.
Viele aufstrebende japanische Firmen betrachteten die Giants als Vorbild, um eine Atmosphäre zu schaffen, in der man sich selbst für das Wohl der anderen aufopfert, in der von den Angestellten erwartet wurde, zur Harmonie der Gruppe beizutragen – in diesem Fall zur Harmonie der Firma. Das bedeutete auch, dass die Arbeit an erster Stelle stand, vor der Familie und den Eigeninteressen, die zuletzt folgten. Das typische Bild eines japanischen Büroangestellten oder Sarariman, wie sie in Japan genannt werden, war ein Mensch, der früh ins Büro kommt, es spät wieder verlässt und nach der Arbeit zusammen mit seinen Arbeitskollegen etwas trinkt, bevor er nach ein paar Stunden Schlaf wieder früh zur Arbeit fährt. Die Anzahl der schlafenden Männer in Anzügen, die ich abends in den Spätzügen sehe, deutet darauf hin, dass dieses Verhalten noch immer weitverbreitet ist, obwohl vielleicht nicht mehr ganz so dominant wie einst.
Viele Unternehmen übernahmen das Konzept des Wa in ihre Firmenmottos, und Japan verdankt seinen wirtschaftlichen Aufstieg in der Nachkriegsära wohl zu großen Teilen dieser Idee.
Robert Whiting schreibt in seinem 1989 erschienenen Buch You Gotta Have Wa, das von japanischem Baseball handelt, das Wort für Individualismus, Kojin-shugi, sei in Japan ein fast schon unanständiges Wort … Das Konzept und die Praxis der Gruppenharmonie sei der größte Unterschied zwischen japanischem und amerikanischem Baseball. Es ist der rote Faden, der sich durch das japanische Leben und den japanischen Sport zieht.
„Selbst die Bienen haben es hier“, sagt Max eines Tages zu mir, als wir durch die Vororte Kyotanabes fahren, auf der Suche nach einer gebrauchten Waschmaschine.
„Die Bienen?“
„Man hat einmal versucht, in Japan europäische Honigbienen anzusiedeln“, erklärt er mir. „Aber sie wurden von den riesigen japanischen Hornissen ausgerottet. Die europäischen Bienen konnten ihnen nichts entgegenhalten. Als die Hornissen die Bienenstöcke angriffen, flogen die Arbeiterinnen einzeln aus, um den Angriff abzuwehren. Doch gegen die riesigen Hornissen hatten sie nicht den Funken einer Chance. Die haben ihnen mit ihren Kiefern einfach den Kopf abgerissen. Eine kleine Gruppe Hornissen kann einen ganzen Bienenstock innerhalb weniger Stunden vernichten.
Japanische Bienen dagegen verteidigen sich auf eine andere Art. Anstatt hoffnungslos in ihren Tod zu fliegen, warten sie, bis die erste Hornisse zum Auskundschaften in den Bienenstock eindringt. Dann stürzen sich alle gemeinsam in einem dichten Schwarm auf die Hornisse. Sie versuchen auch nicht, sie zu stechen, sondern beginnen so stark mit ihren Flügeln zu vibrieren, dass die Temperatur ansteigt und das Kohlendioxid, das sie produzieren, den ganzen Stock ausfüllt. Die Hornisse hat bei diesen hohen Temperaturen und CO2-Werten keine Chance zu überleben. Das ist die Stärke der Gruppe“, sagt Max und hält vor einem weiteren Secondhand-Laden, vor dem eine Reihe gebrauchter Fahrräder und Waschmaschinen steht.
Ekiden verkörperte den Geist des Wa perfekt. Ein Staffellauf kann nur dann erfolgreich sein, wenn jeder Teil der Staffel seine Aufgabe erfüllt. Hier müssen alle zum Wohl des Teams an einem Strang ziehen. Es passte perfekt zum damaligen Zeitgeist, und so erfreute sich der Ekiden Schritt für Schritt immer mehr an Popularität und überholte damit den Marathon in seiner Beliebtheit.
Natürlich wäre es zu einfach, den Aufstieg des Ekiden allein an der konformistischen Natur der japanischen Gesellschaft festzumachen. Tatsächlich fängt diese weitverbreitete Sichtweise Japans als Kollektivgesellschaft bei genauerem Hinsehen langsam zu bröckeln an.
„Wenn die Japaner solche Konformisten sind, wie kommt es dann, dass alle ihre landestypischen Sportarten wie Judo, Karate, Sumo und so weiter Einzelsportarten sind?“, fragt Brian Moeran, Professor für Wirtschaftsanthropologie an der Kopenhagener Business School.
Das ist eine gute Frage. Roland Kelts, der japano-amerikanische Autor von Japanamerica: How Japanese Pop Culture Has Invaded the US, meint, dass Ekiden deshalb so gut zu Japan passt, weil dieser Sport auf einer individuellen Leistungskomponente aufgebaut ist. So schreibt er, dass, obwohl Japan dazu tendiere, die Harmonie der Gruppe über die Wünsche des Einzelnen zu stellen, dies nicht bedeute, dass Individualität und individuelle Leistungen und Verantwortung abgewertet würden. Tatsächlich legt das Konzept des Amae, das Bedürfnis voneinander abhängig zu sein und sich gut mit anderen zu verstehen, großen Wert auf individuelles Verhalten und individuelle Leistung. Du musst als Einzelner ein besserer Mensch sein, wenn sich andere auf dich verlassen. So gesehen sei Ekiden der perfekte Sport für die Japaner, denn während jeder Einzelne sein Bestes geben müsse, sei das Ziel der Erfolg der Gruppe, meint er.
Baseball dreht sich im Grunde auch um diesen Kampf zwischen zwei Individuen, in diesem Fall zwischen Werfer und Schlagmann, die beide für ihr Team kämpfen.
Keine dieser beiden Sportarten definiert sich speziell über Konformität oder das Nicht-Hervorstechen, sondern mehr darüber, dass die Verantwortung des Einzelnen im Vordergrund steht, dass jede einzelne Person ihren Teil zum Erfolg des Teams beiträgt. Beim Ekiden ist das sogar noch mehr der Fall als in anderen Teamsportarten,