Ekiden. Adharanand Finn
sagt sie immer wieder, während ich mich frage, worauf ich mich da wohl eingelassen habe.
Am nächsten Morgen, es ist 5:20 Uhr, läutet mein Wecker. Ich ziehe meine Laufsachen an und trete vor die Haustür in den stillen Morgen. Es ist bereits recht warm. Ryohei, der Junge aus dem Haus gegenüber, wartet bereits. Er trägt einen Mund-Nasen-Schutz und lehnt an seinem Fahrrad. Er verbeugt sich höflichst und deutet auf die Räder in unserer Auffahrt. Es war uns gelungen, Fahrräder für uns alle – außer für mich – zu erstehen. Also nehme ich das von Marietta und folge ihm die Straße hinunter.
Vor dem Tante-Emma-Laden an der Ecke hält er, steigt vom Rad und schaut herum, fast so, als ob sich seine Freunde in den Büschen verstecken würden. Nichts bewegt sich im gräulichen Zwielicht. Es ist noch sehr früh. Dann sehen wir einen Jungen auf seinem Fahrrad die Straße entlang in unsere Richtung kommen. Ohne etwas zu sagen, bleibt er neben uns stehen und steigt ab. Er sieht nicht gerade überrascht aus, mich zu sehen. Einige Minuten später gesellt sich ein dritter Junge zu uns. Er lächelt und begrüßt mich auf Englisch, bevor er sich seinen beiden Kameraden zuwendet und sich leise mit ihnen unterhält. Sie alle tragen Shorts und T-Shirts. Keine spezielle Laufkleidung, sondern einfache Baumwollleibchen und normale kurze Hosen.
Es ist nur schwer vorstellbar, dass englische Teenager so zeitig am Morgen aufstehen würden, um laufen zu gehen. Aber ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht, wie oft das in Japan vorkommt. Das Ganze kann auch reiner Zufall sein, dass ich genau in der einzigen Seitengasse gelandet bin, in der es Teenager gibt, die um halb sechs in der Früh laufen gehen. Doch das scheint auch etwas weit hergeholt. So entdecke ich zum Beispiel einen anderen Jungen, der gerade Baseball trainiert, als ich wieder einmal frühmorgens das Haus verlasse. Er wirft den Ball immer wieder gegen eine Hauswand und versucht, ihn dann zu fangen. Als ich einmal spätnachts nach Hause komme, sehe ich zwei Männer, die gerade Schlagen trainieren, allerdings mit zirka 200 Federbällen, anstelle von Baseballbällen. Die Federbälle sind auf der ganzen Straße verstreut, wie kleine Papierlampions. Was diese beiden Männer, der eine Junge und die Teenager, mit denen ich an diesem Morgen laufen gehe, gemeinsam haben, ist, dass sie wirklich ernsthaft trainieren. Das ist kein einfaches „Herumspielen“, das ist richtiges Training. Sie nehmen es ernst. Diese Einstellung zum Sport wird mir während meines Aufenthalts in Japan immer wieder begegnen.
Nachdem wir noch ein paar Minuten gewartet haben, ohne dass noch jemand gekommen wäre, steigen die drei Burschen wieder auf ihre Fahrräder und fahren los. Sie haben moderne Mountainbikes, auf denen sie sanft und geräuschlos durch die Straßen gleiten. Mariettas Rad ist alt, schwerfällig, ohne Gangschaltung und mit einem klapprigen Kindersitz. Dazu kommt, dass es zu klein für mich ist, und so muss ich mich richtig anstrengen, um mit ihnen mithalten zu können.
Nach einer etwa fünfminütigen Fahrt verlassen wir die Vorstadtstraßen und erreichen eine weite, offene und flache Gegend mit Feldern. Die Sonne geht gerade auf und lässt Reihen von Auberginenpflanzen und Orangenbäumen in Gold erstrahlen. Jetzt macht es auf einmal Sinn, bereits wach und draußen in der Natur zu sein und herumzufahren, als wären wir vier Entdecker, die einen neuen Planeten erforschen.
Ohne uns zu unterhalten, fahren wir zwischen den Feldern hindurch, bis wir einen Fluss erreichen. Dann folgen wir dem Flussufer, bis wir unter einer gigantischen Brücke anhalten. Über uns hören wir die brummenden Motoren der ersten Autos, die bereits unterwegs sind, sowie einige Lastwagen. Hier an der Straße befinden sich Warenhäuser, ein Autosalon und auch einige Wohnblöcke. Ein paar Pensionisten tummeln sich bereits entlang des Uferwegs. Doch sie machen keinen gemütlichen Spaziergang oder führen ihre Hunde Gassi, so wie in England. Nein, sie tragen Sportbekleidung, schwingen ihre Arme durch die Luft und betreiben Sport.
Wir lassen unsere Fahrräder nahe des Ufers im Gras liegen. Es gibt keinen Grund, sie abzusperren. Dann gehen wir zum Startpunkt oben auf der Brücke.
Eigentlich ist es schade, dass wir hier oben an der Straße stehen und uns aufwärmen, wo es doch da unten am Fluss so viel Platz gibt. Aber das hier ist ihr Start, markiert durch eine Linie am Boden.
„Fünf Kilo“, sagt Ryohei zu mir und meint damit fünf Kilometer. Ich bin mir sicher, dass sie diese fünf Kilometer millimetergenau abgemessen haben. Auf jeden Fall dauert das Aufwärmen nicht lange. Ichi, ni, san, eins, zwei, drei … und los geht’s.
Sie sprinten los, als wäre dies ein 100-Meter-Rennen. Meine alten Beine brauchen einige Zeit, um auf Touren zu kommen. So zeitig am Morgen so schnell zu laufen, bereitet meinen um diese Zeit noch eingerosteten Sehnen einige Schmerzen. Ich muss erst einmal langsam beginnen, während die drei Burschen entlang des Flusses vorauslaufen. Sind die wirklich so schnell? Ich versuche, das Tempo zu erhöhen, um sie einzuholen.
Nach ein paar Minuten läuft mir der Erste von ihnen wieder entgegen. Er joggt gemütlich. Ryohei und sein anderer Freund kommen mir nun auch entgegen, doch viel gemächlicher als zuvor. Als ich wieder bei der Gruppe bin, gibt Ryohei erneut Gas. Wir erreichen eine Markierung am Weg, und beide drehen um. Wir laufen in moderatem Tempo zusammen zurück zum Startpunkt, wobei Ryohei immer wieder kurze Sprints hinlegt. Schließlich wird er langsamer, und sein Freund und ich geben Gas. Inzwischen bin ich aufgewärmt, und das Laufen fällt mir nun viel leichter, doch ich will ihnen nicht davonlaufen. Wir kehren wieder zum Ausgangspunkt an der Straße zurück, und alle stoppen ihre Zeit. Ryohei nimmt seine Maske ab, und zum ersten Mal sehe ich sein Gesicht. Er atmet schwer, doch er lächelt.
„Danke“, sagt er und verbeugt sich vor mir.
Alle drei sind nun viel gesprächiger. Ryoheis Freund, der Schnellere, spricht etwas Englisch. Ich frage ihn, warum er jeden Tag so früh aufsteht, um zu trainieren.
„Es ist mein Hobby“, sagt er.
Als wir uns auf unsere Fahrräder schwingen und nach Hause fahren, ist es noch nicht einmal halb sieben, doch das Training für den Tag ist erledigt. Zumindest bis zum nächsten Morgen, wenn ihr Hobby sie wieder früh aus dem Bett holen wird.
Auf dem Weg nach Hause unterhalten sich die drei, dabei fahren sie langsam, ihre Ellenbogen auf die Lenkstangen gestützt. Sie haben noch genügend Zeit, also kein Grund zur Eile. Bei jeder Ampel stoppen sie und warten geduldig auf Grün, selbst dann, wenn weit und breit kein Fahrzeug zu sehen oder hören ist.
Diese Bereitschaft, sich an die Regeln zu halten, ist etwas, was ich in Japan oft bemerke. Selbst bei Teenagern scheint sich rebellisches Verhalten auf Kleidung und Frisuren zu beschränken.
Als ich eines schönen Tages in den örtlichen Zug einsteige, sitzen drei Teenager am Boden des Wagens. Sie tragen zerrissene Jeans und unterhalten sich lautstark miteinander. Das war wahrscheinlich das asozialste Verhalten, auf das ich während meiner Zeit in Japan stieß. Nicht, dass sie andere Fahrgäste belästigen, doch nach Monaten in Zügen, in denen es mucksmäuschenstill war, ist es schon ein kleiner Schock, drei Burschen auf dem Boden sitzen zu sehen, die sich laut miteinander unterhalten.
Als der Zug mit der Zeit immer voller wird, bemerke ich, wie die drei aufstehen, um Platz für die anderen Fahrgäste zu machen. Sie sprechen nun auch wesentlich leiser und benehmen sich ganz brav. Einer von ihnen setzt sich sogar eine Maske auf. Wahrscheinlich hat er eine leichte Verkühlung und will niemanden anstecken.
Natürlich gibt es in Japan auch Kriminalität, obwohl diese niedriger ist als in den meisten anderen Industrieländern, und auch die Teenager rebellieren, doch ich kann diese Bereitschaft zur Konformität deutlich spüren, dieses Sich-an-die-Regeln-Halten und Sich-in-die-Gesellschaft-Einfügen.
Es gibt einen fundamentalen Unterschied in der Wahrnehmung des Platzes, den eine Person in der Gesellschaft einnimmt. Ein Sprichwort, das ich in Japan immer wieder höre, ist: Der Nagel, der hervorsteht, wird flachgehämmert. Für westliche Ohren mag sich das furchtbar anhören. Es bedeutet: Unterscheide dich nicht von den anderen, versuche nicht, etwas anderes zu tun, sondern behalte den Kopf unten und arbeite mit den anderen zusammen.
In ihrem Buch Understanding Japanese Society schreibt Joy Hendry darüber, wie dieses Konzept gesellschaftlicher Harmonie und Kooperation japanischen Kindern schon im frühesten