Scheinwelt. Andreas Reinhardt
humorvolle, hilfsbereite, verletzliche und streitbare Mensch. Aber wer man war, was in einem vorging und einen wirklich auszeichnete, das interessierte anscheinend keine Sau. Hauptsache, man entsprach einem optischen Schönheitsideal, als Mann also einem Adonis. Dieser Aspekt meiner körperlichen Veränderung gefiel mit ganz und gar nicht. Ich lernte damit umzugehen, es für mein weiteres Leben zu nutzen, natürlich. Aber umso mehr versuchte ich auch, an meiner eigentlichen Wesensart, meinen Prinzipien und Überzeugungen festzuhalten.
Es stellte sich die große Frage, welchen beruflichen Weg ich denn nun einschlagen sollte. Vor dem geistigen Auge sah ich das besorgte Gesicht meines Vaters, hörte dazu seine mahnenden Worte, die mich beschworen, unbedingt einen sicheren Beruf, ohne schwere körperliche Arbeit zu wählen. Dem würde ich nur zu gerne folgen – meine zwei linken Hände habe ich ja schon erwähnt. Nun wollte es der Zufall, dass der Vater einer Mitschülerin ausgerechnet der Polizeipräsident von Bonn war. Er verschaffte mir einen Beratungstermin zwecks Einstellung in den gehobenen Dienst der Polizei. Mich reizte das, denn mein eigener Papa hatte für kurze Zeit beim Bundesgrenzschutz gearbeitet und immer wieder bereut, den Dienst quittiert zu haben. Uns Söhnen hatte er bei solchen Gelegenheiten nahegelegt, doch zur Polizei zu gehen, weil es ein sicherer Arbeitsplatz sei und gute Karrieremöglichkeiten bestünden. Ich meisterte also alle erforderlichen Tests bis auf den Sehtest. Die schlechten Augen machten mir einen Strich durch die Rechnung. Ich wurde aussortiert, was selbst ein Polizeipräsident nicht verhindern konnte. Meinem Bruder war es zuvor genauso ergangen, denn auch seine Sehschärfe ließ schon damals zu wünschen übrig. Nun war guter Rat teuer. Keine Polizei, kein Handwerk – wo also konnte ich genug Geld verdienen und gleichzeitig viel Spaß haben, außerdem Erfüllung finden? Eigentlich dachte ich an viel Geld, denn nach meiner Vorstellung bedeutete mehr Geld weniger Sorgen. Außerdem schwebten mir für die Zukunft konkrete Ausgaben vor. Mit der Familie hatten wir uns nie einen gemeinsamen Urlaub gegönnt. Aufgrund des eigenen Handwerksbetriebes, der am Laufen gehalten werden musste, hatten meine Eltern bestenfalls getrennt in Urlaub fahren können. Wir Kinder waren also entweder einige Tage mit Papa oder Mama weggefahren. Öfters hatte mich auch meine innig geliebte Tante mütterlicherseits – für mich wie eine zweite Mama – in den Urlaub mitgenommen. Lange Rede, kurzer Sinn, in Zukunft wollte ich für gemeinsame Familienurlaube sorgen, in denen es keinem an etwas fehlen sollte. Darüber hinaus wollte ich vor allem meinen Eltern Gutes tun, die sich für meinen Bruder und mich so viele Jahre aufgeopfert hatten.
Beim Stichwort Geld fällt mir wieder ein, dass meine Eltern zeitweise davon ausgegangen sind, dass ich einmal Bänker werden würde, weil ich immer so gerne Geldscheine gezählt habe. Aber das konnte ich mir nun beim besten Willen nicht vorstellen – zu langweilig, noch dazu „zwangsuniformiert“ im Anzug. Nein, es sollte mir um Nichts in der Welt so ergehen wie meinem Papa, der jahrzehntelang ohne Freude und Leidenschaft zur Arbeit gegangen war, alleine von dem Impuls angetrieben, die Familie satt zu bekommen. Dass hatte er mir sehr erfolgreich eingeimpft.
Ich entschied mich für ein dreijähriges duales Studium mit der Bezeichnung Fitnessökonomie an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement in Köln – weil es mit Sport zu tun hatte und mir viel Gutes darüber zu Ohren gekommen war. Vielleicht konnte ich mir sogar einen Namen als Promi-Trainer machen. Der Studiengang wurde neuerdings mit Abschluss Bachelor angeboten, also Diplom-Fitnessökonom (BA). Den praktischen Teil habe ich in einer großen deutschen Fitnesskette absolviert, bei „Fitness First“ in Bonn, wo mir eine tolle Ausbildungszeit in einem genialen Team und mit der denkbar besten Chefin geboten worden ist. Diese charismatische und herzliche Frau hat mich von der Pike auf in die Künste des Vertriebs und Marketings eingeführt. Wenn ich an die gemeinsame Zeit zurückdenke, dann als erstes an unser denkwürdiges Vorstellungsgespräch. Mittelpunkt dabei war ein ganz ordinärer gelber Textmarker, den sie vor mir auf den Tisch legte:
»So, lieber Oliver, danke für deine Bewerbung. Wir machen es ganz kurz und knapp. In unserem Geschäft geht es um den Verkauf von Mitgliedschaften, also vor allem um dein verkäuferisches Talent. Bitte verkauf mir diesen Stift. Wenn du mich überzeugen kannst, bekommst du die Ausbildungsstelle.«
Ich dachte kurz nach und begann damit, ergonomische Vorzüge zu preisen, die es in Wahrheit gar nicht gab. Anschließend führte ich aus: »Mit diesem Stift kann man wichtige Stellen in Texten gelb markieren, man kann aber auch in rot und blau schreiben.« Zur Demonstration schrieb ich zwei Buchstaben auf einen leeren weißen Zettel – natürlich in Gelb, ich definierte es aber kurzerhand als rot und blau.
Jetzt kam meine Kreativität erst so richtig in Fahrt, doch kurz darauf winkte meine Gesprächspartnerin lächelnd ab: »Die Spontanität und Schlagfertigkeit gefällt mir. Wir hatten uns grundsätzlich auch schon für dich entschieden und würden uns freuen, wenn du bei uns startest.«
So erhielt ich einen Vertrag mit 30 Ausbildungsstunden pro Woche im Fitnessstudio, die Studiengebühren wurden übernommen, und neben einem kleinen Ausbildungsgehalt waren auch Provisionen für verkaufte Mitgliedschaften vorgesehen. Zusammen mit dem Job im Drogeriemarkt kam ich finanziell ganz gut über die Runden, zumal ich ja noch zuhause wohnte. Es wurde eine großartige Zeit. So dermaßen wohl habe ich mich später selbst als Spitzenverdiener nur selten gefühlt. Zwar war ich auf dem Papier Azubi, an der Vertriebsfront nach kurzer Zeit aber schon ein Macher, der mit seiner überzeugenden Art und dem Konzept von Willen und Disziplin teilweise mehr Mitgliedschaften generierte als die Festangestellten. Während des letzten Ausbildungsjahres fand eine Neueröffnung in Düsseldorf statt, die ich mit organisieren sollte. Mit Abschluss des Studiums wurde ich dort dann in die erste Festanstellung übernommen – als Personal Trainer und Fitnessmanager. Das passte wunderbar, denn ich hatte auf einer Düsseldorfer Fitness-Surf-Party ein Mädchen kennengelernt, mit dem ich kurzentschlossen zusammenzog. 23 Jahren war ich alt und endgültig flügge geworden, noch dazu in einer anderen Stadt. Ein Jahr lang baute ich mit praktischer und akademischer Kompetenz einen Personalstamm auf, der am Ende allerdings mehr verdiente als ich. Das ließ mich kritisch nachfragen:
»Leute, ich habe mittlerweile über 20 Trainer zu verantworten, die ich aufgebaut, geschult und gecoacht habe. Alle verdienen als Personal Trainer gutes Geld, nur ich bekomme nach wie vor nicht viel mehr als ein Berufsanfänger. Wie kann das sein?«
Ich hätte dafür ja eine Neueröffnung mitorganisieren und wertvolle Erfahrungen sammeln dürfen, außerdem würde sich die leitende Position gut im Lebenslauf machen, hielt man mir entgegen. Die nächsten Monate habe ich vergeblich versucht, eine Gehaltserhöhung für mich durchzusetzen. Während eines Grillnachmittags im Kreis der Familie machte ich mir Luft:
»Mich kotzen diese vorgeschriebenen Arbeitszeiten an! Man ist nur dafür da, die Taschen des Chefs vollzumachen! Ich coache die Leute, weiß viel mehr als die, werde aber trotzdem nur mit einem Hungerlohn abgespeist! Ich muss mich unbedingt selbständig machen. Ich schaffe mehr, kann mehr und traue mir viel mehr zu, bin zu mehr berufen. Zum Angestellten bin ich einfach nicht geboren.«
Verunsichert setzten meine Eltern auf Nummer sicher: »Ach Oli, ob das wirklich so gut ist? Dir geht es doch ganz gut. Denk an den Papa, was die Selbständigkeit für Risiken mit sich bringt.«
Aber vermutlich kam ich auch in diesem Punkt einfach zu sehr nach meinem Vater, denn ich kündigte kurz darauf, um mich als Franchisenehmer direkt wieder einzukaufen. Von jetzt an war ich Personal Trainer auf eigene Rechnung. Das bedeutete vor allem keine Personalverantwortung mehr sowie die Zahlung eines monatlichen Mietzinses, um in den Räumen von Fitness First meine Dienste anbieten zu dürfen. Ein Risiko war es allemal, denn ich hatte gerade mal knapp 2.000 Euro auf dem Konto. In der Übergangszeit zwischen Weihnachten und Neujahr konnte sich das Ganze durchaus noch als fataler Griff ins Klo erweisen, als ich ein an sich unschlagbar günstiges Angebotspaket schnürte. Würden genügend Kunden anbeißen? Sie bissen auf Anhieb so zahlreich an, dass ich die nächsten zwei bis drei Monate sicher über die Runden kommen würde. Schnell wurde ich auch zu Standardkonditionen gut und mit steigender Tendenz gebucht – für Training und Beratung. Ich hatte auf der ganzen Linie gewonnen. Der Verdienst war jetzt deutlich höher und ich freiberuflich tätig, also mein eigener Herr.
Bezeichnenderweise hatte meine Bachelor-Thesis zum Thema gehabt: „Entwicklung und Marketingstrategien für einen Personal Trainer, zur Ermittlung und Erschließung von Zielgruppen