Wie ich meinem Großvater die Angst vor dem Sterben nahm. Johannes Mario Ballweg

Wie ich meinem Großvater die Angst vor dem Sterben nahm - Johannes Mario Ballweg


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selbst zu finden, die Stille zu genießen oder eben ein Buch voller Erinnerungen aufzuschlagen. Ich kannte die fünf Acer Falls in und auswendig, ich war während meiner High-School Zeit auf vielen Partys nahe der Wasserfälle und des Red-Lake Manor ist nun mal auch nicht allzu weit von den Acer Falls entfernt. Doch ich konnte mir nicht vorstellen, dass es einen sechsten Wasserfall gäbe, den nur sehr wenige kannten, mein Grandpa inbegriffen. Ich war sehr gespannt und lächelte Alph oft an. Ich schaute total begeistert aus dem Fenster, all die tollen Sterne am Nachthimmel leuchten nur für uns beide. Wir würden gleich über die Acer Falls Bridge fahren, unter der alle fünf Acer Falls Flussläufe in einander münden und zu einem großen Fluss zusammenschmelzen, der dann in den großen Lake Michigan mündet. Die Sicht war schlecht, es regnete immer stärker, etwa eine Viertel Meile vor uns schlug ein riesiger Blitz ein und das Wasser spritzte vor der Brücke nach oben. Auf einmal legte Alph eine Vollbremsung hin. Ich erschrak und der Sicherheitsgurt seines Mercedes presste sich gegen meine Brust. Mein Herz klopfte, was ist passiert? Viele Gedanken flogen mir durch den Kopf. War etwa ein Hirsch oder ein Reh über die Road gelaufen und Grandpa musste gezwungenermaßen bremsen? Die Zeit dehnte sich, mir kam auf einmal alles in Zeitlupe vor. Ich sah Alph an. Er hatte seine Augen und seinen Mund sperrangelweit geöffnet und schaute abwechselnd aus der Windschutzscheibe und auf mich. Als ich mit meinen Gedanken wieder zurück in der Realität, im Mercedes vor der Acer Falls Bridge war, fragte ich: „Aaalph, Grandpa… was, was ist los? Was ist passiert? Warum hast du eine Vollbremsung gemacht?“ Er sagte nichts und zeigte nur aus dem Fenster heraus auf die Brücke. Seine Hand zitterte sehr und seine Stimme stotterte: „Daa, ddddaa, siehst du das?“ Ich war schockiert und konnte es nicht fassen. Auf der Brücke stand eine junge Frau und es sah schwer danach aus, als hatte sie die Intention, herunter zu springen. Ich schaute Grandpa fragen an: „Was machen wir jetzt? Die Frau will springen. Und das bei diesem Unwetter.“ Alph sagte: Bleib du hinter mir, ich werde mit ihr reden. Es ist noch nichts verloren, wir könnten ein Menschenleben retten.“ Ich war damit einverstanden und folgte ihm sehr behutsam. Als wir aus dem Auto ausstiegen, von der Traufe in den Regen und zur Leitplanke der Brücke liefen, schrie die junge Frau: „Bleiben Sie weg! Wenn Sie näherkommen, dann… dann spring ich… dann ist alles vorbei.“ Grandpa sagte aus dem Affekt zur Frau: „Okay wir bleiben stehen, aber hören Sie mir wenigstens zu!

      Mein Name ist Alphonsus, Sie dürfen aber auch gerne Alph zu mir sagen und ich komme vom Red-Lake Manor, etwa zehn Meilen von hier entfernt. Das hinter mir ist mein Enkel. Wie ist Ihr Name?“ Die Frau schaute meinen Grandpa verwundert an und antwortete mit zitternder Stimme: „Ich… Ich heiße Elisabeth, kommen Sie mir nicht zu nahe!“ Grandpa rief ganz laut: „Elisabeth… Beth so hieß auch meine Frau, nur sie ist leider Anfang dieses Jahres verstorben. Warum stehen Sie auf der Brücke bei diesem Unwetter, warum wollen Sie springen?“ Die Frau sagte nichts. Alph ergänzte: „Bitte reden Sie mit mir, ich verstehe Sie und will ihnen helfen!“ Elisabeth zog ihren Mantel aus: „Sehen Sie das? Ich bin schwanger, aber ich bin zu jung für ein Kind. Meine Eltern lehnen mich ab. Ich sehe keinen Sinn mehr, das Leben fortzusetzen.“ Jetzt beobachtete ich, wie Grandpa eine Gesprächshaltung annahm, welche wir in Psychologie bei meinem Lieblingslehrer Mister Hague kennenlernten. Nur wusste ich nicht, woher er diese erlernt hatte, aber das wollte ich noch herausfinden. Er bemühte sich um das Aktive Zuhören und das tiefgehende Verstehenden des Problemträgers. Alph fragte: „Sie sind schwanger und können die Last mit der Geburt und Erziehung des Kindes nicht tragen, Sie fühlen sich überfordert und ihre Eltern geben Ihnen keinen Rückhalt?“ Die Frau nickte, ihre Angespanntheit über den ganzen Körper nahm ab und sie senkte ihre Bereitschaft zum Springen. „Ja ich weiß einfach nicht mehr weiter, niemand kann mir helfen, ich bin nutzlos.“ Grandpa agierte schnell und erwiderte: „Sie sehen also keinen anderen Ausweg, als den Tod, weil Sie sich hilflos, verloren und unbedeutend finden. Aber Sie haben doch noch ein ungeborenes Kind? Dieses wird niemals die Pracht unserer schönen Welt, unserer tollen Gegend hier in Acer Falls kennenlernen. Kinder sind unsere Zukunft und nur durch sie können wir uns zu besseren Menschen machen und von ihnen lernen. Ich möchte nicht, dass ein Mensch sein Leben so einfach wegwirft und obendrein noch einem anderen Lebewesen das Leben nimmt, bevor es überhaupt geboren wird. Vertrauen Sie mir, ich helfe Ihnen. Kommen Sie jetzt erst mal da weg, bitte! Da muss es doch ganz schön kalt und windig sein.“ Die Frau setzte den ersten Fuß auf den Boden, zog ihren Oberkörper über die Leitplanke und stand mit beiden Füßen wieder auf der inneren Seite der Brücke. Alph sagte, er bleibe wie ausgemacht auf seiner Position stehen und bat Elisabeth langsam zu ihm rüber zu kommen. Sie vertraute ihm, lief langsamen Schrittes und ganz ängstlich auf ihn zu. „Haben Sie vielleicht eine Decke? Ich friere und ich bin komplett durchnässt und ich will nicht, dass mein Kind auch friert.“ Ich war fasziniert, es schien so verblüffend, wie Grandpa die Frau umstimmte, nur, weil er einerseits ihre Sichtweise in eigenen Worten wiederholte, jedoch auch andererseits die Gefühlswahrnehmungen frei und offen interpretierte. Die Frau bedankte sich bei uns. Sie sagte zu mir, ich habe einen großartigen Grandpa und daraufhin bat sie Alph einen Krankenwagen zu rufen. Dies tat er sofort, er rannte zu seinem Auto und zog sein Mobiltelefon heraus, welches er so gut wie nie benutzt, aber immer bei sich trug. Hastig schaltete er es an: „Ahhhh der Akkumulator ist noch vollgeladen!“ Er freut sich und wählte 911 und erklärte uns nebenher, warum der Notruf der Vereinigten Staaten 911 ist. Psalm 91,1 besagt, dass der Mensch unter Gottes Schutz steht und unter dem Schatten des Allmächtigen kein Leid zu verspüren braucht. In meinen 13 Jahren Schullaufbahn hatte ich solch eine Erklärung noch nie gehört, jedoch klang diese sehr plausibel und ich strahlte über das ganze Gesicht und mir wurde innerlich sehr warm bei dem Gefühl daran, dass wir zwei Menschenleben gerettet haben. Ich öffnete den Kofferraum, um mich hineinzusetzen, Elisabeth platzierte sich neben mich. Ich zog mir auch eine Decke über, denn auch ich war sehr durchnässt. Sie zitterte von Kopf bis Fuß und ihr liefen Tränen an den Wangen herunter. Ich streckte meine Arme in ihre Richtung aus, „ddd… darf ich?“ Sie nickte mit einem Lächeln und ich nahm sie in den Arm. Sie machte sich schwere Vorwürfe:

      „Ich… Ich hätte mein Kind umgebracht, nein! Nein! Das Leben ist schön, ich schaffe das.“ Ich fand es beeindruckend, wie schnell sie ihre Meinung geändert hatte, jedoch war ich mir sicher, dass der Suizidversuch nicht geplant war, sondern eher aus dem Affekt entstand. Ich machte mir darum nun keine Gedanken mehr, sondern war froh, dass die Frau sich dafür entschieden hatte, weiterzuleben und ihrem Kind nicht den Zugang zu unserer schönen Welt verweigerte. Der Krankenwagen kam in Windeseile, die Sanitäter waren sehr behutsam mit der Frau, fragten sie, wie sie heiße, wo sie herkomme und was passiert war. Sie erkannten, dass Elisabeth unter Schock stand und nahmen sie mit großer Vorsicht mit zum Krankenwagen. Mit Blau-Rotlicht und lauter Sirene fuhren sie davon. Grandpa kam zu mir rüber: „Da reden wir schon den ganzen Tag über den Tod und dann begegnen wir ihm auch noch, aber wir haben ihn wieder weggescheucht. Das haben wir gut gemacht!“ Ich sagte nur, dass Grandpa das alleine war, dass er allein der Lebensretter war aber er erwiderte darauf nur: „Nein! Du hast mir Rückhalt gegeben, deine Anwesenheit und das Wissen, dass du keine Angst vor dem Tod hast, haben mich bestärkt, der Frau zu helfen.“ Ich war sehr stolz auf uns, auf meinen Grandpa und auf mich, dass ich ihn dadurch gestärkt habe. Wir stiegen ins Auto ein, schnallten uns an und holten beide tief Luft. Ich klärte Alph auf, was für eine Gesprächshaltung er während der Situation auf der Brücke einnahm und, dass wir diese in Psychologie besprochen hatten. Dieser Theorie zufolge versetzt man sich in den anderen hinein, man versucht ihn tiefgehend zu verstehen, man stellt Fragen, welche das Thema ausweitend betreffen und meldet dem Gesprächspartner in eigenen Worten das Verstandene mit. Dadurch entwickelt man in kürzester Zeit Vertrauen zum Gegenüber, denn dieser fühlt sich akzeptiert und enorm wertgeschätzt. Grandpa wusste nicht, wie ihm geschah, er wirkte leicht überfordert und antwortete einfach nur: „Ich wusste nicht, dass das einer psychologischen Theorie entspricht. Ich bemühe mich immer stets darum, den anderen detailliert zu verstehen, um Missverständnisse oder ähnliches vermeiden zu können.“ „Ja! Ja, genau das ist es! So funktioniert die Umsetzung der Theorie in der Praxis. Und du hast es geschafft, du hast ein Wunder vollbracht, du hast einem Menschen, ja gar zwei Menschen das Leben gerettet.“ Ich sagte bewusst „zwei Menschen“, da ich der Meinung bin, dass jedes Lebewesen ab dem Punkt der Befruchtung als Mensch zu behandeln ist. Dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar sei und, dass man einem anderen Menschen nicht das Leben nehmen solle, das sind wichtige Grundsätze meiner religiösen Überzeugung. Ich


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