POLARLICHTER. Manfred G. Valtu
Hab die Menschen, die du liebst, immer bei dir, wo du auch bist, selbst wenn diese Menschen nicht mehr unter uns weilen.
Benjamin Ferencz: „Sag immer deine Wahrheit“
P R O L O G
Alles war schief gegangen. Der Schweiß rann ihm in kleinen Bächen den Rücken hinunter bis zum Hosenbund.
Er sah sich um.
Noch vor einer Woche war die Lage völlig klar gewesen. Der Auftrag war so gut wie erfüllt. Endlich würde er wieder in Ehren aufgenommen werden. Endlich wäre er wieder wer.
Und nun das.
Nicht einmal in eine der drei Alias-Identitäten konnte er flüchten. Die Gegenseite hatte gründliche Arbeit geleistet. Alle seine Papiere waren weg.
Er war 'verbrannt'.
So würde er keine Möglichkeit haben, den Job zu Ende zu führen. Ihm blieb nur, unterzutauchen. Doch wo und wie?
Immerhin hatten sie seine 'stillen Reserven' nicht gefunden. Das Versteck in der Stabkirche von Trondheim war zu gut gewesen.
Hätte er doch nur seine Papiere auch dort aufbewahrt. Nicht immer hatte die Agentenausbildung recht. Es hatte geheißen, alle Identitätshinweise und überlebensnotwendigen Dinge auf verschiedene Orte zu verteilen. War sonst auch immer gut gegangen.
Diesmal aber eben nicht!
Erneut sah er sich um. Die leer stehende Lagerhalle am Ortsrand von Trondheim war nicht geeignet, Quartier zu nehmen. Er musste weg.
Das Licht seines Notfallhandys ließ er über die ausgebreitete Landkarte gleiten. Richtung Süden oder Richtung Norden? Das war die Frage.
„Quatsch“, sagte er sich. „Ist überhaupt keine Frage! Je nördlicher, desto einsamer, desto sicherer vor Entdeckung!“
Er erinnerte sich an ein Gespräch mit dem Chef-Stellvertreter: „Wenn Sie mal in herrlicher Natur entspannen wollen, ohne auf Luxus verzichten zu müssen, empfehle ich Ihnen das kleine norwegische Örtchen Olden. Herrliche Fjordlandschaft, von Frühjahr bis Herbst mildes Klima bei sauberer Luft und wunderschöne Gletscher in Ausflugsnähe wie der Jostedalsbree und der Briksdalsbree“, hatte er geschwärmt.
Er fand Olden auf der Karte. Zu seiner Überraschung war es südwestlich gelegen. „Liegt trotzdem schön einsam“, sagte er sich. An Hand des am unteren Rand der Karte eingezeichneten Maßstabs schätzte er die Entfernung auf etwa 450 Km. Das wäre auf den großen Straßen eine Tagesreise von etwa sieben Stunden. Doch über die sichereren Nebenstrecken könnte es leicht die doppelte Zeit werden.
Er brauchte ein geländegängiges Fahrzeug. Eines zu mieten war mit seinem Klarnamen ein großes Risiko. Aber ohne Papiere würde er keines bekommen. Es gab aber auch die Möglichkeit, eines zu 'akquirieren' und dann am Zielort im Fjord zu versenken.
Das nächste Problem: Er hatte kein Internet. Es war notwendig gewesen, auf ein zu ortendes Smartphone zu verzichten. Jetzt aber zeigten sich die Nachteile des vorsintflutlichen Handys.
So konnte er die sicherlich vorhandenen Informationsseiten von Olden nicht aufrufen. Er musste sich darauf verlassen, vor Ort eine unauffällige Bleibe zu finden. Hatte der damals nicht von einem direkt am Fjord gelegenen Campingplatz erzählt?
Genau! Das war es.
Damit waren die nächsten Schritte vorgegeben: Es waren eine Wander- und Campingausrüstung und das Auto zu besorgen. Er würde auf Schleichwegen so nahe wie möglich an Olden heranfahren und dann als 'Wandersmann' sein Zelt auf dem Campingplatz aufschlagen. Auf diese Weise könnte er so lange in Deckung bleiben, bis sich eine Möglichkeit zum endgültigen Untertauchen fände.
Heute war Freitag. Soweit er wusste, schloss das am südlichen Industriegebiet Trondheims gelegene Autohaus am Sonnabend um 18.00 Uhr. Es musste ihm gelingen, dort eine Probefahrt für das gesamte Wochenende bis zum Montag zu vereinbaren. Vor Montag Mittag würden die das Auto nicht als vermisst melden.
Und was, wenn sie ihm das nicht gewähren würden?
Dann würde er es sich 'borgen'. Ein kleiner Einbruch, die Autoschlüssel und in Autohäusern immer vorrätige Kennzeichen finden, einsteigen und losfahren.
Eine der leichtesten Übungen aus dem Einmaleins des Agentendaseins.
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ERSTER
K A P I T E L 1
Der Autohändler Lasse Wahlström saß in seinem Glaskasten und blickte mißmutig auf die eng aneinander geparkten Autos. Seit die Regierung ihre ambitionierten Ziele zur Senkung der klimaschädlichen Abgase bekannt gegeben hatte und der Anteil der E-Autos stramm auf die fünfzig Prozent zuschritt, war der Absatz um gefühlte neunzig Prozent zurück gegangen. Nur Abenteurer und Landwirte, die auf die allradgetriebenen geländegängigen Fahrzeuge nicht verzichten konnten oder wollten, kauften noch ab und zu einen der Ladenhüter.
Um wenigstens einen Teil der meist dieselbetriebenen Fahrzeuge loszuschlagen, hatte er Rabattaktionen bis über die Schmerzgrenze ins Leben gerufen. In zähen Verhandlungen mit den Herstellern hatte er immerhin erreicht, dass die Verluste ausgeglichen und ihm eine Verkaufsmarge von sage und schreibe drei Prozent gewährt wurden.
Das deckte gerade die Ladenmiete.
Er spielte schon geraume Zeit mit dem Gedanken, das Geschäft abzustoßen. Er würde in seinen erlernten Beruf des Fotografen zurück kehren. Weniger als hier würde er nicht verdienen, in keinem Falle würde es ein Zuschussgeschäft sein.
Ein besonderer Dorn im Auge war ihm dieser unverkäufliche Toyota PickUp. Der stand schon über anderthalb Jahre auf seinem Hof. Den Bauern war er zu schmal und die Ladefläche zu kurz, den Abenteurern war er für das Durchqueren von Flussbetten und was die sich sonst so vorstellten zu breit und nicht wendig genug.
Und genau um dieses vermaledeite Gefährt, von dem er sich schon geschworen hatte, es zu verschenken, schlich – er traute seinen Augen kaum – ein Mann in der typischen Kleidung eines Outdoorers herum.
Wahlström schwang sich aus seinem Bürosessel. Er zwang sich, nicht zu eilig auf den potentiellen Interessenten zu zu gehen und stellte sich kommentarlos neben ihn.
„Der Preis da ist wohl nicht ernst gemeint, oder?“, sprach ihn der Typ in englischer Sprache an.
„Ich finde ihn auch zu niedrig“, witzelte Wahlström.
„Ich bin nicht zu Scherzen aufgelegt. Außerdem müsste ich die Karre erst auf Herz und Nieren testen. Ich will ein Stück nach Norden hoch und am Montag zurück sein. Ginge das?“
Wahlström wog das Risiko ab. Er fasste einen Entschluss.
„Klar geht das. Wenn du eine Sicherheit hinterlegst von – sagen wir – 15.000 Kronen, kannst du das Teil zwei Tage fahren. Für Schäden musst du natürlich aufkommen. Er ist übrigens vollgetankt! Und über den Preis sprechen wir, wenn du zurück bist. Komm' ins Büro.“
Der Interessent hatte sich entschlossen, das Risiko einzugehen,