Joseph Conrad - Seefahrer und Schriftsteller. Joseph Conrad

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wurden, sich nicht als Gefangene, sondern als geehrte Gäste fühlten.

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       alte Postkarte – aus Band 17 – Ernst Richter

      Diese Antipodenstädte, die damals noch nicht so groß waren wie heute, nahmen an der Schifffahrt, der stetigen Verbindung mit „zu Hause“, großen Anteil, und ihre Zunahme bestätigte ihnen das Gefühl der eigenen wachsenden Bedeutung. So wurden die Schiffe zum wesentlichen Bestandteil ihrer alltäglichen Interessen. Das war besonders in Sydney der Fall, wo man vom Herzen der schönen Stadt aus durch die Flucht der Hauptstraßen hinab auf die Wollklipper am Circular Quay schauen konnte – und das war kein mauerumstelltes Gefängnisdock, sondern der wesentlichste Teil einer der besten, schönsten, weitesten und sichersten Buchten unter der Sonne. Jetzt liegen große Liniendampfer auf den Plätzen, die immer der Seearistokratie vorbehalten waren – große, prächtige Schiffe, aber sie kommen heute an und sind in der nächsten Woche schon wieder fort; wohingegen zu meiner Zeit die mit schweren Spieren getakelten, scharflinigen Stückgut-, Auswanderer- und Passagierklipper monatelang zusammen liegen blieben, um ihre Wollladung zu erwarten. Ihren Namen widerfuhr die Ehre, in die Alltagssprache einzugehen. An Sonn- und Feiertagen kamen die Stadtleute in Scharen herab und waren auf Besichtigungen erpicht, und der einsame dienst­tuende Offizier tröstete sich damit, den Fremdenführer zu spielen – besonders gern reizenden Damen von Lebensart gegenüber, die einen gut entwickelten Sinn für den Spaß hatten, der beim Durchstöbern der Kabinen und Passagierräume des Schiffes herauskommen mochte. Das Geklimper mehr oder weniger verstimmter Klaviere drang aus den offenen Heckpforten, bis die Gaslaternen in den Straßen zu zwinkern begannen und des Schiffes Nachtwachmann, müde vom unzureichenden Tagesschlaf, seinen Dienst begann, die Flaggen herunterholte und eine brennende Laterne am Fallreep festmachte. Die Nacht schloss sich schnell über den schweigenden Schiffen, deren Mannschaften an Land waren. Oberhalb eines kurzen, steilen Anstieges in der Nähe der King's-Head-Wirtschaft, die hauptsächlich von den Köchen und Stewards der Schiffe besucht wurde, rief in regelmäßigen Zeitabständen die Stimme eines Mannes „Warme Würstchen!“ aus; dort, am Ende der George Street, befanden sich auch die billigen Speisehäuser (fünfzig Pfennig die Mahlzeit), die von Chinesen betrieben wurden (das von Sun-kum-on war gar Straßenhändler (ich möchte wohl wissen, ob er gestorben ist oder ein Vermögen zusammengebracht hat) stundenlang zugehört, während ich auf der Schanz der alten Duke of S... saß (er ist, der Arme, an der Küste von Neuseeland eines gewaltsamen Todes gestorben) und von der Eintönigkeit, Regelmäßigkeit und Plötzlichkeit des immer wiederkehrenden Rufes ganz gebannt und bestrickt war, bis ich mich schließlich über diese alberne Betörung dermaßen ärgerte, dass ich wünschte, der Kerl sollte an einem Bissen seiner elenden Ware ersticken.

      Meine Kameraden waren der Ansicht, das Amt des Nachtwachmanns eines gefangenen (wenngleich geehrten) Schiffes wäre zum Trübsinnigwerden langweilig und passte nur für alte Männer. Gewöhnlich wird denn auch der älteste Matrose der Mannschaft dazu bestimmt. Aber manchmal steht weder der älteste noch ein anderer einigermaßen verlässlicher und gesetzter Seemann zur Verfügung. Schiffsmannschaften hatten damals die Eigenheit, unversehens zusammenzuschmelzen. So widerfuhr es mir, wahrscheinlich wegen meiner Jugend, Unschuld und Nachdenklichkeit (die mich zuweilen etwas langsam machte, wenn ich in der Takelage zu tun hatte), dass ich plötzlich durch Mr. B..., unseren Obersteuermann, auf seine bitterste, hämischste Art zu diesem beneidenswerten Dienst befohlen wurde. Ich bedaure diese Erfahrung nicht. Das nächtliche Leben der Stadt stieg in den stillen Nachtstunden von den Straßen hinab an das Wasser: Strolche kamen bandenweise herangestürmt, um irgendwelche Streitereien fern der Polizei durch einen regelrechten Boxkampf auszufechten – ein undeutlicher, durch aufgestapeltes Frachtgut halb versteckter Ring, das leise Knallen der Schläge, dann und wann ein Stöhnen, das Schleifen und Aufstampfen der Füße und der plötzliche Ruf „Zeit!“ über dem dunklen, erregten Gemurmel; nächtliche Plünderer, die verfolgten oder verfolgt wurden – ein halberstickter Schrei und darauf tiefe Stille, oder sie kamen verstohlen wie Geister längsseits geschlichen und machten mir unten vom Kai aus mit geheimnisvoller Stimme unverständliche Vorschläge. Auch die Droschkenkutscher, die zweimal wöchentlich an den Abenden, wenn der A. S. N.-Passagierdampfer fällig war, gegenüber dem Schiff ein Bataillon leuchtender Laternen aufziehen ließen, waren auf ihre Weise recht unterhaltsam. Sie kletterten von ihren Böcken herunter und erzählten einander in der urwüchsigsten Sprache zweideutige Geschichten, von denen jedes einzelne Wort klar und deutlich über die Verschanzung zu mir her drang, der rauchend auf der Großluke saß. Bei einer Gelegenheit erlebte ich eine höchst geistvolle Unterhaltung von über einer Stunde Dauer, und zwar mit einer Person, die ich nicht deutlich erkennen konnte, einem Gentleman aus England, wie er mit kultivierter Stimme sagte; ich stand an Deck, und er saß auf einer Klavierkiste (die wir gerade am Nachmittag aus unserem Laderaum an den Kai gegeben hatten) und rauchte eine Zigarre, die sehr gut roch. Wir berührten in unserem Gespräch die Physik, Politik, die Naturwissenschaften und Opernsänger. Dann, nachdem er etwas unvermittelt bemerkt hatte: „Sie scheinen ganz intelligent zu sein, lieber Mann“, teilte er mir geradeheraus mit, sein Name wäre Mr. Senior, und ging weg – in sein Hotel, vermute ich. Schatten, Schatten! Ich meine einen weißen Backenbart gesehen zu haben, als er sich unter der Laterne umwandte. Es gibt mir einen innerlichen Stoß, wenn ich daran denke, dass er nach dem natürlichen Lauf der Dinge nun wohl schon tot sein muss. Gegen seine Intelligenz war nichts einzuwenden, außer einem kleinen bisschen Dogmatismus vielleicht. Und sein Name war Senior! Mr. Senior!

      Die Stellung hatte aber auch ihre Nachteile. Als ich in einer winterlichen, stürmischen, finsteren Julinacht schläfrig in der Ecke beim Heckaufbau stand, um vorm Regen geschützt zu sein, kam etwas übers Fallreep gestürzt, das Ähnlichkeit mit einem Strauß hatte. Ich sage Strauß, weil das Geschöpf, obwohl es auf zwei Beinen lief, seiner Vorwärtsbewegung durch ein Paar kurze, schlagende Flügel nachzuhelfen schien; es war jedoch ein Mann, und er sah nur durch seinen Rock, der hinten aufgeschlitzt war und in zwei Hälften um seine Schultern flatterte, so geisterhaft und vogelartig aus. Ich vermute jedenfalls, dass es sein Rock war, denn es war unmöglich, ihn genau auszumachen. Wie er es fertigbrachte, schnell und ohne auf dem fremden Deck zu stolpern spornstreichs zu mir herzu­kommen, ist mir ein Rätsel. Er musste im Dunkeln besser sehen können als eine Katze. Während er noch keuchte, überstürzte er mich mit der flehentlichen Bitte, ihn bis zum nächsten Morgen in unserem Logis unterkommen zu lassen. Ich schlug seine Bitte meinen strengen Vorschriften gemäß ab, zuerst ruhig und dann, als er mit wachsender Frechheit darauf bestand, in strengerem Tone.

      „Um Gottes willen, lassen Sie mich rein, Stüermann! Es sind welche hinter mir her – ich hab ’ne Uhr geschnappt.“

      „Sie gehen hier runter“, sagte ich.

      „Ha’m Se doch’n bisschen Mitleid mit’n armen Kerl, Meister“, jammerte er kläglich.

      „Los jetzt, sofort an Land! Hören Sie nicht?“

      Schweigen. Er schien sich stumm zu winden, als wären ihm vor Kummer alle Worte abhanden gekommen; dann – peng! gab es eine Erschütterung und einen großen Lichtblitz, in dem er verschwand, und ich lag platt auf dem Rücken und hatte das fürchterlichste blaue Auge, an das man bei treuer Erfüllung seiner Pflicht geraten kann. Schatten, Schatten! Ich hoffe, er ist den Feinden entkommen, vor denen er floh, und lebt und gedeiht bis auf den heutigen Tag. Aber er hatte eine ungewöhnlich harte Faust und konnte im Dunkeln wunderbar genau zielen.

      Ich machte auch noch andere Erfahrungen, die meisten waren weniger schmerzhaft und spaßiger, eines zeitigte geradezu dramatische Verwicklungen, aber die wichtigste Erfahrung von allen war Mr. B..., unser Obersteuermann selbst.

      Er ging jeden Abend an Land, um in der Gaststube irgendeines Hotels mit seinem Busenfreunde, dem Obersteuermann der Bark „CICERO“, die an der anderen Seite des Circular Quay lag, zusammenzukommen. Spät in der Nacht hörte ich dann von weitem ihre lauten Stimmen in endloser Diskussion und ihre stolpernden Schritte. Der Obersteuermann der CICERO gab seinem Freunde bis zum Schiff das Geleit. Sie setzten am Landende unseres Fallreeps ihren sinnlosen und verworrenen Disput ungefähr eine halbe Stunde im Tone engster Freundschaft fort, und dann hörte ich, wie Mr. B... darauf bestand, den anderen an Bord seines Schiffes zu begleiten.


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