Strich. Daniel Wächter
Um den Auftrag abzuschliessen, musste er nur noch ein Telefonat an R’s Büro in Moskau führen. Obwohl die Nummer samt der internationalen russischen Vorwahl ziemlich lang war, kannte sie Menevoie in- und auswendig. Er ging auf schnellstem Wege zu einer der Telefonzellen und legte den Hörer auf die Schulter, während er die Nummer tippte.
Doch das schlechte Gewissen nagte an ihm. Wie viele Frauen hatte er entwürdigt? Wie viele hatte er, die er nicht als würdig empfunden hatte, ihren Sinnen beraubt und unter Drogeneinfluss in den Canal St-Martin gestossen? Er wusste es nicht. Schon vor Jahren, als er noch beim Ministerium angestellt war, hatte er mit dem Zählen aufgehört.
Noch bevor er die letzte Ziffer gewählt hatte, warf Menevoie den Hörer auf die Gabel und stürmte aus der Telefonzelle in die mit Weihnachtsbäumchen und Lichterketten fast zu festlich geschmückte Einkaufspassage.
Als er unterhalb des Nobelrestaurants Le Salon Bleu stand und die mit gepfefferten Preisen gesäumte Speisekarte studierte, traf er eine Entscheidung.
Meyer und Steiner waren nach dem Verlassen von Calvaros Wohnung nach einem kurzen Abstecher zu einer Döner-Bude an die Kasernenstrasse zurückgefahren. Während der Autofahrt – Steiner hatte am Steuer gesessen – hatte Meyer einen Blick auf die Seite aus Calvaros Buch geworfen. Er hatte sich mit einer Liste beschäftigt und die einzelnen Punkte gezählt. Die Liste bestand aus Namen.
„Meine Güte“, seufzte Meyer, als sie auf den Eingang des Polizeigebäudes an der Kasernenstrasse zugingen, „die hatte nur 15 Freier – die dafür mehrmals ran durften!“
„Hab gar nicht gewusst, dass Nutten wählerisch sind“, bemerkte Steiner trocken.
„Sieht jetzt so aus. Rate mal, wer drauf ist?“
„Keine Ahnung!“ Steiner zuckte mit den Schultern. „Sicher irgendwelche Promis, die sonst wohlbehütet mit ihren Frauen auf Cüplipartys gehen!“
„Nicht nur! Auch solche, die einen Freund haben!“
„Was?“
Stumm hielt Meyer seinem jungen Kollegen das Papier vor die Nase. Mit dem rechteh Zeigefinger unterstrich er einen Namen: FRANZ GUTZWILER
„Gerade der, der mit erzkonservativen Ansichten gegen Homosexuelle und Prostitution vorgeht, tritt selber in dieser Szene auf!“, knurrte der Kommissar.
„Jetzt haben wir eine Verbindung zwischen zweien der Opfer!“, johlte Steiner.
„Aber das sagt uns nichts über das Motiv aus. Und schon gar nicht, wer die Unbekannte ist!“
„Was machen wir jetzt?“, fragte Steiner nach einigem Schweigen.
„Erstmals finden wir was über Petrova heraus. Vielleicht kann jemand aus ihrem Umfeld sagen, wer die unbekannte Tote ist“
„Und dann?“
„Dann werden wir mal eine Befragung dieser Freier hier durchnehmen. Vielleicht finden wir ja jemand, der keinen Aufpreis mehr zahlen wollte, oder so“
„Okay. Übrigens, Gian! Dein Auge wird langsam blau!“
„Na und?“, entgegnete Meyer cool. „Ich bin ja auch oft blau!“
Steiner schüttelte nur den Kopf.
Am Empfang händigte Meyer Fräulein Roggenmoser die Liste mit den Freiern aus.
„Alles klar, Herr Kommissar?“ Der Running-Gag begann langsam wirklich zu nerven!
„Ja!“ Dann halt gute Miene zum bösen Spiel.
„Was haben Sie für ein blaues Auge, Herr Kommissar? Haben Sie sich eine Schlägerei geliefert?“
„Er ist von einer Kuckucksuhr ausgeknockt worden!“, prustete Steiner dazwischen, worauf er von Meyer zur Seite gestossen wurde.
„Sorgen Sie dafür, dass alle diese Leute auf der Liste hier aufkreuzen. Wenn sie sich weigern, dann veranlassen Sie das Holen mit Polizeigewalt!“, sagte Meyer ernst.
„Ist mir ein Vergnügen, Herr Kommissar!“
Schnurstracks eilte er Steiner nach, welcher bereits den Knopf für den Aufzug am Ende des Flurs gedrückt hatte.
In der Aufzugskabine schauten sie sich an.
„Und? Wer war’s deiner Meinung nach?“, wollte Meyer wissen.
Steiner zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Calvaro ist ja der einzige, den wir kennen!“
„Aber er ist unser Hauptverdächtiger!“
„Wieso?“
„Er ist das Bindeglied zwischen den Toten!“
„Gutzwiler ja auch!“
„Dann finden wir ihn!“
„Er steht als hochrangiger Politiker unter Amnestie, schon vergessen?“
Meyer und Steiner entstiegen dem Aufzug im dritten Stock und betraten ein Grossraumbüro. Am Eingang griff sich Meyer ein Klemmbrett, welches in einem Halter an der Wand gelegen war. Der Raum bestand aus zehn schachbrettartig angelegten Würfeln, wovon jeder Würfel mit Trennwänden geviertelt wurde, so dass vierzig identische Arbeitsplätze mit Computerausrüstung zur Verfügung standen. Die beiden Beamten gingen durch die Reihen. Rund ein Drittel der Arbeitsplätze war besetzt. Dieses Büro war für diejenigen Kriminalbeamten reserviert, welche vorwiegend im Aussendienst arbeiteten und nur für das Verfassen eines Berichtes Computer benutzen müssen.
Sie traten auf einen Beamten zu, welcher krampfhaft handgeschriebene Notizen digitalisierte.
„Guten Morgen!“
Der Beamte fuhr erschrocken herum. Als er Meyer und Steiner erblickte, wischte er sich verlegen eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Guten Morgen, Kommissar Meyer und Kommissar Steiner!“
„Also Kommissar bin ich noch nicht!“, grinste Steiner.
„Also, Herr…“Meyer warf einen Blick auf das Klemmbrett, „…Ammann. Wir haben was für Sie.“
„Aber ich muss zuerst meinen Bericht fertig schreiben!“
„Das kann warten!“ Meyer klebte einen gelben Post-it-Zettel auf Ammanns Tastatur. Auf dem Zettel prangten die Buchstaben ‚MARIA PETROVA’
„Finden Sie alles über diese Frau heraus. Sollte im Nuttenregister vermerkt sein“
Der Begriff ‚Nuttenregister’ stand in der polizeilichen Umgangssprache für eine Datenbank, in der alle legal amtierenden Prostituierten der Stadt Zürich und des nahen Umlandes – Gemeinden wie Schlieren, Wallisellen oder Uitikon – registriert sind. Die Nuttenregistrierung war, genauso wie die von Calvaro erwähnte Buchführung über Freier, ein wichtiges Element zur Sicherung der Prostituiertenrechte. Wenn ein Freier gewalttätig würde oder sonst unangenehm gegenüber der Prostituierten, so kann infolge der Buchführung der fragliche sofort ermittelt werden. Nebenbei kann die betroffene Prostituierte – sofern sie legal in der Schweiz ist – für mehrere Wochen in Schutzhaft gestellt werden, bis das Verfahren gegen den Freier abgeschlossen ist.
Erschöpft setzte sich Meyer auf seinen Schreibtischstuhl und fuhr herzhaft gähnend seinen Computer aus dem Standby hoch. Während er seinen Benutzernamen und das Kennwort eintippte, schweiften seine Gedanken zu den beiden toten Prostituierten. Er überlegte sich, wieso die beiden ausgerechnet diesen Weg eingeschlagen hatten. Zugegebenermassen, sie stammten aus Osteuropa und besagtes Klischee – dass Osteuropäerinnen im Westen vielfach auf den Strich gehen – ist nicht ganz an den Ohren herbeigezogen.
Plötzlich tauchte einer der beiden Prostituierten vor ihm auf, nur mit einem BH und einem Slip bekleidet. Die Haut war an jeder Körperstelle makellos; auf ihre Proportionen könnte manches Topmodel neidisch werden. Meyer glaubte, anhand des Gesichtes Maria Petrova erkennen zu können. Lautlos formte sie mit den Lippen das englische