Strich. Daniel Wächter
Ameisen’, dachte Meyer. Der Stadtpolizist stellte sich vor die sechs hin und wies mit der rechten Hand um die Ecke.
„Da drüben! Kommen Sie“, sagte er und hastete mit steifen Schritten los. Als sein Hintern eine grossflächige Umlaufbahn um die Hüfte antrat, machte einer der Kantonspolizisten eine schwulentypische Bewegung und erntete Gelächter von den anderen. Der Stadtpolizist drehte sich abrupt um.
„Ist irgendwas, meine Herren?“
Meyer schaute diskret in einen Laden, Steiner schüttelte den Kopf. „Wo ist Frau Petrova?“, fragte er.
Der Stadtpolizist ignorierte die Frage und hastete weiter die Entführung entlang. Am Mittelpunkt der Unterführung, wo am Nordende der S-Bahnhof Museumstrasse erreicht werden kann und auch Treppen, Rolltreppen und Aufzüge zur Haupthalle führten, blieb er stehen. Er wies in Richtung einer Baustelle,
Wenig später sahen sie, warum Petrova schwieg. Drei weitere Stadtpolizisten standen hinter der Baustellenabsperrung im Kreis und blickten auf den Boden; auf dem lag der Körper einer Frau. Ihr Gesicht war zweifelsfrei dasselbe, wie auf Calvaros Foto. Ihr Körper war mit derselben Schnittwunde gezeichnet, wie die Toten im Wohnwagen oder in der Wohnung an der Zwinglistrasse. Auch Maria Petrova war als Lebendige eine sehr schöne Frau gewesen, selbst als Leiche hatte sie sehr viel Ausstrahlungskraft. Ihr Gesicht hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit demjenigen der Toten im Wohnwagen, jedoch war es sehr dunkel – wie braun gebrannt. Was Petrovas Gesicht jedoch markant gemacht hatte, war, dass oberhalb ihrer Oberlippe ein mittelgrosser Leberfleck prangte. Durch diesen Umstand schien ihr restliches Gesicht noch makelloser als das der anderen Toten. Jedoch hatte Petrova offensichtlich ihre natürlich-dunkelbraunen Haare blond gefärbt. Sie trug ein weisses Oberteil, sowie einen knappen schwarzen Rock, jedoch trug sie nur einen Schuh.
„Ach du Scheisse!“, knurrte Steiner. Auf der Stirn prangte ein ‚I’. „Sieht so aus, als nummeriere der seine Toten!“
Meyer griff zum Funkgerät und beorderte Verstärkung, die Spurensicherung und den Leichenwagen an den Fundort. Die vier Kantons- und die drei Stadtpolizisten wies er zum grossräumigen Absperren des Fundortes an.
„Wir müssen das Shopville wieder öffnen können und trotzdem ungestört unsere Arbeit verrichten!“, hatte er seinen Entscheid begründet.
Dieses Absperren hatte, mitten in der Hauptverkehrszeit, einige Zeit beansprucht, da die Sperren im Erdgeschoss sofort geöffnet wurde, bevor die Absperrung eingerichtet werden konnte. Sogar Meyer half mit, um die grossen Menschenströme sinnvoll umzuleiten, so dass keine Gefahr für eine Massenpanik bestand.
„Was haben Sie herausgefunden?“, fragte Meyer eine Stunde später Dr. Furrer. In der Zwischenzeit waren er und die Spurensicherung samt Leichenwagen und Bestatter aufgekreuzt und haben ihre Arbeit verrichtet, während Meyer und Steiner im „Burger King“ in der Haupthalle ihr verspätetes Frühstück eingenommen haben.
„Der Todeszeitpunkt liegt zwei Tage zurück. Details kann ich erst nach einer eingehenden Untersuchung im Labor sagen.“
„Also definitiv war der Todeszeitpunkt dieser Frau hier vor demjenigen der Leiche am Sihlquai?“
„Mit ziemlicher Sicherheit, ja.“
Meyer drehte sich um und wandte sich an einen nebenstehenden Bauarbeiter. Er wurde ihm als derjenige vorgestellt, welcher die Leiche entdeckt hatte.
„Wann haben Sie die Leiche gefunden?“
„Vor rund einer halben Stunde. Ich habe danach sofort die Polizei informiert“
„Haben Sie sie das erste Mal gesehen?“
Der Arbeiter nickte. „Dieser Teil ist sonst komplett für die Baustelle abgeriegelt. Ich habe heute nur den üblichen Kontrollgang absolviert.“
„Wie oft wird denn dieser Kontrollgang gemacht?“
„Einmal pro Woche. Er dient der Sicherheit. Es wird geprüft, ob eine Einsturzgefahr des Shopville besteht. Wissen Sie, seit dieser Geschichte mit dem Bahnhofplatz sind wir sehr vorsichtig.“
Meyer nickte. Er konnte sich noch deutlich dran erinnern.
Unter den Geleisen 4 bis 9 der Haupthalle wird bis 2014 ein unterirdischer Bahnhof fertig gestellt, nebst den jeweils 1990 eröffneten Tiefbahnhöfen der SZU und der S-Bahn bereits der dritte am HB. Der Bahnhof ist Bestandteil einer vorwiegend unterirdischen Durchmesserlinie nach Oerlikon, welche westwärts gen Altstetten in einer zweiten Etappe in Form von zwei Brücken ihre Fortsetzung finden wird. Dem nach der rechtwinklig zu ihm verlaufenden Löwenstrasse benannten Bahnhof folgt der Weinbergtunnel, welcher unmittelbar vor dem Bahnhof Oerlikon die Bahnlinie an die Erdoberfläche ausspuckt. Die Linie soll den Aufenthalt für Fernverkehrszüge in West-Ost bzw. Nord-Süd-Richtung erheblich reduzieren und die Engpässe im S-Bahn-Verkehr beseitigen. Im Frühjahr 2009 war unter dem Zürcher Bahnhofplatz eine der Tunnelbohrmaschinen auf Widerstand gestossen, woraufhin eine grosse Instabilität des Erdbodens entstand. Als Sicherheitsmassnahme musste der gesamte Bahnhofplatz samt Tramhaltestelle wegen Einsturzgefahr abgeriegelt werden.
Meyer wandte sich wieder an Furrer:
„Wie lange war die Leiche hier gelegen?“
„Ich würde sagen, mindestens 24 Stunden!“, antwortete Dr. Furrer. Diese Nachricht fror Meyer. Er war vor etwas mehr als 12 Stunden hier entlanggelaufen, als er von Pfäffikon kam. Knapp zwei Meter von ihm entfernt war eine tote Frau gelegen, ohne dass es jemand bemerkt hatte.
„Wenn Sie fertig sind, machen Sie mir ein paar Abzüge der Fotos der Toten“
Dr. Furrer salutierte grinsend: „Aye, aye, Käpt’n!“
„Übrigens, was ist mit der Leiche im Wohnwagen. Haben Sie etwas Neues herausgefunden?“
Dr. Furrer schüttelte den Kopf. „Wie ich es Ihnen gesagt habe, Kommissar Meyer. Der Dolchstoss in die Bauchgegend hatte Leber und Milz zerfetzt und auch die Todesursache. Ich bin mir sicher, dass es einen Zusammenhang zwischen der Toten im Wohnwagen, dem Opfer ans der Zwinglistrasse und der Leiche hier gibt. Nicht nur wegen den Schnittwunden. Sie alle drei wurden auch auf ein und dieselbe Art ermordet!“
Kapitel 6
14. Dezember, 09:58
Meyer und Steiner klopften eine halbe Stunde später an einer Wohnungstür in einem schäbigen Block aus den Sechzigerjahren an der Röntgenstrasse westlich des Hauptbahnhofes. Die Tür öffnete sich. Jedoch nur, weil sie angelehnt war. Auf leisen Sohlen betraten Meyer und Steiner die Wohnung.
Die beiden warfen einen Blick ins Wohnzimmer. Die Sitzmöbel – eine Couch und ein Sessel – waren mit schwarzem Samt überzogen. An der Wand hing ein grosser Plasmafernseher. Auf dem dunkelgrauen Marmortisch, auf der Couch und auf dem Boden lagen diverse Magazine – einige geöffnet, einige zugeklappt mit dem Cover nach oben. Es handelte sich allesamt um Pornomagazine. Nackte Frauen, ihre Brüste umklammert, hatten sinnlich mit halboffenem Mund in die Kamera geschaut, als sie abgelichtet wurden. Ebenfalls lagen haufenweise DVD’s herum. Die leeren DVD-Hüllen verrieten, dass die Scheiben ebenfalls solches Material enthielten.
Der Besitzer verfügte über eine ansehnliche Sammlung von Kuckucksuhren. Als die Turmuhr der nahen St. Josefs-Kirche zehn Uhr schlug, öffneten sich mit Ausnahme einer Uhr die Türchen und die Kuckucke wurden auf einer Rollschiene nach aussen befördert. Meyer wandte sich der offensichtlich hinten nach hinkenden Uhr zu und beugte sich zu ihr herunter, um auf Augenhöhe mit der Tür zu sein. Als diese ebenfalls zehn Uhr schlug, öffnete sich die Tür und ein Boxhandschuh schlug ohne Vorwarnung dem ebenso überraschten wie verdutzen Meyer ins Gesicht. Der Kommissar, dessen Reflexe versagten, taumelte. Steiner fing ihn auf, bevor er rückwärts in den Flachbildfernseher gestolpert wäre.
„Guter Trick!“, murrte Meyer, als er wieder Herr der Lage hatte.
„Sieh mal“, rief Steiner. Meyer drehte sich um, und sah, wie Steiner ein kleines Päckchen in der Hand hielt. Es ähnelte einer