Wie ich meinem Großvater die Angst vor dem Sterben nahm. Johannes Mario Ballweg

Wie ich meinem Großvater die Angst vor dem Sterben nahm - Johannes Mario Ballweg


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Heute bin ich um 10 AM aufgewacht. Die Tage sind ziemlich einsam und man beginnt über Dinge nachzudenken, worüber man sich nur Gedanken macht, wenn man zu viel Zeit hat. Overthinking; über Sachverhalte und Probleme nachdenken, die gar nicht vorhanden sind, welche aber daraus entstehen. Ich flacke seit Tagen in meiner blauweißen Hollywood-Schaukel herum, weiß nichts mit mir anzufangen. Ich habe es satt nur herumzusitzen, den Vögeln zu lauschen, ich will was erleben, doch das geht momentan nicht so einfach. Vor vier Wochen wurde ich an meinem Knie operiert, Patellaluxation und der Arzt meinte, ich solle mich nicht viel bewegen, ich dürfe das operierte Bein mit maximal 135 lbs belasten, ich müsse den Fuß hochlegen, er sei noch geschwollen. Ich trage eine Schiene, die maximal 60 Grad beugbar ist, sie stabilisiert mein Knie und alle Bänder. Also sitze ich eben in meiner Hollywoodschaukel und schlage die Zeit tot. „Und der heutige Nachmittagsmix im Acer Falls Rock Radio an diesem herrlichen Dienstagnachmittag, den 6. Juli 1999.“ Schichtweise laufen die gleichen Sender in meinem alten Funkradio, was ich von Großvater geschenkt bekommen habe. Nach dem mir das so auf den Nerv ging, schaltete ich es ab, holte meine Life-Miller-Gitarre aus meinem Zimmer und spielte ein paar Lieder vor mich hin. Mom und Dad sind weg, in Urlaub sagten sie, was mir gerade Recht war, denn ich hatte mit Mom mal wieder etwas Streit. Sie werden morgen Mittag wieder nach Hause kommen. Meine Grandma Beth ist nicht mehr unter uns hier unten, sie starb im Januar 1999 an einem kalten Wintertag an einem Schlaganfall. Niemand war damals zu Hause, keiner konnte ihr helfen und ich fand sie nach der Schule tot im Wintergarten auf. Die Beerdigung fand an meinem Geburtstag, dem 8. Januar statt, wann anders hatte ihr Lieblingspastor Mister Herb keine Zeit. Das war meine erste Begegnung mit dem eingetroffenen Tod einer Person, die ich kannte. Somit ist nur noch mein Großvater Alphonsus, oder wie ich ihn immer gern nannte „Alph“ da. Heute Morgen war er in der Stadt, er meinte, er hatte etwas für seine Gesundheit getan, weitere Details blieben aus. Wahrscheinlich war er wieder bei einer Sportstunde für Rentner im lokalen Fitnessstudio, denn das schwächt seine chronischen und sehr starken Kopfschmerzen, an denen er seit circa einem Jahr leidet, ab, so meint er es immer zu mir. Als er wieder zu Hause ankam, backte er Apfelkuchen für uns. Dieser war mittlerweile fertig und man konnte den Duft des leckeren Kuchens bis raus auf die Front Porch riechen. Er brachte zwei große Stücke Apfelkuchen mit raus, seine Hände zitterten, er öffnete sich ein Bier der Marke „Autumn 4.9“, schmiss sich eine Tablette der Größe eines Maikäfers ein, setzte sich neben mich auf die Hollywood-Schaukel und fragte mich, an was ich gerade denke während ich so vor mich auf der Gitarre dahinzupfe. Ich zögerte, denn wie sollte ich bitteschön einem 73 Jahre alten Mann erklären, was Overthinking ist? Ich überlegte kurz. Nüchtern antwortete ich: „Ich denke darüber nach, warum ich keine Angst vor dem Tod habe.“ Alph schaute mich auf einmal sehr fragend, teils verwirrt an, es schien für ihn nicht greifbar, dieser Gedanke. Seine Hände zitterten ein wenig. „Ich... Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, mein Bub. Aber ich für meinen Teil habe Angst vor dem Tod, vor dem Vergessen werden durch mein Wegtreten aus dem Leben. Weißt du, ich muss oft an deine Grandma denken, es ist zwar schon länger her, aber sie fehlt mir mit jedem Tag mehr. Bald werde ich sie wiedersehen.“ Ich verstand meinen Grandpa und nickte nur. Im ersten Moment war es komisch über das Thema Tod mit ihm zu reden also schwiegen wir, jedoch war die Stille auch unerträglich also redeten wir wieder über den Tod, denn dieser steht ihm ja nun mal eher bevor als mir. Aber irgendwie erlangten wir beide Gefallen an dem Gesprächsthema und Alph öffnete sich immer mehr mir gegenüber. Wir sprachen über Grandmas Tod, wie schnell und unerwartet und ungeladen damals der Tod eintraf und über die Angst, vergessen zu werden, weil man diese schöne Welt eines Tages verlassen muss. Auch bin ich der Überzeugung, dass ein jeder Mensch weiß, wann sein Ende bevorsteht. Er weiß das nicht schon sein ganzes Leben lang, nein, sondern vielleicht Stunden oder Tage vorher, das hatten wir nämlich auch in unserem Religionskurs besprochen. Als ich diese Ansicht Grandpa mitteilte, nickte dieser etwas getrotzt, wahrscheinlich beschäftigt er sich mit dem Thema sehr, vor allem jetzt, nach dem Grandma im Winter dieses Jahres von uns gegangen ist. Wir sprachen auch noch über die Geburt und die Taufe, welche ja im direkten Zusammenhang mit dem Tod stehen. Grandpa wurde immer gesprächiger und als ich fertig war, ihm davon zu erzählen, wie wichtig ich die Taufe bei Kindern empfinde, so dass diese, wenn ihnen leider etwas zustoßen sollte, in Gottes Reich kommen, so nahm er meine Hände in seine und meinte, es gäbe da etwas, was ich wissen sollte. Er konnte erst jetzt den Mut fassen, dies mir zu berichten, denn es hat mit Grandma zu tun. Ich war sehr aufgeregt, was wolle er denn mir berichten? Er holte tief Luft und begann zu erzählen: „Puh, also mein Bubi, es gibt da etwas, was du wissen solltest, da ist… ja, da gibt es ein Memories-Buch voller Erinnerungsfotos über dich. Grandma fing an, zu Beginn deines Kindesalters, Fotos von dir zu machen und diese sorgfältig mit einer kleinen Bildunterschrift, welche das Datum und eine kleine Beschreibung des Bildes beinhaltete, in ein altes kleines Din-A5 Buch einzukleben, auf dem stand: „Memories“. Seit Beths Tod wurde das Buch nicht weitergeführt und Mom verfrachtete es auf den Dachboden, wo es seitdem verstaubt. Deine Grandma bestand darauf, dass ich es erst anschauen dürfe, wenn sie nicht mehr auf dieser Welt sei.“ Er unterbrach seine Konversation über das Buch und sagte freundlich zu mir, dass er mir es zeigen müsse, ich würde dadurch besser verstehen, worum es hier geht. Es sollte nicht nur ein Buch voller alter Bilder sein, nein es erzählt ein Schicksal, eine Geschichte, die mir immer wieder hilft, Kraft zu schöpfen. Das wusste ich aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich bat ihn, mir meine Gehhilfen zu geben und wir liefen zusammen von der Front Porch durch das Wohnzimmer in den ersten Stock. Ich ging voraus, so dass, falls ich stolpern würde, Alph mich auffangen könne. Er war ein kräftiger, muskulöser und gläubiger Mann, ich vertraute ihm schon seit Klein auf. Er hat eine Halbglatze und mir kommt es vor, als verliere er immer mehr Haare, aber so ist das wohl im Alter. Von dort an führte eine schmale Treppe nach oben auf den Dachboden. Grandpa suchte im Sicherungskasten nach dem richtigen Schalter, so dass wir da oben uns auch zurechtfinden würden. Die Sicherung war drin, das Licht ging an und wir stiegen die staubigen Treppen auf den Dachboden nach oben. Ich wusste nicht sicher, wo das Memories-Buch zu finden war, also suchten wir beide danach. Klack! Auf einmal sprang die Sicherung heraus. „Herrschaftszeiten noch einmal“, schrie Alph „diese blöde Sicherung, jedes Mal springt sie heraus, Mo… Moment.“ „Moment?“ fragte ich. Ich konnte seinen Gedankenzügen nicht genau folgen, jedoch bemühte ich mich darum und schenkte ihm meine volle Aufmerksamkeit. Ich lief mit meinen Krücken rüber zu Grandpa, auf die Westseite des Dachbodens und er deutete mit dem Finger aus dem Fenster heraus auf die untergehende Sonne. „Die... die Sonne, siehst du es? Sie geht unter. Ist das nicht herrlich?“ Das Licht der Sonne spiegelte sich im Red-Lake an der Westseite des Hauses und beim Anblick in den See blendete es mich. Dieses Licht entfaltet jeden Abend, sei es im Winter, im Spring, im Sommer oder im Fall, alle Facetten dieses kleinen Guts. Er zog mich vom Fenster weg und zeigte ganz aufgeregt auf die alte Kiste hinter dem Schrank, auf der ein großes, staubiges Buch lag. Das Licht der untergehenden Sonne, welches durch das Fenster hineinschien, strahlte direkt auf das große staubige Buch. Wir haben es gefunden! Klick, klick, Zack! Die Sicherung war herausgesprungen, das Licht war aus, die ganze Dachbodengaube war düster und dunkel, bis auf eines, das Buch. Es wurde von den letzten Sonnenstrahlen angeschienen und das wirkte sehr mystisch mir gegenüber. Auch in Alph entfachte es ein Feuer, seine Augen funkelten vor Freude und Begeisterung, er sprang auf und rannte hastig zu dem Buch. Ich warf meine Gehhilfen zur Seite und humpelte ihm rasch hinterher. Wir setzten uns auf den Boden wie zwei kleine Kinder, die gerade etwas neues, ganz Spannendes entdeckt hatten und Grandpa entstaubte ganz schnell das Buch. Zwei Mal drüber geblasen, einmal mit der Hand den Staub von dem Bund des in etwa Din-A5 großen Buches weggewischt und man konnte in einer wunderschön verzierter Schrift die Buchstaben „ M E M O R I E S“ erkennen. Ich konnte es kaum erwarten, die erste Seite des Buches aufzuschlagen, aber Alph sagte: „Die Sonne geht bald unter, die Sicherung ist draußen, hier oben auf dem Dachboden werden wir heute nicht mehr alt, aber ich kenne da einen Ort, wo wir hingehen könnten.“ Ganz gespannt fragte ich, wo dieser Ort sei und ob ich diesen kenne. Grandpa gab Gedankenbruchteile von sich: „Palemo Forest“, „halbe Meile links“, „Camping Platz“, „Aaaaaaaaaaaacer, ja! Acer Creek, der Bachlauf.“ Er packte mich ganz fest mit seinen Händen an meinem Armen, „Der Acer Creek Bachlauf unterhalb des kleinsten der sechs Acer-Wasserfälle am ehemaligen Palemo Forrest Campingplatz links, kennst du das?” Ich antwortete ratlos: „Nein, tut mir leid, noch nie davon gehört. Ich dachte immer, es gäbe nur fünf Wasserfälle. Was ist da?“. Er
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