Im Takt des Geldes. Eske Bockelmann

Im Takt des Geldes - Eske Bockelmann


Скачать книгу
notwendig ihr Entstehen. Es ist also keine »Erfindung«, kein Programm, kein Diskurs, was den Rhythmus revolutioniert, sondern das historische Aufkommen dieses Reflexes. Und deshalb muss der Übergang zum Taktrhythmus so lautlos vonstatten gehen, deshalb muss er sich vollziehen, ohne dass jemand von ihm weiß: weil dasjenige selbst unbewusst ist, was da neu aufkommt. Der veränderte Rhythmus verdankt sich keiner Idee, keiner objektiven Entwicklung der Musik, nicht der Leistung eines genialen Musikers, nicht der einer ganzen Gruppe von Meistern, er wird überhaupt nicht Gegenstand einer Reform, weil er nicht bewusster Gegenstand einer Entwicklung ist. Niemand weiß von dem Neuen, da niemand es bewusst zu leisten hat: dank der unwillkürlichen Synthesis. Niemand hat dies Neue zu entwickeln, da es sich von selbst macht: im Reflex. Niemand erkennt es als das Neue, da es sich unwillkürlich vorgibt: als bloße Natur. Deshalb hat da niemand bewusst einzugreifen, niemand etwas zu initiieren, deshalb bedarf es keines neuen Gregor, keines neuen Philippe de Vitry, können sich keine verfeindeten Kompositionsschulen darüber in die Haare geraten, kann keine Kirche Protest einlegen oder einen Prozess dagegen führen.

      Der Bruch, der sich damals historisch vollzieht, reicht tief hinein in die Musik und durchschneidet ihre Geschichte, aber er geht nicht von ihr aus. Er vollzieht sich nicht bloß musikalisch, sondern liegt auf diese Weise sehr viel tiefer. Wenn also eine vergleichsweise geringfügige Veränderung wie die vom ambrosianischen zum gregorianischen Gesang sichtbar Epoche gemacht hat, dann tut es die ungleich radikalere zum Taktrhythmus eben deshalb nicht, weil sie sich so sehr viel tiefer vollzieht. Der Taktrhythmus macht so tiefgreifend Epoche, nicht obwohl es keiner bemerkt, sondern weil das, was den Bruch bewirkt, so tief reicht, dass ihn keiner bemerken kann.

      Die taktrhythmische Synthesis ist das Neue und bewirkt das Neue. Der Taktrhythmus setzt sich so unwillkürlich durch, wie die Synthesis wirkt. Und so unwillkürlich sie als solche wirksam ist, so unwillkürlich muss sie auch beginnen, wirksam zu werden. Genausowenig, wie wir selbst üblicherweise etwas vom Wirken dieser Synthesis in uns wissen und ebensowenig davon, wann sie in uns zu wirken beginnt, so wenig wissen auch diejenigen davon, in denen es mit dieser Synthesis historisch überhaupt erst seinen Anfang nimmt. Das bedeutet aber, dass der Taktrhythmus von Anfang an nicht als das Neue empfunden wird, das er ist, sondern als ewige Natur: so, wie er inzwischen uns erscheint – hinauf bis in die potenzierte, für den Taktrhythmus so charakteristische Gruppenbildung:

       Schon 1752 erklärte Joseph Riepel, ausgehend vom Menuett, eine Taktordnung nach Potenzen der Zahl 2 als die »natürliche«: »Denn 4, 8, 16 und wohl auch 32 Täcte sind diejenigen, welche unserer Natur dergestalt eingepflanzet, dass es uns schwer scheinet, eine andere Ordnung (mit Vergnügen) anzuhören«. 50

      So wird Geschichte zu Natur.

      Und das nicht erst anderthalb Jahrhunderte nach Aufkommen des Taktreflexes, sondern vom ersten Augenblick an: schon bei demjenigen, der den Taktrhythmus als allererster beschreibt. Es ist kein Geringerer als René Descartes.

      Als junger Mann, im Jahre 1618, verfasst er einen kleinen Traktat, sein Musicae Compendium, wo er in einem kurz gefassten Kapitel »De Numero vel Tempore in Sonis observando« die historisch erste Beschreibung des Taktrhythmus gibt.51 Sämtliche vergleichbaren Zeugnisse, die früher liegen, alle, die sich vor dem Compendium mit Rhythmus befasst haben, beschreiben ausnahmslos einen anderen, proportionalen, material gebundenen Rhythmus. Keine Schrift vorher kennt den neuzeitlichen Takt, ja mehr noch, selbst spätere Schriften, musikalische Traktate, die erst Jahrzehnte nach Descartes’ Compendium entstehen – es wird postum erst 1650 gedruckt –, behandeln Rhythmus noch immer in den Begriffen und nach den Verhältnissen von Mensur und Proportion, ohne ihn bereits nach der Taktlogik zu fassen.52

      Das Compendium musicae entsteht also inmitten der Zeit des Übergangs zur neuzeitlich taktrhythmischen Rhythmuswahrnehmung. Ein kostbares Dokument: Es gewährt Einblick in das rhythmische Innenleben eben jener Zeit, zu der sich dieser Umschlag vollzieht, es dokumentiert, wie ein Zeitgenosse dieser Vorgänge Rhythmus empfindet. Und dafür ist nicht nur aufschlussreich, worüber dieser Zeitgenosse schreibt, sondern ebenso, wovon er schweigt.

      Denn Descartes weiß nichts von einer Neuerung, weiß von keinem Übergang, weiß von keinem älteren Stand des Rhythmus: Er weiß nur noch vom Taktrhythmus. Eben erst, in eben diesen Jahren ist der Mensuralrhythmus dabei, abgelöst zu werden, noch ist er allenthalben präsent, und doch schreibt Descartes nichts von ihm, sondern schreibt, als gäbe es gar nichts mehr davon: Er kennt ihn nicht mehr. Die rhythmische Revolution, die sich zu seinen Lebzeiten vollzieht, für Descartes ist sie bereits vollzogen, vollendet und vergangen, und zwar so unvermerkt wie für jeden anderen. Descartes schreibt vom Rhythmus ohne jeden Hinweis, dass da etwas einzuführen wäre oder neu eingeführt worden sei, der Taktrhythmus ist für Descartes schon so bruchlos da, als hätte es immer nur diese Art Rhythmus gegeben. Schon Descartes schreibt von Rhythmus, wie später ein Gottfried Hermann, als von Rhythmus überhaupt; und doch ist das, was er so beschreibt, historisch zum ersten Mal Taktrhythmus.

      Niemand vorher hat ihn beschrieben, auf niemanden kann sich die Darstellung berufen, niemandem folgt Descartes darin als sich selbst; er beschreibt also, was unmittelbar für ihn Rhythmus ist. Und daran ist bemerkenswert, nicht nur dass er den Taktrhythmus als erster, sondern dass er ihn sogleich vollständig beschreibt, in allen seinen Bestimmungen – noch bevor der Taktrhythmus in dieser Weise musikalisch vollständig durchgesetzt ist.

      Descartes beginnt sein Compendium mit einer Handvoll praenotata, Axiomen über das Wesen der menschlichen Wahrnehmung. Aus ihnen, aus nicht mehr als dreien davon,53 leitet er dann kurzerhand das Wesen des Rhythmus ab, ohne einen Gedanken, dass Rhythmus jemals etwas Anderes sein könne und etwas Anderes war. Aber zum erstenmal – das ist bemerkenswert – geht eine Darstellung des Rhythmus nicht mehr vom Gegenstand der Wahrnehmung aus, einem für rhythmisch erachteten Ding oder Klang, sondern von der Wahrnehmung selbst. Ein bedeutend neues Vorgehen, so neu, wie es die neue, veränderte Wahrnehmung nun offenbar verlangt. Nach Descartes’ Axiomen bestimmt unsere Wahrnehmung aktiv über die Kriterien, nach denen sie etwas leicht und, wie später auch Riepel sagen wird, mit Vergnügen auffasst. Und zwar fasse sie ein Objekt umso leichter auf, erstens, je geringer der Unterschied seiner Teile sei; das heiße zweitens, wenn die Teile des Objekts in einem möglichst großen, und schließlich drittens, wenn sie in einem ganzzahligen Verhältnis zueinander stehen. Dies Verhältnis nennt Descartes noch immer selbstverständlich proportio, und wenn er nicht anders fortführe, könnte man seine Prinzipien noch immer auch mit dem proportionalen, mensuralen Rhythmus für verträglich halten. Descartes jedoch deutet sie so, dass sie ihm die taktrhythmischen Bestimmungen liefern. Diese ergeben sich also nicht stringent aus den praenotata, und trotzdem legt Descartes sie in einer Klarheit und Folgerichtigkeit dar, die des großen Denkers würdig ist.

       Tempus in Sonis debet constare aequalibus partibus –

      »Die Zeit muss bei den Tönen aus gleichen Teilen bestehen –«, so der Eingangssatz des Rhythmuskapitels und so auch die erste Bestimmung des Taktrhythmus: gleiche Zeiteinheiten als Grundlage.

       vel partibus quae sint in proportione dupla vel tripla, nec ulterius fit progressio

      »oder aus Teilen, die im doppelten oder dreifachen Verhältnis stehen, und darüber geht es nicht hinaus«. Das ist die Festlegung auf Zweier- und Dreier-Gruppe, 1:2 und 1:3, Einheiten aus zwei oder maximal drei gleichen Elementen; »und darüber geht es nicht hinaus«: Sie sind die einzigen elementaren Gruppen – des Taktrhythmus. Noch ließe sich die Zweier- und Dreier-Teilung an dieser Stelle mensural deuten, als imperfekte und perfekte Teilung, aber nicht mehr, wenn Descartes fortfährt:

       Sed dices, possunt 4or notas contra unam ponere vel 8

      »Aber du wirst sagen, man kann auch vier oder acht Noten gegen eine setzen.«


Скачать книгу