Im Takt des Geldes. Eske Bockelmann

Im Takt des Geldes - Eske Bockelmann


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von durchaus unterschiedlicher Dauer.29

      Nun gehören zu dem, was den Klang einer Silbe ausmacht, neben Vokallänge, Konsonanten und vielem anderen auch die Akzente der Sprache und die unterschiedliche Gewichtung der Silben gegeneinander. Also trifft unsere rhythmische Synthesis bei der Sprache auf ein Klangmaterial, dessen Elemente teilweise – ähnlich wie bei den Experimenten mit lauteren und leiseren Tönen – bereits objektiv nach schwerer und leichter unterschieden sind. Und daher wird die Synthesis, wo sie an Sprache wirksam wird, auf diese Bestimmungen reagieren, indem sie sich so weit wie möglich an sie heftet und ihre Hervorhebung auch auf eine sprachlich betonte oder stärker gewichtete Silbe legt. Wo ihr das gelingt, verschmelzen wieder diejenigen Hervorhebungsbestimmungen, die wir synthetisch an die Silben heften, mit den sprachlich gegebenen Akzenten, und beides, Sprachakzent und synthetische Hervorhebungsbestimmung, ist für uns, die Wahrnehmenden, in denen sich diese Verschmelzung ja vollzieht, nicht mehr zu unterscheiden. Beides nehmen wir ja als Betonungen wahr, zuverlässig müssen wir deshalb wieder den Irrtum hegen, alle jene Betonungen, die man in einem Vers wahrnimmt, lägen irgendwie schon objektiv im Klang der Sprache. Genau so wird man es in ausnahmslos jedem Metrikbuch, -aufsatz oder -artikel behauptet finden: dass jenes betont/unbetont, das wir in solchen Versen als Versmaß hören, in nichts anderem bestünde als in der sprachlichen Betont- und Unbetontheit der Silben.

      Kehren wir nun aber zurück zu unserem kleinen Experiment und dem schönen Satz:

      Golch und Flubis, das sind zwei Gaukler aus der Titanei.

      Diesmal aber fahre man fort und lese ihn ein weiteres Mal:

      Golch und Flubis, das sind zwei

      Gaukler aus der Titanei.

      Zweimal derselbe Satz, und doch klingt er nicht zweimal gleich. Was hat sich verändert, wie klingt er jetzt? Er erfährt eine leichte Unterbrechung, und dadurch tritt ein Reim hervor. Aber nicht der Reim ist entscheidend, sondern dass der Satz nun rhythmisch wird, dass sich darin nun ein leichtes Auf und Ab von betont und unbetont einstellt, das beim ersten Mal fehlte. Dort, in der Prosalesung, hörte man allenfalls diese Betonungen:

      Golch und Flubis, das sind zwei Gaukler aus der Titanei.

      Beim zweiten Mal aber hören wir im selben Satz regelmäßig Betonungen auf jeder zweiten Silbe:

      Was hat sich verändert? Es sind nicht bloß mehr Silben betont als vorher, sondern wir hören nunmehr alle Silben systematisch nach betont und unbetont abwechseln; und eben damit wird uns der Satz auf eine spezifische Weise, die in der Prosalesung fehlte, rhythmisch. Die Verwandlung, die sich für unser Ohr zwischen den beiden Leseweisen vollzieht, besteht darin, dass sich in der ersten Version nicht und in der zweiten Version sehr wohl der Rhythmus nach betont/unbetont einstellt: Er fehlt das eine Mal demselben Satz, an dem er das andere Mal hervortritt.

      Das Experiment zeigt also recht einfach und rasch, dass nicht schon die Silben und die Sprache als solche den Rhythmus mit seinem regelmäßigen Auf und Ab der Betonungen in sich tragen können, den wir an Akzentversen wahrnehmen. Die Akzente in normaler Prosa reichen keinesfalls dafür aus, all die Betonungen zu begründen, die uns in einem solchen Vers vernehmbar werden. Dafür muss wiederum unsere taktrhythmische Synthesis wirksam hinzutreten. Weshalb sie dies das eine Mal tut, beim Vers, beim Prosaklang von Sprache dagegen unterbleibt, ist ein kleines Geheimnis, wirklich kein großes Geheimnis, das ich an anderer Stelle geklärt habe.30 Jedenfalls sind bei der Wahrnehmung von Akzentversen zwei Arten von Betonungen beteiligt: Die Sprache hat die ihren, Akzente, die sie in Prosa trägt und dort auf recht bewegliche, unterschiedliche Weise tragen kann; wir haben sie in der ersten Fassung des Satzes gehört. Auf diese Silbenfolge mit ihren Sprachakzenten aber legen wir – unter bestimmten Bedingungen, die unseren rhythmischen Reflex auf den Plan rufen – zusätzlich dessen regelmäßige Folge von betont und unbetont. Unsere Wahrnehmung versucht dabei diese ihre synthetischen Betonungen unwillkürlich an die sprachlich gegebenen zu heften, möglichst also so, dass diese mit jenen übereinstimmen, dass also beide Arten von Betonung zusammenfallen. Wo dies nicht möglich ist, treten daher die synthetischen Betonungen zusätzlich zu den sprachlichen auf – zuweilen gar abweichend von ihnen. Und so wird dasselbe Stück Sprache, das eben noch Prosa war, rhythmisch und Vers: indem es unser Reflex rhythmisch macht.

      Ein Dichter, der Akzentverse schreibt, hat die Silbenfolge in seinen Worten demnach so zu wählen, dass sie sich dem Rhythmusreflex entsprechend fügt, ihm sicher genug Anhalt bietet und ihn überhaupt auf den Plan ruft. Dass ein Dichter dies tut, wenn er Sprache auf ein Versmaß nach betont und unbetont bringt, davon muss er nichts wissen und davon hat bisher auch sicher noch kein Dichter etwas geahnt. Trotzdem tut er genau das, wenn er darauf achtet, dass ihm die Sprache das betont/unbetont ergibt. Er hat sich dabei auf nichts anderes zu verlassen als auf sein Gehör, wo Reflex und Synthesis genauso unwillkürlich wirken und wo deren Wirkung genauso unwillkürlich da ist wie später beim Leser. Und auf Grund dieses jeweils gleichen Reflexes in der Wahrnehmung von Dichter und Leser hören sie solche Verse gleichermaßen rhythmisch: im systematischen Abwechseln, einem Versmaß von betont und unbetont.

      Das rhythmische Aushören von Sprache, das durch entsprechende Anordnung der Silben dem Rhythmusreflex sicheren Anhalt bietet, kann sehr schön gelingen:

      Und drunten seh ich am Strand, so frisch

      Wie spielende Doggen, die Wellen

      Sich tummeln rings mit Geklaff und Gezisch,

      Und glänzende Flocken schnellen.

      Aber es kann selbst einer doppelten Dichtergewalt wie der von Schiller und Goethe auch peinlich misslingen – wie in ihrem Xenion »Literaturbriefe«:

      Auch Nicolai schrieb an dem trefflichen Werk? Ich will’s glauben;

      Mancher Gemeinplatz auch steht in dem trefflichen Werk.

      Wer trifft hier auf Anhieb die von den Dichtern erhofften je sechs Betonungen in Hexameter und Pentameter? Gerade an miesen Versen empfindet man – besser als an den gelungenen –, wie sehr die Sprache, um Vers zu werden, darauf angewiesen ist, dass wir die entsprechenden, die taktrhythmischen Betonungen erst noch in ihre Silben hineinlegen – sie liegen nicht schon drin. Bei guten Versen macht es sich wie von selbst, bei den schlechteren kracht es und knackt es oder will einfach nicht gelingen.

      Sprache, der gesprochene Klang einer Sprache, muss ja nicht in der Lage sein, den Reflex unserer taktrhythmischen Synthesis sicher auf den Plan zu rufen. Das verweigert sie vielmehr in den allermeisten Fällen, nämlich überall dort, wo wir alltäglich, wo wir in Prosa sprechen oder schreiben. Ja, es gibt Sprachen, deren Sprechklang sich grundsätzlich gegen jene Synthesis sperrt: Die romanischen Sprachen beispielsweise kennen keine Akzentverse. Nur Sprachen wie die englische oder die deutsche, die sich in ihrer Silbenfolge so anordnen und vor allem in dieser Anordnung auch so sprechen lassen, dass der Reflex wirkt, lassen sich damit auch in Akzentverse bringen. Doch selbst dort kann die Sache noch unsicher bleiben – so sehr, dass selbst Goethe über ihrer Schwierigkeit verzweifeln wollte.

       III

       Evidenz gegen Geschichte

      Ein bescheidener, unscheinbarer Reflex bestimmt auf diese Weise über eine ganze Welt von Rhythmus: über unsere rhythmische Welt. Er ist ihre mächtige Voraussetzung, er bewirkt sie, sie ersteht allein unter seiner Wirksamkeit. Unscheinbar ist er als der Reflex: der wirkt, auch ohne dass wir das mindeste von ihm wüssten. Aber gerade als dies unbewusst, unwillkürlich Wirksame ist er von solch bedeutender Kraft. Und ist er dasjenige, was sich am Taktrhythmus verbirgt.

      Denn das, wonach wir gesucht hatten, das, was da rhythmisch


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