Der Hund der Baskervilles. Sir Arthur Conan Doyle

Der Hund der Baskervilles - Sir Arthur Conan Doyle


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ich war in Devonshire.«

      »In Gedanken?«

      »Ganz recht. Mein Körper blieb hier in diesem Lehnstuhl und hat, wie ich leider feststellen muss, während meiner Abwesenheit zwei große Kannen Kaffee und eine unglaubliche Menge Tabak konsumiert. Als Sie weg waren, habe ich mir von Stanford’s topographische Karten von diesem Teil des Moores besorgen lassen, und mein Geist schwebte den ganzen Tag darüber. Ich schmeichle mir, mich jetzt dort gut auszukennen.«

      »Es sind wohl großmaßstäbige Karten?«

      »Ja, ein sehr großer Maßstab.« Er rollte ein Blatt auf und breitete es auf seinen Knien aus. »Dies ist die Region, die uns interessiert. Hier in der Mitte, das ist Baskerville Hall.«

      »Mit dem Wald drumherum?«

      »Ja. Die Eibenallee, obwohl sie auf der Karte nicht eingezeichnet ist, dürfte in dieser Richtung verlaufen. Sehen Sie: Rechts davon erstreckt sich das Moor. Diese kleine Ansammlung von Häusern ist das Dörfchen Grimpen, wo unser Freund Dr Mortimer sein Hauptquartier hat. Im Umkreis von fünf Meilen gibt es, wie Sie sehen, nur ein paar verstreute Gehöfte. Dies ist Lafter Hall, das Gutshaus, das Dr Mortimer erwähnt hat. Und hier ist ein Haus eingezeichnet, das wohl der Wohnsitz dieses Naturkundlers ist – Stapleton, wenn ich mich recht erinnere. Hier sind noch zwei Moorbauerngehöfte, High Tor und Foulmire. In einer Entfernung von vierzehn Meilen liegt das große Zuchthaus von Princetown. Zwischen diesen vereinzelten Gehöften und Dörfern erstreckt sich das öde, einsame Moor. Dies also ist der Schauplatz, auf dem sich die Tragödie abgespielt hat und auf dem sie vielleicht noch einmal aufgeführt werden soll.«

      »Es scheint eine recht einsame, schaurige Gegend zu sein.«

      »Ja, sie ist eines schaurigen Verbrechens würdig. Sollte der Teufel tatsächlich das Verlangen haben, sich in menschliche Angelegenheiten einzumischen …«

      »Sie neigen also selbst zu einer übernatürlichen Erklärung?«

      »Des Teufels Werkzeuge können von Fleisch und Blut sein, nicht wahr? Wir stehen zunächst vor zwei Fragen: Erstens, ob überhaupt ein Verbrechen begangen worden ist, und zweitens, wenn ja, worin bestand das Verbrechen, und wie wurde es ausgeführt? Natürlich, wenn Dr Mortimers Mutmaßung stimmt und wir es mit Mächten zu tun haben, die außerhalb der geltenden Naturgesetze agieren, sind wir mit unseren Ermittlungen am Ende. Aber bevor wir auf diese Hypothese zurückgreifen, müssen wir erst alle anderen sorgfältig prüfen. Ich denke, wir können das Fenster jetzt wieder schließen. Es mag ungewöhnlich sein, aber ich finde, eine konzentrierte Atmosphäre fördert das konzentrierte Denken. Ich bin zwar noch nicht so weit gegangen, zum Nachdenken in eine Kiste zu kriechen, aber das wäre die logische Konsequenz. Haben Sie sich den Fall ebenfalls durch den Kopf gehen lassen?«

      »Natürlich, ich habe im Laufe des Tages ständig darüber nachgedacht.«

      »Und was halten Sie davon?«

      »Es ist alles sehr verwirrend.«

      »Der Fall ist sicherlich von recht speziellem Charakter. Er zeichnet sich durch einige Besonderheiten aus. Diese Veränderung der Fußspuren zum Beispiel. Wie erklären Sie sich das?«

      »Mortimer sagte, der Mann sei das letzte Stück der Allee auf Zehenspitzen gegangen.«

      »Er hat nur wiederholt, was irgendein Dummkopf bei der gerichtlichen Untersuchung gesagt hat. Weshalb sollte jemand auf Zehenspitzen durch eine Allee gehen?«

      »Was dann?«

      »Er ist gerannt, Watson – verzweifelt gerannt, in Todesangst gerannt, bis sein Herz versagte und er tot zusammengebrochen ist.«

      »Aber wovor ist er geflohen?«

      »Genau das ist unser Problem. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, dass der Mann bereits außer sich war vor Angst, bevor er die Flucht ergriff.«

      »Woraus schließen Sie das?«

      »Ich gehe davon aus, dass das, was ihn in solchen Schrecken versetzte, über das Moor auf ihn zukam. Wenn dies der Fall war – und alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür –, muss er vor Angst von Sinnen gewesen sein, denn statt zum Haus zu laufen, ist er in der anderen Richtung davongelaufen. Wenn die Aussage des Zigeuners stimmt, rannte er, um Hilfe schreiend, gerade in diejenige Richtung, wo Hilfe am allerwenigsten zu erwarten war. Die andere Frage ist: Auf wen hat er in jener Nacht gewartet, und warum hat er in der Eibenallee gewartet statt in seinem Haus?«

      »Sie meinen, er hat jemanden erwartet?«

      »Der Mann war nicht mehr jung und außerdem kränklich. Seine Abendspaziergänge sind plausibel, aber an jenem Abend war es feuchtkalt und der Boden war nass. Ist es normal, dass er fünf oder zehn Minuten an einer Stelle gestanden hat, wie Dr Mortimer mit mehr praktischem Verstand, als ich ihm zugetraut hätte, aus der abgestreiften Zigarrenasche geschlossen hat?«

      »Aber er machte regelmäßig seinen Abendspaziergang.«

      »Ich halte es für unwahrscheinlich, dass er regelmäßig an der Moorpforte gewartet hat. Im Gegenteil, wir wissen, dass er das Moor mied. An jenem Abend hat er aber dort gestanden und gewartet. Es war der Abend vor seiner Abreise nach London. Die Sache nimmt Gestalt an, Watson. Wir beginnen, Zusammenhänge zu sehen. Darf ich Sie bitten, mir meine Violine zu reichen? Wir wollen alles weitere Nachdenken auf morgen Vormittag verschieben, wenn Dr Mortimer und Sir Henry Baskerville hier sind.«

      4. KAPITEL

      Sir Henry Baskerville

      Unser Frühstückstisch war zeitig abgeräumt worden, und Holmes erwartete, in seinen Hausmantel gekleidet, den verabredeten Besuch. Unsere Gäste kamen pünktlich. Die Uhr hatte gerade zehn geschlagen, als Dr Mortimer zu uns heraufgeführt wurde, gefolgt von dem jungen Baronet. Er war ein mittelgroßer, lebhafter, dunkeläugiger Mann von etwa dreißig Jahren, stämmig gebaut, mit kräftigen schwarzen Augenbrauen und markanten, energischen Gesichtszügen. Er trug einen rostroten Tweedanzug und hatte den wettergegerbten Teint eines Mannes, der sich überwiegend unter freiem Himmel aufhält, aber in seinem festen Blick und der ruhigen Sicherheit seines Auftretens lag ein gewisses Etwas, das den Gentleman verriet.

      »Dies ist Sir Henry Baskerville«, sagte Dr Mortimer.

      »Ja, der bin ich«, sagte dieser, »und was wirklich merkwürdig ist, Mr Sherlock Holmes: Hätte mein Freund hier mir nicht vorgeschlagen, heute bei Ihnen vorzusprechen, dann hätte ich Sie aus eigenem Antrieb aufgesucht. Ich habe gehört, dass Sie gut darin sind, kleine Rätsel zu lösen, und ich bin heute Morgen vor eins gestellt worden, das meinen Verstand übersteigt.«

      »Bitte nehmen Sie Platz, Sir Henry. Verstehe ich recht, dass Ihnen seit Ihrer Ankunft in London etwas Seltsames widerfahren ist?«

      »Nichts von großer Bedeutung, Mr Holmes. Wahrscheinlich nur ein dummer Scherz. Es ist dieser Brief hier – falls man das einen Brief nennen kann. Ich erhielt ihn heute morgen.«

      Er legte einen Umschlag auf den Tisch, und wir beugten uns alle darüber. Es war ein gewöhnlicher grauer Briefumschlag minderer Qualität. Die in ungelenken Buchstaben geschriebene Adresse lautete »Sir Henry Baskerville, Northumberland Hotel«, und der Poststempel »Charing Cross« trug das Datum des Vortages.

      »Wem war bekannt, dass Sie im Northumberland Hotel logieren würden?« fragte Holmes mit einem scharfen Blick auf unseren Besucher.

      »Kein Mensch kann das gewusst haben. Ich habe mich erst dafür entschieden, nachdem ich Dr Mortimer getroffen hatte.«

      »Aber zweifellos wohnte Dr Mortimer bereits dort?«

      »Nein, ich habe bei einem Bekannten übernachtet«, sagte der Arzt. »Es gab keinerlei Hinweis, dass wir dieses Hotel wählen würden.«

      »Hm! Jemand scheint ungemeines Interesse an Ihrem Tun und Lassen zu haben.« Holmes entnahm dem Umschlag einen halben Bogen Schreibpapier, der zweimal zusammengefaltet war, breitete ihn auseinander und legte ihn auf den Tisch. Quer über die Mitte des Blattes waren mehrere gedruckte Wörter zu einem Satz zusammengeklebt:


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