Elefanten-Freddy. Jana Denole
durchgehend beschriebenen Blättern. Das Manuskript kommt mir seltsam vor. Als wäre es im Krieg oder gleich danach geschrieben, wo es an Papier, Tinte und Farbstiften mangelte. Mit der Zeit wurde mir erlaubt, einen Kugelschreiber und sogar mehrere zu haben. Auch meine Bitte, Papier in einem Schreibwarengeschäft zu bestellen sowie die nötigen Bücher zum Lesen zu beschaffen, wurde erfüllt. Aber wissen Sie, was ich bemerkt habe? Als ich alles Notwendige für die Arbeit an meinem Roman erhielt, verging mir die Lust am Schreiben. Immerhin zwingen der Mangel an Details, der Stress und die Verzweiflung einen zur Bewegung. Ein gewisser Eifer kommt gerade unter Bedingungen auf, die einem fremd sind. Für eine Idee ist man mitunter bereit, irrsinnige Dinge zu tun. Einschränkung und Einsamkeit führen zum Erfolg!
Silvester 2017 feierte ich in der Zelle, und ich muss zugeben, ich war völlig deprimiert. Wissen Sie, wie enttäuschend und ärgerlich es war, das Knallen des Feuerwerks vor dem Fenster zu hören? Mir ein Geschenk unter dem künstlichen Weihnachtsbaum vorzustellen? Da die Schweizer gegen sinnlose Abholzung sind, wird gewöhnlich ein unechter Weihnachtsbaum aufgestellt. Es fällt mir schwer, die Frage zu beantworten, was mir mein Sohn und mein geliebter Ehemann geschenkt hätten.
Mir kamen fiese Gedanken in den Sinn, bei denen ich mich am liebsten erhängt hätte. Ich stellte mir vor, wie mein Kind sein Geschenk wieder unter den Weihnachtsbaum legte und den schweizerischen Weihnachtsmann bat, dass dieser seine Mutter zurück nach Hause bringen sollte. In diesem Augenblick wurde mir klar, wie glücklich ich in der Freiheit war, auch dann, wenn ich mich mitunter für das unglücklichste Wesen auf der ganzen Welt hielt.
Die Tür öffnete sich und eine kleine, brünette junge Frau kam herein. Sie hatte eine atemberaubend schöne Figur in Form einer Vase und schrecklich aussehende, verlängerte rote Fingernägel. Ihr glänzendes Haar wehte über einem im Vergleich zum Haar matt erscheinenden fliederfarbenen Kleid. Sie war eine wahre Schönheit. Mädchen, die so aussehen, können in Russland mit Millionären oder mit einfachen Straßenjungs zusammen sein. Viele rohe Burschen haben bildhübsche Freundinnen, die eine wahre Augenweide sind.
Ich saß am Tisch und trank Tee. Mit einem Plastikmesser schnitt ich mir ein Stück Schweizer Käse ab. Das Mädchen kam schweigend zum Tisch, als ob sie mich ignorieren wollte. Sie setzte sich, zündete eine Zigarette an und pustete den Rauch in meinen Käse. Wie mich das ankotzte! Ich rauchte ja fast nie in der Zelle, lüftete oft, meditierte und machte Yoga auf dem Fußboden. Und da kommt irgendeine Nutte, wenn auch eine sehr schöne, und pustet mir stinkigen Rauch direkt ins Gesicht! Das war ein Skandal!
„Dreh dich bitte um!“
„Was?“
„Ich sagte, dass das Fenster hinter dir ist. Paff bitte in diese Richtung!“
„Okay, Entschuldigung.“
Mir wurde ein bisschen mulmig. Ich hatte doch gerade einen möglichen Skandal angedeutet, sie aber antwortete mir mit einer Entschuldigung. „Möchtest du ein Stück Käse?“, fragte ich versöhlich.
„Nein, danke.“
„Das ist merkwürdig“, dachte ich. Sie hatte eine Woche in der Einzelzelle verbracht und keinen Hunger. Aber dort wird man doch nicht mit leckerem Essen verwöhnt. In der Einzelzelle gab es nichts, nur ein gemauertes Bett mit einer dünnen Decke. Das Fenster ist ganz oben, wenn man hinausschauen will, muss man sich auf einen steinernen, an die Wand zementierten Tisch stellen. Und es gab noch nicht einmal etwas zu sehen. Es war einfach ein Loch. Ein Verlies. Dort war in mir der wilde Wunsch, zu schreiben, entstanden. Ausgerechnet dort, wo es weder Papier noch Kugelschreiber gab. Darum musste ich einen Kugelschreiber klauen und von den Aufsehern die dringend gebrauchten weißen Blätter erbetteln. Ich bat jeden abgelösten und antretenden Aufseher um Papier. Mein Manuskript versteckte ich unter der dünnen Matratze des steinernen Bettes. „Ich heiße Jana.“
„Mein Name ist Roxi.“
„Wofür sitzt du ein, Roxi?“
„Für Liebe.“
„Das lohnt sich, ich glaube dir.“
„Ihr Russen verspottet uns eben gern, nicht wahr?“
„Du hast gut reden! Euch Erben von Dracula habe ich in meinem ersten Krimi ausgiebig beschrieben! Ihr hasst Russinnen.“
„Genau wie ihr die Rumäninnen!“
„Gut, lass uns Freundinnen sein, oder? Ehrlich gesagt, vor dem Knast kannte ich keine einzige Rumänin.“
„Sitzt du schon lange?“
„Nein. Ich bin zu Silvester gekommen, ich wollte in der Schweiz feiern. Von Deutschland hatte ich die Nase voll.“
„Soll das ein Witz sein?“
„Ja.“
„Warst du hier an Silvester?“
„Ja, und zwar allein. Anscheinend hatte die Polizei niemanden festgenommen, der mir am Silvester Gesellschaft leisten könnte. Der Knast war menschenleer.“
„Und wie war es so in Deutschland? Ich habe dort gearbeitet, aber nicht im Knast gesessen. So weit bin ich nicht gekommen.“
„Dort in den Gefängnissen ist es lustiger als hier. Wenigstens kann man dort Leute treffen, die für etwas Ernsthaftes sitzen. Zum Beispiel in Koblenz habe ich ein Mädchen namens Barbara kennengelernt. Sie hat zwei Jahre und neun Monate für schweren Betrug aufgebrummt bekommen. Sie hat Geldwäsche über verschiedene Banken betrieben. Drei Millionen Euro verdient, ein Haus auf Mallorca gekauft und Golf gespielt. Im Prinzip muss sie in einem Jahr vorzeitig entlassen werden. Sie hat einen prima Anwalt. Weißt du, wie ihr Gehirn arbeitet? Zeig ihr beim Poker zwanzig, dreißig Karten. Zwei Sekunden reichen ihr, dann hat sie alle deine Punkte gezählt. Ich habe sie ein paarmal getestet, die Karten nachgezählt und alles hat gestimmt. Kannst du dir das vorstellen?“
„Für das Geld, das sie eingerafft hat, würde ich auch gerne ein Jahr absitzen. Hahaha!“
„Und es waren noch mehre von ihrer Sorte dort im Knast. Wir haben Telefonnummern ausgetauscht. Ich würde sie gern später mal in Mallorca besuchen, um mir anzuschauen, für was sie gesessen hat. Aber hier in der Schweiz sitzen nur Psychos, Nutten, kleine Diebe und Junkies. Es gibt keine Menschen, die ordentliche, bemerkenswerte Verbrechen begangen haben.“
In diesem Moment kam ein Aufseher in die Zelle und winkte mir, dass ich zur Arbeit gehen sollte. Roxi sah mich misstrauisch an und ihre Schlangenaugen funkelten, sodass mir mulmig wurde. In der ersten Woche nähten wir Bauarbeiterhandschuhe. Während der Arbeit lernte ich viele Taschendiebinnen, Gaunerinnen und natürlich Prostituierte kennen. Viel Neues und Lehrreiches erfuhr ich von den Mädels. Zum Beispiel, dass die Zigeunerinnen ständig stehlen und im Knast sitzen. Wenn sie schwanger sind, stehlen sie lieber in Italien, denn das italienische Gesetz verbietet es, schwangere Frauen ins Gefängnis zu stecken. Eine von ihnen war deshalb interessant, weil sie eine echte Professionelle und gleichzeitig drogenabhängig war. Ihre Droge war das Stehlen. Ihr Mann, ein ehrlicher Bürger, der ihre drei gemeinsamen Kinder erzog, schrieb ihr Briefe ins Zuchthaus, in denen er die Ehefrau anflehte, nie mehr von zu Hause wegzulaufen und nicht mehr zu stehlen. Aber Gina sagte, es sei stärker als sie selbst, und nicht einmal ihre eigenen Kinder könnten ihr Verlangen nach Diebstahl nachvollziehen. Wenn sie nicht stahl, wurde sie krank, und zwar schwer und ernsthaft. Sie bekam Migräne, Entzugserscheinungen, verlor alle Kraft und war heftig missgestimmt. In einem solchen Augenblick flippte sie aus, lief von zu Hause weg und flog quer durch Europa. Was ich in ihren Unterlagen von der Staatsanwaltschaft zu lesen bekam, erschütterte mich. Innerhalb von zwei Wochen beging sie 36 Diebstähle an Geldautomaten. Sie hob Geld von Bank- und Kreditkarten ab und hatte unzählige Louis-Vuitton-Taschen. In einer Stunde Arbeit an einem Flughafen konnte sie Waren für 20.000 Dollar klauen. Seit ihrer Kindheit schob sie immer wieder Knast. Begonnen hatte sie mit einer Jugendstrafe. Ihr Mann sagte, dass er sie liebte und auf sie warten würde. Dabei war der Kerl sieben Jahre jünger als die Zigeunerin selbst.
Ich hörte zu und speicherte alles in meinem Kopf; so verging die Arbeitszeit schneller.
Als ich in die Zelle zurückkam, sah ich, dass Roxi auf meinem Bett saß