POLARLICHTER. Manfred G. Valtu

POLARLICHTER - Manfred G. Valtu


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bat jedoch um ein Glas Wasser. Singer gab es ihm und ging zum Fenster. Gedankenverloren sah er hinaus.

      „Wieso berührt es uns viel mehr, wenn e i n Mensch stirbt, den man kannte, als das Sterben Hunderttausender in Kriegen, Hungersnöten oder Pandemien? Immer ist der Tod dasselbe finale Ereignis, und doch wird der Tod e i n e s Menschen als schlimmer empfunden.“

      Röhling hatte nicht den Eindruck, dass sein Chef von ihm darauf eine Antwort erwartete. Es war wohl mehr ein Selbstgespräch. So nahm er schweigend einen Schluck. Singer trank ebenfalls aus seinem Glas, drehte sich um und stellte es mit einem Ruck auf seinen Schreibtisch. Nachdem er Platz genommen hatte, fixierte er sein Gegenüber, atmete tief ein und begann zu sprechen:

      „Sie sind sicherlich verwundert über meine unprofessionell emotionale Reaktion.“

      Röhling setzte zu einer Erwiderung an, aber ein Handzeichen stoppte ihn. „Als ich noch im Außendienst war, habe ich oft mit Agentin 7301 zusammen gearbeitet. In unseren gemeinsamen Einsätzen habe ich sie und ihre hundertprozentige Zuverlässigkeit und Professionalität zu schätzen gelernt.“

      Er machte ein Pause und leerte das Glas.

      „Sollte es sich bei der aufgefundenen Frauenleiche tatsächlich um unsere Kollegin handeln, so ist eine Sache, in der sie im Norden eingesetzt war, offenbar größer als wir angenommen haben. Haben die norwegischen Kollegen denn ein Foto mitgeschickt?“

      „Nein, Sir. Ich hätte es selbstverständlich mit in die Akte gelegt. Wir haben nur die Beschreibung 'Etwa 50 Jahre alt gewordene weibliche Leiche, etwa 163 cm groß und 65 Kilo schwer' und die Beschreibung ihrer Kleidung.“

      Singer, der sich etwas erstaunt über die von Röhling gebrauchte Anrede zeigte, meinte: „Wenn die sich hinsichtlich ihrer Größe nicht verschätzt oder vermessen haben, ist es nicht Agentin 7301. Sie ist fast einen Meter fünfundsiebzig groß.“

      „Aber wieso sollte die Frau die Wanze der Agentin haben?“

      „Es hat keinen Zweck zu spekulieren. Wir werden auf die Anfrage zunächst dahingehend reagieren, dass wir um ein Foto der Frau bitten und uns weitere Auskünfte vorbehalten.“

      „Soll das Ministerium unterrichtet werden?“, fragte Röhling.

      Singer war einerseits leicht amüsiert über das Engagement und den Ehrgeiz des jungen Kollegen, andererseits musste ihm natürlich sein noch untergeordneter Bereich innerhalb der Aufgabenverteilung klargemacht werden. Mit strengem Blick sagte er daher: „Das werde ich mit Ihrem direkten Dienstvorgesetzten erörtern. Derartige Fragen und Entscheidungen liegen nicht in ihrem Aufgabenbereich. Und im Übrigen glaube ich nicht, dass wir hier anglistische Anreden einführen sollten, schon gar nicht in Anbetracht des Ausstiegs der Briten aus der Europäischen Gemeinschaft.“

      Das war deutlich. Röhling schluckte kurz, murmelte etwas von „Das sei wohl seinen Auslandssemestern in Cambridge geschuldet“ und wusste nicht so recht, was er jetzt machen sollte.

      „Das wäre im Augenblick alles“, beendete Singer die Unterredung, woraufhin Röhling aufstand, sich kurz verneigte und das Zimmer verließ.

      „Na, Sie sind ja noch im ganzen Stück rausgekommen“, hörte er die Vorzimmerdame sagen. „Offenbar kann er Sie gut leiden. Dann werden wir uns sicher bald wiedersehen.“

      Röhling schaute sie erst ungläubig an, sah dann aber ein offenes warmherziges Lächeln, lächelte etwas steif zurück und verließ den Raum.

      Im Flur angelangt atmete er tief durch und begab sich zurück in 'den mir zustehenden Bereich', wie er bitter dachte.

      §§§§§§§§

      K A P I T E L 5

      Lunde schüttelte den Kopf. „Die wollen ein Foto von der Toten.“ Er war es nicht gewohnt, dass auf eine einfache Frage gewissermaßen mit einer Gegenfrage reagiert wurde.

      „Und? Wo ist das Problem?“, ließ sich Mathisen vernehmen. „Welches meiner Starfotos wollen wir schicken?“

      „Wie kriege ich den Kollegen bloß in den Griff“, dachte Lunde. Das nach außen gezeigte übertriebene Selbstbewusstsein seines Mitarbeiters sollte – das wusste er von der Kriminalpsychologin aus Oslo – verdecken, welche unsichere Persönlichkeit unter der äußeren Schale steckte. Jeder und jede Anwärter/in auf den höheren Polizeidienst durchlief den „Psycho-Check“ in Oslo. Stellte man dabei sogenannte „besondere“ Persönlichkeitsmerkmale fest, gelangten diese in einen „Zusatz nur für die Personalstelle“. Und in diesen Zusatz hatte der jeweilige Leiter der Aus- oder Fortbildungsstelle Einsicht.

      Dass aus Mathisen kein Drogenjunkie oder Schlimmeres geworden war, zeigte beispielhaft, dass eine verkorkste Kindheit und Jugend mit einem gewalttätigen Vater und einer schwachen alkoholsüchtigen Mutter nicht zwangsläufig zu einem weiteren verkorksten Leben führen musste.

      „Man muss viel Geduld mit ihm aufbringen und seine Extratouren so weit wie möglich tolerieren und sie langsam in die richtigen Bahnen lenken“, hatte die Psychologin resümiert.

      „Leicht gesagt, schwer getan“, dachte Lunde. Er war weder ein sehr geduldiger Mann noch legte er besonderen Wert auf pädagogische Übungen. Doch langsam gewöhnte er sich daran, nicht jede nervige Handlung oder Äußerung des Kollegen zu kommentieren.

      „Wir werden nichts dergleichen tun. Geben Sie mir mal bitte das Tablet, liegt dort auf dem Tisch vor dem Fenster. Und geben Sie mir noch ein ausgedrucktes Foto, egal welches. Hauptsache, sie ist darauf gut zu erkennen. Danke.“

      Lunde öffnete seinen account rief sein Skype-Programm auf und murmelte „Die sind ja hoffentlich nicht auf dem Stand von Fax und Festnetztelefon stehen geblieben.“

      §

      „Ja, Frau Peters?“ Singer schaute auf. Nach anfänglichem Fremdeln hatte er sich daran gewöhnt, dass seine 'Vorzimmerdame' sich jederzeit auch unangekündigt Eintritt verschaffte. Sie war schon persönliche Assistentin seines Vor-Vorgängers gewesen und besaß daher 'ältere Rechte'.

      „Ein Kriminalhauptkommissar Lunde aus Olden hat telefonisch angekündigt, in einer halben Stunde per Skype oder Zoom mit Ihnen konferieren zu wollen. Es ginge um eine weibliche Leiche.“

      „Warum haben Sie ihn nicht durchgestellt? Was bildet sich der Kollege denn ein? Dass wir hier sofort springen?“

      „Genau wegen dieser erwarteten Reaktion habe ich ihn nicht zu Ihnen durchgestellt.“

      Singer war einen Augenblick sprachlos. Frau Peters nutzte dies, um gleich fortzufahren. „Es ist nach meiner Erfahrung nie gut, in diesem sensiblen Bereich einem Gesprächspartner spontan seine Meinung zu sagen. Dies könnte die vielleicht erforderliche Zusammenarbeit von vornherein belasten. In meiner langen Zeit ...“

      Singer stoppte seine (wie er sie heimlich nannte) Lehrmeisterin, indem er aufsprang und „Ist ja gut, Frau Peters, Sie haben ja recht!“ ausrief. „Rufen Sie bitte zurück und sagen Sie dem Kollegen, dass ich über Skype in etwa zwei Stunden zur Verfügung stehe. Bis dahin habe ich noch Einiges zu recherchieren.“

      Frau Peters nickte stumm, machte auf dem Absatz kehrt und eilte an ihr Telefon.

      Als sie draußen war, rief Singer auf seinem Rechner den dreifach gesicherten, nur ihm und der Präsidialabteilung zugänglichen Operations-Account der Abteilung SO auf. Die Suchfunktion gliederte sich nach Operationsgebieten, Auftragsdefinition und nach mit der Sache befassten Mitarbeitern und -innen.

      Singer gab die Nummer 7301 ein. Es erschien das Ausweisfoto seiner Außendienstmitarbeiterin Anna Leutlov. Er scrollte weiter und fand unter „Aktuelles“ den Auftrag „NW Methyl“, in dem sie zur Zeit in Norwegen eingesetzt war.

      Er erinnerte sich undeutlich an eine länger zurückliegende Abteilungsbesprechung, in der unter anderem von „Industriespionage“, „norwegischen Forschern“, „Methan“ und „CO2-Reduktion“ die Rede gewesen war. Offenbar


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