Im Takt des Geldes. Eske Bockelmann

Im Takt des Geldes - Eske Bockelmann


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nicht leicht, das zu bestimmen, denn Jourdain gerät damit in einige – die übliche – Not. Schon seine Beschreibung des Taktrhythmus bleibt wie allermeistens grob unscharf und unvollständig:

       Auf der einen Seite gibt es die bekannte Vorstellung von Rhythmus als Muster betonter Schläge. Diese Abfolgen können sich von einem Moment zum nächsten ändern und lassen sich durch Synkopen und andere Kunstgriffe modifizieren und damit abwechslungsreicher gestalten. Für den Großteil der populären Musik weltweit ist dies der vorherrschende Begriff von Rhythmus.

      So viel oder wenig zu »Wien« und dem Taktrhythmus. Schwieriger noch wird es mit dem »Dorf« und seiner Rhythmik jenseits von Takten.

       Die zweite Auffassung von Rhythmus ist so unterschiedlich, dass sie auf den ersten Blick gar nichts mit Rhythmus zu tun zu haben scheint.

      Nämlich genau dann nicht, wenn man unter Rhythmus zwingend und unwillkürlich bereits Taktrhythmus versteht. Diese zweite »Auffassung«, nein, diese andere Art von Rhythmus fasst Jourdain nicht zu Unrecht als eine von zeitlich irgendwie strukturierten Abläufen. Wodurch sie sich spezifisch bestimme, vermag er lediglich negativ anzugeben: nicht durch Takte.

       Es ist der Rhythmus eines Langstreckenläufers oder eines Stabhochspringers, der Rhythmus von Wasserfontänen und Wind, der Rhythmus der segelnden Schwalbe oder des schleichenden Tigers. Es ist auch der Rhythmus der Sprache. Dieser Form des Rhythmus fehlen die in Takte eingeteilten wiederholten und gleichmäßigen Akzente.

      Eine Negation, die zweifellos zutrifft. Doch was weiß man damit von dieser »anderen« Rhythmik? Jourdain versucht es mit einem bildhaften Vergleich:

       In der Musik wird diese Art von Rhythmik durch die Abfolge unregelmäßiger Klangfiguren gebildet, die sich auf wechselnde Art miteinander verbinden wie die Teile eines Gemäldes, die sich manchmal in exquisitem Gleichgewicht befinden, manchmal die Kräfte vereinigen, um zu kreisen, unterzutauchen oder herumzuwirbeln. 32

      Ein schöner Vergleich; aber er klärt nicht genug.

      Die klare Überzeugung, die wiederum jeder haben wird – und die selbstverständlich auch ich lange Zeit gehegt habe –, Musik müsse nach Takten gehen und zwar, dank deren schlagender Einfachheit, gerade am »Ursprung« und je primitiver umso zwingender, diese Überzeugung zeigt sich stets ungetrübt von aller genaueren Kenntnis der Musik und ihrer Geschichte – übrigens auch bei Musikwissenschaftlern. Weidlich hat man sich einmal über die Scholastiker lustig gemacht, die behaupteten, Fliegen hätten acht Beine, nur weil es bei Aristoteles – ipse dixit – so stand; wie dumm von den Scholastikern, nicht einfach selber nachzuzählen! Nun, heute ersparen es sich die Wissenschaftler des Rhythmus auf dieselbe Weise, der älteren Musik auf die Füße zu schauen, und wissen auch ohne das, einfach weil sie es wissen, wie die gegangen sein muss: »Das Vorhandensein von Schlaginstrumenten in einer Kultur beweist das taktgemäße Musizieren« – solange man zum Beispiel noch nichts Genaueres von den Afrikanern gehört hat. »Das Zusammenspiel mehrerer Musiker ohne Takt ist unmöglich« – weswegen man zum Beispiel nichts vom Gregorianischen Gesang wissen darf. »Tanzformen, die von Musik begleitet werden, erfordern den gemeinsamen Taktschlag« – weshalb wir auf alles Anderslautende verzichten können, was die Antike dazu aufgeschrieben hat. Folglich »scheint es so zu sein, dass so ziemlich jede Musikkultur der Erde das Taktprinzip kennt und anwendet.« Ja, so scheint es, solange man sich den Autismus selbstgenügsam-zirkulärer Voraussetzungen leistet – und nicht nachschaut.

      Tief ist der Graben, der die Takt- von jeder anderen Rhythmik trennt, so tief, dass kaum noch von der einen zur anderen Seite zu gelangen ist. Was also liegt da drüben, fern von uns und unseren Takten, was erstreckt sich da weit in unserem Rücken? Nicht bloß die Trommeln des traditionellen Afrika erklingen dort, nicht bloß Musik und Verse der Antike, dort tönt die Rhythmik zahlloser älterer Traditionen, europäischer und außereuropäischer Kulturen, näherer und fernerer Zeiten. Das rhythmische Reich jenseits der Takte ist ja keines der einheitlich einen, »der« anderen Rhythmik, es umfasst deren viele, jede geschieden von den übrigen durch eigene Besonderheit. Aber es liegt ihnen eine wichtige Bestimmung zugrunde, die sie verbindet und die sie alle, jede für sich, gemeinsam vom Taktrhythmus unterscheidet.

      Beschrieben wurde sie bisher nur ein einziges Mal – von Thrasybulos Georgiades, einem Musiktheoretiker des zwanzigsten Jahrhunderts, und auch von ihm nur am Beispiel einer einzelnen Rhythmik, einer, die er den »griechischen Rhythmus« nannte. Damit meinte Georgiades zum einen den antiken Rhythmus, den er mit aller philologischen Schärfe aus den überlieferten Zeugnissen rekonstruiert hatte. Zum anderen aber war dem gebürtigen Griechen die gleiche Rhythmik noch unmittelbar präsent, da manche streng traditionellen Gesangs- und Tanzformen sie bis in das Griechenland seiner Gegenwart bewahrt hatten. An ihnen verfügte Georgiades, wie er nachwies, über lebendige, hörbare Beispiele eben jener Art von Rhythmik, die auch in der griechischen Antike gegolten hatte. Andererseits, als Einwohner des zwanzigsten Jahrhunderts, verfügte er selbstverständlich auch über die Taktwahrnehmung: eine Kenntnis des Alten sowohl wie des Neuen, die ihn wie keinen Musiktheoretiker zuvor befähigte zu zeigen, was die beiden Welten trennt.

      Beginnen wir noch einmal mit unserer, derjenigen des Taktrhythmus. Dessen spezifische Rasterbildung macht Georgiades anschaulich im Bild eines Gerüstes.

      Dieses Gerüst kann man sich als ein System von Punkten in gleichen Abständen vorstellen. Einige besondere Punkte darunter werden durch ihr höheres Gewicht hervorgehoben. […] Ähnlich gliedert man subjektiv ein objektiv gleichmäßiges Schlagen (tik-tik) in tik-tak oder gar in tik-tak-tok. Die Auswahl findet nämlich nach einem Gesetz statt, das auch subjektiv als Gesetz auffassbar ist. Es kann nichts anderes als die Ordnung der Abwechslung der Punkte mit verschiedenem Gewicht bestimmen. […] Es kann sich auf höhere Überordnungen ausdehnen, wenn nur das Prinzip der gleichen Abstände bei der jeweiligen Überordnung gewahrt bleibt. Das bedeutet, dass als Generationsprinzip höherer Ordnung nur Vielfache von 2 und 3 (z. B. 2x2, 2x3, 3x3, 3x2) angewendet werden können, dass also die höheren Rangordnungen durch Multiplikation von 2 und 3, durch zusammenfassende Unterordnung, nicht aber durch Addition (wie 2+3), durch Nebenordnung entstehen können. Durch dasselbe Prinzip werden auch die Unterteilungen der ursprünglichen Einheiten ersten Grades möglich, also die Achtel, Sechzehntel usw., sei es in der üblichen Form, durch Zweiteilung, oder in Triolenform, wenn die 3 als Grundlage verwendet wird.33

      Wir kennen diese Verhältnisse bereits, zur besseren Anschauung aber hilft vielleicht eine kleine Grafik. Sie zeigt das »Gerüst« mit vier übereinander liegenden Ebenen, an die nach oben und nach unten jeweils noch einige weitere anzuschließen wären. Auf jeder dieser Ebenen werden durch Punkte in gleichen Abständen Elemente gleicher Länge abgeteilt, und diese Elemente – Georgiades spricht nur von den Punkten, da die Elemente ja nicht durch Klang gefüllt sein müssen, da die Markierung der Trennpunkte also genügt – werden verbunden, indem sie gegeneinander hervorgehoben werden. Die Grafik zeigt dabei allein den Fall, dass auf jeder Ebene die Zweier-Gruppe wirksam ist; die Dreier-Gruppierung bedürfte einer entsprechend veränderten Darstellung. Jedes Element wird »nach unten« in derselben Weise in zwei verbundene und gegeneinander hervorgehobene Elemente aufgeteilt, wie es »nach oben« mit einem benachbarten Element zur Gruppe aus hervorgehoben gegen nicht-hervorgehoben verbunden wird. Die Hervorhebung selbst ist angedeutet durch eine stärkere Linie auf Elementenebene, das Einwirken der Synthesis durch die gebogenen Linien, die sich von Element zu Element spannen, das Ergebnis ihres Einwirkens aber durch die Senkrechten: die vielfache Rasterung der Zeit in abwechselnd gegeneinander hervorgehobene Elemente gleicher Dauer.

      Diese Ordnung oder das System, die auf diese Weise entstehen, nämlich in die Zeit gewirkt werden, sind in ihrer Gesamtheit die Leistung unserer taktrhythmischen Synthesis – sie sind das, was sie leistet. Und Georgiades sagt nun zu Recht, all das


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