Winnetou Band 1. Karl May

Winnetou Band 1 - Karl May


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Muskelkraft ist so riesig, daß er, einen Hirsch, ein Fohlen oder eine Bisonfärse im Rachen, mit

       Leichtigkeit davontrabt. Ein Reiter kann ihm nur dann entfliehen, wenn er ein sehr kräftiges und

       ausdauerndes Pferd besitzt, sonst holt ihn der graue Bär sicher ein. Bei der riesigen Stärke, der absoluten

       Furchtlosigkeit und nie ermüdenden Ausdauer des Grizzlybären gilt seine Erlegung unter den Indianern

       natürlich für eine ungeheuer kühne Tat.

       Also ich sprang ins Gebüsch. Die Spur führte noch weiter, bis dahin, wo die Bäume begannen. Dorthin

       hatte der Bär den Bullen geschleppt. Von dorther war er vorher gekommen; darum hatten wir seine Spur

       nicht sehen können, da sie durch das Fortschleifen des Bisons ausgelöscht worden war.

       Es war ein böser Augenblick. Hinter mir riefen die Surveyors, welche nach dem Zelte zu ihren Waffen

       flohen; vor mir schrien die Westleute, und dazwischen ertönte das unbeschreibliche Schmerzgeheul

       desjenigen von ihnen, den der Bär in seinen Tatzen hatte.

       Ich kam mit jedem Sprunge, den ich tat, näher; jetzt hörte ich die Stimme des Bären, oder vielmehr nicht

       die Stimme, denn auch dadurch, daß es keine Stimme hat, unterscheidet sich dieses gewaltige Tier von

       den andern Bärenarten; es brummt nicht, sondern sein einziger Laut in Zorn oder Schmerz ist ein

       eigentümliches, lautes und rasches Schnauben und Fauchen.

       Nun war ich da. Vor mir lag der vollständig zerfleischte Leib des Bisons; rechts und links schrien mir die

       Westmänner zu, welche sich rasch auf die Bäume retiriert hatten und sich dort ziemlich sicher fühlten,

       denn man hat wohl selten oder gar nie einen Grizzly aufbäumen sehen. Gradaus, jenseits der Büffelleiche,

       hatte einer der Westmänner einen Baum erklimmen wollen, war aber von dem Bären dabei überrascht

       worden. Er lag mit dem Oberleib, sich mit beiden Armen am Stamme festhaltend, auf dem ersten,

       niedrigen Aste, und der Grizzly, welcher sich hoch aufgerichtet hatte, wühlte ihm mit den Vorderpranken

       in den Schenkeln und dem Unterleibe. Der Mann war dem Tode geweiht, unrettbar verloren; ich konnte

       ihm nicht helfen, und niemand hätte, wenn ich wieder fortgelaufen wäre, das Recht gehabt, mir darüber

       einen Vorwurf zu machen; aber der Anblick, welcher sich mir bot, wirkte mit unwiderstehlicher Gewalt.

       Ich raffte eins der weggeworfenen Gewehre auf; es war leider abgeschossen. Ich drehte es um, sprang

       über den Büffel hinüber und versetzte dem Bären aus allen mir zu Gebote stehenden Kräften einen

       Kolbenhieb gegen den Schädel. Lächerlich! Das Gewehr zerplitterte wie Glas in meinen Händen; so

       einem Schädel ist nicht einmal mit einem Schlachtbeile beizukommen; aber ich hatte doch den Erfolg,

       den Grizzly von seinem Opfer abzulenken. Er drehte den Kopf nach mir um, nicht etwa schnell, wie es

       bei einem katzen- oder hundeartigen Raubtiere der Fall gewesen wäre, sondern langsam, als ob er über

       meinen dummen Angriff ganz verwundert sei. Mich mit seinen kleinen Augen messend, schien er zu

       überlegen, ob er bei seinem bisherigen Opfer bleiben oder mich anpacken solle; diese wenige [wenigen]

       Augenblicke retteten mir das Leben, denn es kam mir ein Gedanke, der einzige, der mir in der Lage, in

       welcher ich mich befand, Hilfe bringen konnte. Ich riß den einen Revolver heraus, sprang ganz nahe zu

       dem Bären heran, welcher mir zwar seinen Kopf, sonst aber den Rücken zukehrte, und schoß ihn ein-,

       zwei-, drei-, viermal in die Augen, so wie ich nicht weit von hier dem zweiten Büffelbullen zwei Schüsse

       in die Augen gegeben hatte. Dies geschah natürlich so schnell, wie es mir möglich war; dann sprang ich

       weit zur Seite und blieb da beobachtend stehen, indem ich nun das Bowiemesser zog.

       Wäre ich stehen geblieben, so hätte ich es mit dem Leben bezahlt, denn das geblendete Raubtier ließ

       rasch vom Baume ab und warf sich nach der Stelle, an welcher ich mich einen Moment vorher befunden

       hatte. Ich war weg, und nun begann der Bär, unter giftigem Fauchen und wütenden Tatzenschlägen nach

       mir zu suchen. Er gebärdete sich wie wahnsinnig, drehte sich mit allen Vieren um sich selbst, riß die Erde

       auf, machte, mit den Vorderpranken weit um sich langend, Sprünge nach allen Seiten, um mich zu finden,

       konnte mich aber nicht erwischen, da ich zu meinem Glücke gut getroffen hatte. Vielleicht hätte ihm der

       Geruch als Führer zu ihm [mir] dienen können; aber er war rasend vor Wut, und dies verhinderte ihn,

       ruhig seinen Sinnen, seinem Instinkt zu folgen.

       [Illustration Nr. 6: Ein Grizzly bäumt sich auf]

       Endlich richtete er seine Aufmerksamkeit mehr auf seine Verletzungen als auf denjenigen, dem er sie zu

       verdanken hatte. Er setzte sich nieder, richtete sich in dieser Stellung auf und fuhr sich schnaubend und

       zähnefletschend mit den Vordertatzen über die Augen. Schnell stand ich neben ihm, holte aus und stieß

       ihm das Messer zweimal zwischen die Rippen. Er griff augenblicklich nach mir, aber ich war schon

       wieder fort. Ich hatte das Herz nicht getroffen, und das Suchen nach mir begann mit erneuter und

       verdoppelter Wut. Dies dauerte wohl zehn Minuten lang. Er verlor dabei viel Blut und wurde sichtlich

       matt. Dann setzte er sich wieder aufrecht hin, um sich nach den Augen zu langen. Dies gab mir

       Gelegenheit zu zwei weiteren, schnell aufeinander folgenden Messerstößen, und diesmal traf ich besser;

       er sank, während ich rasch wieder zur Seite gesprungen war, vorn nieder, lief taumelnd und fauchend

       einige Schritte vorwärts, dann zur Seite und wieder zurück, wollte sich abermals aufrichten, hatte aber

       nicht die Kraft dazu, sondern fiel hin und kollerte im vergeblichen Bemühen, auf die Beine zu kommen,

       einige Male hin und her, bis er sich lang ausstreckte und dann ruhig liegen blieb.

       »Gott sei Dank!« schrie Rattler von seinem Baume herab. »Die Bestie ist tot. Das war eine schreckliche

       Gefahr, in der wir uns befanden.«

       »Wüßte nicht, worin das Schreckliche für Euch liegen sollte,« antwortete ich. »Ihr hattet ja sehr gut für

       Eure Sicherheit gesorgt. Jetzt könnt Ihr herunterkommen.«

       »Nein, nein, noch nicht. Untersucht vorher den Grizzly, ob er wirklich tot ist.«

       »Er ist tot.«

       »Das könnt Ihr nicht behaupten. Ihr habt gar keine Ahnung, welch ein zähes Leben so ein Vieh hat. Also

       untersucht ihn doch!«

       »Für Euch etwa? Wenn Ihr wissen wollt, ob er noch lebt, so untersucht ihn selbst; Ihr seid ja ein

       berühmter Westmann, während ich nur ein Greenhorn bin.«

       Ich wendete mich nun zu seinem Kameraden, welcher noch immer in der vorhin beschriebenen Lage an

       dem Baume hing. Er hatte zu heulen aufgehört, und bewegte sich nicht mehr. Sein Gesicht war verzerrt,

       und seine weit offenen Augen stierten verglast zu mir herab. Das Fleisch war ihm bis auf die Knochen

       von den Schenkeln gerissen,


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