Im Takt des Geldes. Eske Bockelmann

Im Takt des Geldes - Eske Bockelmann


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in einem Gesetz bestehen. Durch ein Gesetz aber wird einzig und allein der Taktrhythmus bestimmt, kein anderer. Also braucht Hermann, sobald er nur den Begriff des Gesetzes in Händen hält, die Sache lediglich fertig durchzubuchstabieren, kommt dann vom Gesetz folgerichtig und zielgenau auf die Takte und damit, nach der scheinbar unverfänglichen Voraussetzung Nr. 1, zu dem strahlend falschen Ergebnis: Rhythmus überhaupt ginge, qua Gesetz, nach Takten.

      So machtvoll ist der Begriff des Gesetzes. So genau nämlich lässt sich allein unter der Voraussetzung, dass Rhythmus durch ein Gesetz geregelt sei, schließen und feststellen, dass er dann notwendig Taktrhythmus sein müsse. Dieser Beweisgang ließe sich nunmehr sehr fruchtbar zu einem ganzen kleinen Kurs in Logik entfalten, doch werden wir zu diesem Thema ohnehin zurückkehren müssen, und deshalb deute ich die Beweisschritte nur in aller Kürze an:35 Falls Rhythmus nach einem Gesetz verläuft, muss er – erstens – auf gleichen, leeren Zeiteinheiten beruhen; denn ein Gesetz bedingt Elemente, auf die es zugreift, die als solche keine Unterschiede aufweisen dürfen, also zum einen einheitlich und zum anderen inhaltlich unbestimmt sein müssen. Zweitens müssen diese Zeiteinheiten durch Hervorhebung von jeweils einer gegenüber den benachbarten zu größeren Einheiten geschlossen werden; denn nur so werden gleiche Zeiteinheiten als solche, nicht erst durch ihren zusätzlichen Inhalt, durch das Gesetz bestimmt, nämlich unterschieden; anders gäbe es überhaupt keine Einwirkung des Gesetzes. Und schon hat man die Grundbestimmungen des Taktrhythmus beisammen.

      Nun aber ein wenig weiter. Hermann macht sich anlässlich des rhythmischen Gesetzes auch Gedanken darüber, wie es dazu kommt, woher es stammt. Und er findet: »lex illa, quod attinet ad rationem, qua constituit atque ordinat tempora vel spatia, innata nobis sit necesse est, quam a priori definitam philosophi vocant« – jenes Gesetz muss darin, wie es Zeiteinheiten oder Abstände festlegt und ordnet, uns notwendig angeboren sein, philosophisch gesprochen a priori.

      Übertragen wir diesen Schluss einmal vorsichtig darauf, was wir inzwischen vom Rhythmus wissen: Der taktrhythmische Reflex gibt diesem Rhythmus tatsächlich ein Verlaufsgesetz vor und er wirkt, als dieses Gesetz, zweifellos a priori im Subjekt. Denn a priori heißt im erkenntnistheoretischen Sinn: von vornherein, vor aller Erfahrung gegeben, aller Wahrnehmung und allem Denken vorgeordnet – etwas, was auf den Taktreflex zweifellos zutrifft. Wir entnehmen ihn nicht dem Wahrgenommenen, sondern er gibt sich, wo er denn wirkt, unserer Wahrnehmung jeweils wie schon immer vor, wie angeboren. Noch bevor wir das tok tok unserer Absätze wahrnehmen, ist da der Reflex, der es uns ins betont/unbetont eines tik-tak verwandeln wird. Er liegt, wo er in den Subjekten wirkt, apriorisch in ihnen; und muss sie so dazu verleiten, Taktrhythmus insgesamt zum rhythmischen Apriori zu erheben: zur Bestimmung von Rhythmus überhaupt.

      Und doch ist er eben dies nicht, gibt es nicht diesen »Rhythmus überhaupt«, der zu allen Zeiten und in universum der grundlegend selbe gewesen wäre, gibt es ältere Rhythmiken, die jenes Gesetz nicht kannten und also nicht Taktrhythmus waren. Folglich hat es auch dieses Gesetz nicht immer gegeben. Und folglich – und jetzt wird es langsam gefährlich –, gab es auch nicht immer schon diesen Reflex: Er ist den Menschen nicht angeboren – dieses Apriori selbst ist geschichtlich entstanden.

      Wie kann das sein? Wie um Himmels willen ließe sich so etwas vorstellen? Wie will irgendjemand feststellen, welche Reflexe die Menschen einmal hatten und welche nicht?

      Es lässt sich feststellen. Es lässt sich sogar vorführen, wie der Taktreflex in den Menschen jener Zeit beginnt, wirksam zu werden, ein historisch erstes Mal – nachdem es ihn bis dato ganz einfach nicht gegeben hatte. Doch bevor wir dorthin gelangen, müssen wir uns erst einmal vergewissern, dass es ihn wirklich zu Zeiten nicht gab und wie lange seine Absenz währte.

      Um nur insgesamt zu belegen, dass der taktrhythmische Reflex den Menschen einmal unbekannt war, würde der Blick auf die griechische Antike genügen, aber ich will sie nicht noch einmal bemühen. Zu weit klafft der historische Abstand zwischen jener fernen Zeit und dieser neuen, in der es mit »unserem« Rhythmus beginnt, und zu mächtig ist jenes Apriori darin, uns den Taktrhythmus stets als die naturgegebene Form von Rhythmus vorzugaukeln. Ich werde den Abstand daher überbrücken, indem ich zeige, wie lange noch in jüngeren Zeiten, in der europäischen Musik des Mittelalters und der Renaissance all jene bekannten Bestimmungen, welche den Taktrhythmus und für uns also Rhythmus überhaupt ausmachen, fehlen; und dass stattdessen auch dort – eben deshalb – die materiale Auffassung der Zeitgrößen galt.

      Aber ich will den ungeduldigen Leser warnen. Von dem, was folgt, wird er keinen zusätzlichen Aufschluss über den Takt und seinen Reflex erhalten, nichts, was er für den Fortgang dieses Buches unabdingbar benötigte. Er wird lediglich von rhythmischen Verhältnissen erfahren, die den unseren vollständig fremd sind und die uns vorzustellen deshalb sehr schwer fällt. Am einfachsten wäre es, der Leser würde an dieser Stelle zum Hörer, nähme eine Aufnahme etwa von Werken des großen Renaissance-Komponisten Josquin Desprez zur Hand, aber eine verlässliche Aufnahme wie die des Hilliard-Ensembles, und würde wahrnehmen, wie in dieser Musik zwar offensichtlich rhythmische Gliederung, aber eben keine taktrhythmische komponiert ist. Leider taugen nicht alle Aufnahmen älterer Musik zu solcher Anschauung, man darf sich vielmehr nicht wundern, wenn die meisten – ähnlich, wie sich die klassische Philologie ihren Versen gegenüber verhält – auch die alte Musik gnadenlos auf Takte bringen. Immerhin liegen seit einiger Zeit genug Einspielungen vor, die den historischen Abstand zu den vergangenen rhythmischen Verhältnissen kennen und zu wahren wissen – was mir bei weitem wichtiger scheint, als die alten Instrumente zu benutzen, sie aber nach dem neuzeitlichen Takt zu traktieren. Wer von älterer Rhythmik nun aber gar nichts hören will, mag den folgenden Abschnitt ohne Not überspringen.

      Erlaubt man es sich, die verschiedenen rhythmischen Traditionen, die sich in der europäischen Musik jener Zeiten herausgebildet haben, jedenfalls so grob einzuteilen, wie es mein rascher Überblick verlangt, lassen sich diese drei Typen benennen: der bloß sprachlich gebundene Rhythmus, der modale und schließlich der mensurale.36

      Der erstere, kennzeichnend für die frühen Monodien bis etwa zum Gregorianischen Gesang, verzichtet für unsere – hier durchaus unangemessenen – Begriffe auf eine rhythmische Regelung des Zeitverlaufs, insofern er die Tondauern lediglich an den Sprachduktus bindet, indem er also die Töne so lang oder so kurz nimmt, wie es den jeweils gesungenen Silben im Sprachverlauf oder möglicherweise ihrer Bedeutung entspricht. Er mag sie zuweilen ad libitum durch Verzierungen längen, und es können auch mehrere Töne einer Silbe unterlegt werden, mit jeweils etwa gleichwertiger Dauer, die aber danach variieren kann, ob ein Ton lediglich einem verzierenden Lauf angehört oder aber frei trägt. Die Absenz von Zeitraster und Betonungswechsel liegt hier auf der Hand.

      Modale Rhythmik ist etwa Mitte des 13. Jahrhunderts ausführlich beschrieben worden durch Johannes de Garlandia; in Gebrauch war sie schon Jahrhunderte früher. Sie beruht auf der Unterscheidung von lang und kurz, von longa (L) und brevis (B), und auf den folgenden sechs Möglichkeiten, wie diese beiden Quantitäten aufeinander folgen können:37

1. L B L …3. L B B L …
2. B L B …4. B B L B B …
6. B B B …5. L L L …

      Wohlgemerkt, diese Abfolgen sind durch kein gemeinsames Gesetz festgelegt, sie sind Modelle, sind Muster, Gestalten je eigenen Rechts. Und sie haben, nebenbei gesagt, nichts mit Akzenten, nichts mit irgendeiner Festlegung von betont und unbetont zu tun.38 Sie liegen den verschiedenen Modi zu Grunde, aus denen sich der deswegen so genannte modale Rhythmus zusammensetzt. Das erste Muster zum Beispiel, L B L, wird so zu einem Modus perfectus: L B L B L, oder so zu einem Modus imperfectus: L B L B. Die longa gilt jeweils zwei Zeiteinheiten, die brevis eine, und es ergibt sich die Proportionenfolge: 2 + 1 + 2 + 1 (+ 2). Anders, wenn eine der Möglichkeiten drei bis fünf verwendet wird, wo jeweils mindestens zwei Werte der gleichen Gattung aufeinander folgen.


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