Das Taschenbuch. Günther Fetzer

Das Taschenbuch - Günther Fetzer


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Buchhandel, der auf dem „Markt“ das „Kulturgut“ Buch zur „Ware“ machte, hatte schon Immanuel Kant in seinem zweiten Brief An Herrn Friedrich Nicolai, den Verleger im Jahr 1798 bissig charakterisiert. Er spricht dort von der „Buchmacherei“, einer „Industrie“, die „fabrikmäßig“ betrieben werde (siehe Wittmann 1982a: 361ff. und Fallbacher 1992: 8).

      

Nach wie vor unübertroffen in der Darstellung der vielfältigen Faktoren der Entwicklung des literarischen Markts ist Kiesel/München 1977. Zusammenfassend Faulstich 2002: 177–224 und Bödeker 2005.

      Zu Beginn des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich die Entwicklung des literarischen Markts deutlich, sodass man seit der Mitte des Jahrhunderts von einer Unterhaltungsindustrie sprechen kann. Zugleich ist festzuhalten, dass bereits in dieser Phase „die gesamtgesellschaftliche, die kulturelle, die literarische Bedeutung des Mediums Buch […] im Verhältnis zu allen anderen Medien der Epoche, speziell den neu entstehenden elektronischen Medien“ zurückging, obwohl „die traditionellen Strukturen des etablierten Systems Buch weiter institutionalisiert“ wurden (Faulstich 2004: 195). Außerdem wurden die Teilbereiche zunehmend kommerzialisiert.

      

In der Regel wird für diesen Zeitraum der Begriff der (literarischen) „Unterhaltungsindustrie“ verwendet (zum Beispiel Jäger 1988: 163). Kosch/Nagl machen eine interessante Unterscheidung und sprechen für den Lieferungsroman der Zeit von einer „Unterhaltungsmanufaktur“ (1993: 67). Zum Begriff der „Unterhaltung“ siehe resümierend Faulstich 2006 sowie Hügel 2003 und Hügel 2007. Unterhaltung ist keine anthropologische Konstante, sondern historisch zu verorten: „Unterhaltung setzt die Existenz von Massenmedien voraus, die dominant der Unterhaltung dienen. Solche Medien gibt es in Deutschland erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Familienzeitschriften.“ (Hügel 2007: 41, siehe auch 68)

      „Kulturindustrie“ (Horkheimer/Adorno 1990 sowie Adorno 1967; zur Kritik zusammenfassend Glasenapp 2006 und Niederauer/Schweppenhäuser 2018) und „Bewusstseinsindustrie“ (Enzensberger 1971) bezeichnen Aggregatzustände des kulturellen und damit literarischen Markts im 20. Jahrhundert.

      Zentrale Entwicklungen sind

       die Ausweitung des Lesepublikums,

       die Ausdifferenzierung und Ausweitung der Printmedien,

       die Ausdifferenzierung und Ausweitung der Vertriebswege

       sowie die technische Entwicklung der Buchproduktion.

      

Zu diesen Entwicklungen im 19. Jahrhundert siehe Wittmann 1982b, Estermann/Jäger 2001 und Faulstich 2004.

      All das vollzieht sich unter Rahmenbedingungen, die hier nur schlagwortartig zusammengefasst werden können:

       die politische Entwicklung von der nachnapoleonischen Zeit und der 1848er Revolution bis zur Reichsgründung und zum Kaiserreich,

       die ökonomische Entwicklung mit den Stichworten industrielle Revolution und Entwicklung des Hochkapitalismus,

       die soziale Entwicklung mit der Ablösung der ständischen Gesellschaftsordnung durch eine nach Schichten/Klassen strukturierte Gesellschaft,

       die juristische Entwicklung mit den in unserem Zusammenhang wichtigen Eckpunkten wie Gewerbefreiheit und Neuregelungen des Urheberrechts.

      Ausweitung des Lesepublikums

      Die Ausweitung des Lesepublikums ist durch die Stichworte Bevölkerungswachstum, Alphabetisierung, Urbanisierung sowie Industrialisierung und die damit verbundene wachsende Freizeit der Menschen charakterisiert. Die Bevölkerung wuchs auf dem Gebiet des Deutschen Reichs zwischen 1848 und 1880 von 33 Millionen auf 45 Millionen, erhöhte sich also um rund ein Drittel, und wuchs bis 1900 um weitere elf Millionen auf 56 Millionen. Allein durch dieses explosionsartige Wachstum insbesondere seit Mitte der 1870er Jahre sowie die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung von 37 Jahren im Jahr der Reichsgründung auf 47 Jahre dreißig Jahre später stieg die Zahl der potentiellen Leser und Käufer deutlich, gleichgültig, von welchem Alphabetisierungsgrad man ausgeht. Im Allgemeinen dient als Unterscheidung zwischen Alphabeten und Analphabeten die Fähigkeit, den eigenen Namen schreiben und leidlich lesen zu können (Engelsing 1973: 96; insgesamt 96–100), was natürlich noch nicht bedeutet, dass die des Lesens Fähigen auch wirklich Lesestoffe konsumierten. Eine Zusammenschau der regional und national disparaten Daten spricht von einem Alphabetisierungsgrad von 75 Prozent im Jahr 1870 und von 90 Prozent um 1900 (Schenda 1970: 444). Zu bedenken ist auch das Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land. Die Zahlen sind empirisch kaum fundiert und sind daher nur in Teilstudien zu verifizieren, aber auch nicht zu widerlegen (Wittmann 1999: 189f.). Durch Urbanisierung (mit zunehmender Bildungsintensität) und Industrialisierung (mit zunehmender Regulierung arbeitsfreier Zeiten) und Volksbildungsbestrebungen wie Arbeiterbibliotheken und Volksbüchereien entstehen Spielräume für kulturelle Aktivitäten, darunter auch Lesen. Jedoch lassen für die Unterschichten die „Existenzbedingungen und soziokulturellen Voraussetzungen […] vermuten, dass Lesen bis weit in die Gründerjahre hinein eine Ausnahme darstellte“ (Wittmann 1982b: 200). Insgesamt gilt, dass die Ablösung des ständischen Gesellschaftsmodells durch ein Stratifikationsmodell von ökonomisch fundierter Oberschicht, neuen Mittelschichten und diversen sozialen Unterschichten enge Relationen zwischen bestimmten Einzelmedien und bestimmten sozialen Gruppierungen nach sich zog (zur Stratifikation der Medien im 19. Jahrhundert siehe Faulstich 2004: 258). Von einer „Homogenisierung des literarischen Geschmacks, die kulturelle Assimilation aller Schichten“ (Wittmann 1999: 294) wird man nicht sprechen können.

      Ausdifferenzierung und Ausweitung der Printmedien

      Das 19. Jahrhundert ist durch ein enormes Anschwellen der Lesestoffproduktion charakterisiert. Dazu tragen rein mengenmäßig Zeitschriften jeglicher Art bei. So erschienen allein im Jahrzehnt zwischen 1840 und 1850 rund 1.300 neue Zeitschriften. War im 18. Jahrhundert das neue Medium Zeitschrift mit der zentralen Rolle der Moralischen Wochenschriften „Schlüsselmedium der bürgerlichen Gesellschaft“ (Faulstich 2002, 225), so wurde die Zeitschrift erst durch ihre zunehmende Unterhaltungsfunktion im 19. Jahrhundert zum Massenmedium (Faulstich 2002: 225–251). Dazu trug vor allem ihre Weiterentwicklung zu Familienzeitschriften wie die Gartenlaube bei, die – 1853 gegründet – im Jahr 1875 eine Auflage von 382.000 Exemplaren erreichte. Wie wir noch sehen werden, lassen sich charakteristische Merkmale der Zeitschrift wie Themenzentrierung, Periodizität, Interessenspezifizierung und auch Visualisierung (Faulstich 2002: 225f.) auf das im Entstehen begriffene Taschenbuch übertragen.

      Fassen wir Printmedien im engeren Sinn als Herstellung und Verbreitung von herkömmlichen Büchern auf, so ist die Entwicklung weniger spektakulär. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen 4.081 Titel (1805) auf den Markt. Die durch die napoleonischen Kriege ausgelöste Depression erzwang einen Rückgang auf 2.233 im Jahr 1813. Danach steigerte sich die Produktion auf 14.039 Titel im Rekordjahr 1843 – ein Stand, der erst im Kaiserreich wieder erreicht wurde. Diesem vormärzlichen Hoch folgte ein Niedergang bis auf den Tiefstand von 8.346 Titeln im Jahr 1851. Vor allem nach der Reichsgründung (10.669 Titel im Jahr 1871) stieg die Titelproduktion steil an. 1886 lag sie bei 16.253 Titeln – eine Steigerungsrate von über 50 Prozent in eineinhalb Jahrzehnten. Der Titelboom setzte sich ungebremst fort; im Jahr 1900 wurden 24.729 Titel verlegt, was wiederum eine Erhöhung des Titelausstoßes um rund die Hälfte bedeutete. 1913 wurde mit 35.078 Titeln der Höchststand vor dem Ersten Weltkrieg erreicht. Die „schöne Literatur“ (vor allem Klassiker, Romane und Erzählungen) wuchs noch wesentlich stärker, denn von 1871 bis 1890 stieg der Zahl der Neuerscheinungen um fast 90 Prozent (Zahlen nach Bucher u.a. 1981: 167 und Kastner 2003: 301 und 315; sehr detailliert Rarisch 1976).

      Diese Zahlen zur Titelproduktion von Büchern sind nur eingeschränkt aussagekräftig. Zum einen wird hier nur die Zahl der publizierten Titel erfasst, ohne dass wir in der Regel Kenntnis von den jeweiligen Druckauflagen haben. Zum anderen ist


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