Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten. Кристин Нефф
bewusst auf gestresste Bereiche des Körpers gelenkt wird und die Teilnehmenden ermutigt werden, ihren Körper spontan frei zu bewegen, um den Stress abzubauen.
Während die Liebevolle-Güte-Meditation bei MBSR in der Regel nur am Retreat-Tag praktiziert wird, wurde sie in MSC zu einem Kernelement. (MSC enthält eine zusätzliche Praxis, die den Teilnehmenden hilft, ihre eigenen Sätze der liebevollen Güte und des Selbstmitgefühls zu entdecken.) Andererseits ist der Bodyscan eine Hauptpraxis von MBSR und wird in MSC nur beim Retreat-Tag gelehrt. Diese Unterschiede zwischen MSC und MBSR spiegeln die jeweiligen Schwerpunkte der beiden Programme wider: ein weites Gewahrsein im gegenwärtigen Moment bei MBSR und Herzenswärme und Wohlwollen gegenüber sich selbst bei MSC. MBSR und MSC vermitteln Qualitäten, die einander ergänzen.
Nach unserer Erfahrung können erfahrene MBSR- und MBCT-Lehrerinnen und Lehrer relativ einfach lernen, MSC zu lehren, wenn sie die Prinzipien und Praktiken von MSC verstehen. Zu den Skills, die sie in der Regel bereits erworben haben, zählen eine stabile persönliche Meditationspraxis, das Wissen um den Unterschied zwischen »Fixierung« auf das Leiden und »Sein mit« dem Leiden, das Wissen um die zentrale Bedeutung der Güte und Freundlichkeit in Lehre und Praxis sowie die Fähigkeit, eine Gruppe so anzuleiten, dass ein offener, urteilsfreier Raum entsteht.
Wir haben festgestellt, dass unsere besten Mitgefühlstrainer und -Trainerinnen oft voller Achtsamkeit sind und unsere besten Achtsamkeitslehrer und Lehrerinnen voller Mitgefühl. Das Selbstmitgefühlstraining bringt allerdings eine neue Perspektive ins Achtsamkeitstraining. Wenn ein Praktizierender Probleme hat, könnte eine Achtsamkeitslehrerin fragen: »Kannst du in dir etwas Raum für diese Erfahrung schaffen?« Oder: »Kannst du diese Erfahrung freundlich im Gewahrsein halten?« Ein Selbstmitgefühlslehrer könnte hinzufügen: »Kannst du dir selbst in diesem Moment etwas Freundlichkeit entgegenbringen?« Oder: »Was würdest du deiner Meinung nach jetzt brauchen?« Achtsamkeit konzentriert sich auf die Erfahrung des Augenblicks, während sich Mitgefühl auf die leidende Person oder das »Selbst« fokussiert.
Achtsamkeitslehrer und -lehrerinnen mögen Fragen oder Bedenken hinsichtlich MSC haben, die die Unterschiede zwischen diesen beiden Ansätzen widerspiegeln. Einige dieser Fragen wollen wir im Folgenden aufgreifen und klären:
Ist es nicht eine subtile Art des Widerstands gegen die Erfahrung des Augenblicks, wenn man Gewahrsein mit liebevoller Güte und Mitgefühl »anwärmt«?
Das ist tatsächlich eine inhärente Gefahr in der Praxis des Selbstmitgefühls. Anfangs versuchen Schülerinnen und Schüler oft, Mitgefühl wie eine Decke über das Leiden zu breiten, um es zum Verschwinden zu bringen, wodurch ein subtiles Element des Strebens und des Widerstands in die Erfahrung des Augenblicks hineinkommt. Im Lauf der Zeit entdecken sie aber die eigentliche Bedeutung von Selbstmitgefühl, nämlich zuzulassen, dass das Herz in der Hitze des Leidens weich wird, indem man Streben und Widerstand aufgibt. Während man beim Selbstmitgefühl bewusst Herzenswärme in die Achtsamkeit hineinbringt, ist das nicht mit mehr Mühe oder Streben verbunden. Achtsamkeit und Selbstmitgefühl sind beides Qualitäten, die es den Praktizierenden ermöglichen, ihren instinktiven Widerstand gegen das Leiden loszulassen.
Wozu brauchen wir überhaupt Mitgefühlstraining? Sind Mitgefühl und Selbstmitgefühl nicht schon im Achtsamkeitstraining enthalten?
Wenn volle Achtsamkeit da ist, ist sie von Güte und Mitgefühl durchdrungen. Es ist jedoch sehr schwierig, vollkommen achtsam zu bleiben, wenn man mit intensiven und belastenden Gefühlen wie beispielsweise Scham konfrontiert ist. Wenn wir Scham empfinden, verengt sich unser Bewusstseinsfeld vor Angst, und unsere Aufmerksamkeit wendet sich angewidert ab. Scham bewirkt auch eine Abspaltung vom Körper und untergräbt das beobachtende Selbst. Dann müssen wir das beobachtende Selbst durch Mitgefühl explizit wiederaufbauen. Wenn wir uns in der Umarmung des Mitgefühls sicherer fühlen, können wir wieder achtsam sein.
Umgehen wir, indem wir uns trösten, wenn wir leiden, nicht wichtige Lebenslektionen wie Vergänglichkeit, Leiden und Selbstlosigkeit?
Es ist wahr, dass Selbstmitgefühl dazu benutzt werden kann, schwierige Erfahrungen mit Zuckerguss zu überziehen, was uns am Lernen hindern kann. Jede Praxis kann missbraucht werden. Deshalb müssen wir uns zuerst achtsam für das Leiden öffnen, bevor wir uns mitfühlend trösten. Mit wie viel Leiden wir uns konfrontieren, bevor wir Mitgefühl hineinbringen, hängt teilweise davon ab, was wir als Praktizierende suchen: Weisheit oder Mitgefühl? Praktizierende, die Weisheit suchen, werden sich vielleicht länger mit dem Leiden beschäftigen wollen, um Einsichten – beispielsweise in die Vergänglichkeit des Leidens - zu gewinnen, während jemand, der Mitgefühl praktiziert, es vielleicht vorzieht, Herzensqualitäten wie Freundlichkeit und Spontaneität zu entwickeln, um sich unmittelbar und spontan der Linderung des Leidens zu widmen.
Selbstmitgefühl aktiviert alte Verletzungen, die aus Beziehungen herrühren. Ist es nicht gefährlich, dies in einem Acht-Wochen-Programm zu tun?
Ein Gefühl der Sicherheit ist die Basis des Selbstmitgefühlstrainings (siehe Kapitel 8). MSC-Schüler und -Schülerinnen werden angehalten, auf ihre emotionale Sicherheit zu achten, und ihnen wird während des gesamten Programms gezeigt, wie sie das tun können. Das kann bedeuten, dass sie an einer Übung nicht teilnehmen, wenn sie sich zu verletzlich fühlen, oder einfach Selbstmitgefühl praktizieren, indem sie eine Tasse Tee trinken oder einen Spaziergang machen. Wir alle öffnen oder verschließen uns den ganzen Tag über für unsere Erfahrungen, und wenn Gruppenmitglieder das Gefühl haben, sich verschließen zu müssen, dann ermutigen wir sie dazu. Wenn wir uns zwingen, uns in Situationen zu öffnen, in denen es besser wäre, sich zu verschließen, kann uns das emotional schaden und ist sicher kein Ausdruck von Selbstmitgefühl. Zu lernen, über einen längeren Zeitraum formelle Meditation zu praktizieren (was manche Teilnehmende emotional überfordern kann), ist daher bei MSC weniger wichtig, als bewusst wahrzunehmen, wenn wir leiden (Achtsamkeit), und mit Freundlichkeit darauf zu antworten (Selbstmitgefühl).
Womit beginnen?
Viele fragen sich, ob sie zuerst Achtsamkeit lernen oder mit Selbstmitgefühlstraining beginnen sollten. Das ist eine wichtige empirische Frage, mit der wir uns in den kommenden Jahren beschäftigen werden. Bisher gibt es einige vorläufige Leitlinien:
Präzise Informationen: Potenzielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer kennen ihre eigenen Bedürfnisse normalerweise sehr gut, und wenn sie präzise Informationen erhalten, können sie in der Regel selbst entscheiden, welches Training für sie am besten ist. Eine Orientierungssitzung kann diesen Prozess erleichtern.
Selbstkritik: Achtsamkeitspraktizierende, die selbstkritisch sind, können es als schwierig empfinden, konsequent Achtsamkeit zu praktizieren, solange sie nicht ihren inneren Kritiker bemühen. Daher könnte es für selbstkritische Menschen von Vorteil sein, zunächst mit der Praxis des Selbstmitgefühls zu beginnen, bevor sie am Achtsamkeitstraining teilnehmen. Umgekehrt haben Menschen, die wenig Selbstkritik üben, vielleicht ein geringeres Bedürfnis nach Selbstmitgefühl und profitieren eher davon, sich eine solide Grundlage in Achtsamkeit zu schaffen, bevor sie Selbstmitgefühl einfließen lassen.
Commitment: Zweifellos ist für jeden Menschen die beste Praxis diejenige, die ihm oder ihr am meisten am Herzen liegt. Nachdem die Schüler und Schülerinnen verschiedene Achtsamkeits- und Selbstmitgefühlsübungen ausprobiert haben, liegt es daher in ihrer Verantwortung, selbst ihr bester Lehrer, ihre beste Lehrerin zu werden. Das bedeutet zu wissen, welche Praktiken für sie am wohltuendsten, wichtigsten und effektivsten sind, und diese regelmäßig zu praktizieren.
Selbstmitgefühl und Mitgefühl für andere
Manch einem ist es unangenehm, dass der Schwerpunkt bei MSC auf Selbstmitgefühl und nicht auf dem Mitgefühl für andere liegt. Es folgen ein paar Fragen, die häufig zu diesem Thema gestellt werden, und unsere Antworten darauf:
Schafft die Fokussierung auf das »Selbst« beim Selbstmitgefühl nicht mehr Leiden, als sie lindert?
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