Strich. Daniel Wächter

Strich - Daniel Wächter


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Und vor fünf Jahren lebte sie noch in ihrer Altbauwohnung in Chur.

      „Sie hat es beim Wechsel zu Albers überarbeiten lassen.“

      Meyer schüttelte den Kopf. Er konnte es kaum glauben.

      Eine Viertelstunde und eine eher rasante Autofahrt über Berg später überquerte der VW Golf der Krankenschwester die nur noch auf dem Papier bestehende Grenze zwischen Kreuzlingen und Konstanz. Nur ein einziges Mal hatte die Schwester während der Fahrt ein Wort gesagt. Als sie bei Kehlhof am Bahnübergang vor den heruntergelassenen Schranken gewartet hatten, hatte sie ihn abermals getadelt.

      „Sie hätten wirklich mehr vorbeikommen sollen!“, hatte sie gesagt, „Seraina war sehr einsam. Sie waren der einzige, der sie noch hatte. Und Sie haben sie im Stich gelassen!“

      Meyer hatte daraufhin nichts gesagt. Dieses Moralapostelgetue ging ihm sowieso langsam auf die Nerven.

      Unmittelbar nach der Grenze steuerte die Schwester den Wagen in das Parkhaus eines grossen Einkaufszentrums.

      Meyer und die Schwester hatten das Einkaufszentrum verlassen und kämpften regelrecht gegen den Strom aus Menschen, die ihren Weihnachtseinkäufen nachgingen, ankämpfen. Aufgrund des tiefen Euros und des starken Schweizer Frankens entschieden sich viele Schweizer, insbesondere aus den Grenzregionen, für den Einkauf auf der anderen Seite der Grenze. Tatsächlich sprachen die meisten, die ihnen mit schwer beladenen Einkaufstüten entgegenkamen, Schweizerdeutsch.

      Sie gingen am Bahnhof entlang und bogen danach in die Marktstätte ein, wo auf der gesamten Fussgängerzone der Weihnachtsmarkt abgehalten wurde. An Ruhe war hier kaum mehr zu denken.

      Meyer konnte nicht verstehen, wie man an diesem Ramsch, der an solchen Märkten verhökert wird, auch nur einen Ansatz von Freude haben kann.

      Die Schwester steuerte durch die Mengen und Meyer folgte ihr. Sie bog links zwischen Volksbank und dem Müller-Drogereimarkt in eine namenlose, dunkle Seitengasse ab und öffnete die Tür zu einem der alten, jedoch sanierten Häuser der Konstanzer Altstadt. Eine Messingtafel am Eingang informierte den Besucher, dass sich Albers’ Kanzlei im dritten Stock befand.

      „Herein!“, rief eine gutgelaunte Männerstimme, als Meyer im dritten Stock geklopft hatte. Der Kommissar drückte die Klinke hinunter und stand nun mitten in einem Büroraum. Hinter einem riesigen Buchenholzschreibtisch sass ein rundlicher Mann mit Stirnglatze auf einem Lehnsessel. Er sprang auf, um seinen Besuch in Empfang zu nehmen.

      „Ich bin Frank Albers!“, stellte er sich vor. „Und Sie sind Herr Meyer!“ Er grinste.

      Meyer nickte.

      „Mein Beileid zum Tode ihrer Mutter. Ich hatte immer sehr grosse Freude, mit Sereina zu arbeiten!“

      Dann erblickte er die Schwester.

      „Ah, Sie sind Frau Schenk!“ Zum ersten Mal erfuhr Meyer den Namen der Schwester. Er biss auf seine Zähne. Diese eingebildete Tante hatte sich wohl für was Besseres gehalten und darauf verzichtet, sich ihm vorzustellen! Er sandte ein Stossgebet zum Himmel und hoffte inständig, dass diese Schenk keinen einzigen Rappen zu Gesicht bekam.

      „Setzen Sie sich!“, sagte Albers und wies auf eine leer stehende Stuhlreihe am Schreibtisch. Meyer legte seinen Mantel ab und umhüllte damit die Stuhllehne. Alle drei setzten sich.

      Mit einem lauten Klatschen warf Albers eine dicke Mappe auf den Tisch. Sie war in säuberlichen Druckbuchstaben mit Sereina Meyer als Titel versehen. Er klappte sie auf und legte ein mit wenigen Zeilen beschriebenes A4-Blatt auf den Tisch. Meyer sah, dass das A4-Blatt am unteren Ende zwei Unterschriften trug. Er erkannte die kühn geschwungene Signatur seiner Mutter. Die andere gehörte wohl zu Albers, obwohl das Gekritzel überhaupt nicht entzifferbar war.

      „Jetzt werden wir mal sehen, wer die ganze Kohle bekommt!“, grinste Albers und liess ein gackerndes Lachen folgen. Meyer verzog keine Miene. Er wusste erst seit wenigen Stunden vom Tode seiner Mutter und dieser Vollidiot hatte nichts Besseres zu tun als unlustige Witzchen zu reissen.

      Aber überraschenderweise verspürte Meyer nicht den Impuls zu weinen. Er war traurig, sogar sehr traurig. Die Trauer lastete über ihm wie ein schwerer Gegenstand, der ihn zu zerdrücken drohte.

      Als Albers merkte, dass nur die Krankenschwesterm, wenn auch offensichtlich gekünstelt, lachte und Meyer ungerührt dasass, setzte er sich eine Lesebrille auf.

      „Ich lese nun das Testament von Frau Sereina Meyer vor!“, sagte er und blickte auf.

      Dann begann er zu lesen.

      „Ich vermache all mein Vermögen und dasjenige meines vor zwanzig Jahren verstorbenen Ehemannes an das Alters- und Pflegeheim Schloss Eppishausen in Erlen!“

      Meyer traute seinen Ohren nicht.

      „Und jetzt noch was für meinen Sohn Gian: Du hast zwei riesige Fehler in deinem Leben gemacht: Du hast diesem bezaubernde Mädchen Gertrud die Hölle heiss gemacht. Kein Wunder, hat sie dich sitzen gelassen. Und du hättest mich mehr besuchen müssen. Ich merke, wie mein Geist mich verlässt, aber ich hätte dich gern noch einmal so gesehen, wie du wirklich bist. Aber ich bin kein Unmensch, natürlich gehst du nicht leer aus. Ich habe dir meinen alten Besen hinterlassen, die Schwestern in Eppishausen werden dir ihn sicherlich übergeben!“

      Meyer war sprachlos. Er warf einen Seitenblick zur Schenk, die ihn triumphierend angrinste. Er verspürte einen gewissen Drang, die Krankenschwester zu ermorden.

      Er schaute Albers an.

      „Ist das alles?“

      Statt einer Antwort drehte Albers das Testament und übergab es Meyer. Der las die Zeilen immer und immer wieder durch. Tatsächlich. Ihm blieb nur der Besen übrig. War ja klar! Seit Curdins Tod war er einen Scheissdreck mehr wert gewesen!

      Er nickte. „Ist okay!“

      „Akzeptieren Sie ihr Erbe?“, fragte Albers. Meyer hoffte, dass diesem Trottel die Ironie seiner Frage bewusst wurde.

      Meyer und Schenk nickten.

      Der Kommissar stand auf und nahm den Mantel von der Stuhllehne.

      „Ich gehe jetzt!“, sagte er.

      Schenk schaute zu ihm hoch. „Soll ich Sie mitnehmen?“ Sie liess wieder ihr Lachen aufblitzen. „Dann könnte ich Ihnen gleich den Besen mitgeben!“

      „Nein danke. Ich fahre mit dem Zug!“, brummelte Meyer und funkelte sie wütend an. Dann stand er auf und verliess das Alberssche Büro. Er pfiff auf das Erbe seiner Mutter.

      Eine knappe halbe Stunde später stieg Meyer am Gleis 4 im Bahnhof Weinfelden aus dem Regionalzug der Thurbo. Der Anschlusszug nach Zürich HB am benachbarten Gleis war auf den Zugzielanzeigern bereits angekündigt.

      Er verfluchte seine Mutter für ihr Testament aber noch mehr sich selbst. Seine raren Besuche hatte er immer wieder aufgeschoben, bis sie unausweichlich waren. Er besuchte sie nur noch maximal einmal pro Monat. Aber er war wütend. Seine Mutter war demenzkrank und hatte ihn immer mit seinem Bruder verwechselt – klar war er für sie nicht erschienen. Er überlegte sich sogar, dass die Angestellten des Alters- und Pflegeheimes auf die Formulierungen eingewirkt haben, doch er verwarf den Gedanken gleich wieder. Verschwörungstheorien waren nicht sein Ding.

      Er spürte einen fahlen Geschmack im Mund. Er wollte ausspucken.

      Der Kommissar trat auf die Bahnsteigkante, als ihn plötzlich ein leichter Schwindel überfiel. Er sah seine Mutter vor sich, wie sie auf ihn zukam. Sie war ganz nah bei ihm und streckte die Hände nach ihm aus.

      „Gian! Endlich erkenne ich dich wieder! Mir geht es viel besser! Hast du das mit dem Testament erfahren?!“ Sie schien zu lachen, wie sie es immer getan hatte. Beim Stricken, beim Fernsehen, bei Gians erstem Schultag…

      Er wollte antworten, doch er brachte kein Wort heraus. Als er ihre Umarmung erwidern wollte, fühlte er sich, als wäre er mit einer Hundeleine an einen Pfahl angebunden und er konnte sich ihr nicht nähern und in die Arme schliessen.

      Meyer


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