Wüste als Mahal. Ute-Maria Graupner
Nur ihr Wanderstock sei zerbrochen, wie er ihn mal mit in die Wüste genommen hatte. Er sei nicht stark gewesen. Er hat also darauf gesetzt, dass sie wieder kommt. Esthes würde am liebsten weinen.
„Wir müssen noch mehr reden", sagt sie.
„Ja", antwortet er, „in der Wüste werden wir dazu viel Zeit haben.“
Die Frauen sitzen noch immer ohne Tee auf der Veranda. Esthes bittet um etwas Wasser. Eine Flasche wird gereicht. Fatima und Hamed sind verschwunden. Omar auch. Esthes legt sich, wie schon so oft, auf den blanken Steinboden der Terrasse und versucht zu schlafen. Die Frauen fühlen sich unwohl, ungebeten. Sie hört im Halbschlaf das unzufriedene Gemurmel. Was ist nur los? So kennt sie die Familie nicht. Dass man sie allein hier sitzen lässt, ist ungewöhnlich. Sie beschließt ihren vertrauten Beduinen zu fragen. Sie findet ihn in der Hütte seiner Eltern schlafend auf einer Matte liegen. Okay, es hat keinen Sinn, man ist nicht erwünscht. Es ist wohl zu viel an Missverständnissen in dem letzten Jahr passiert. Sie gibt das Kommando zum Aufbruch. Da trottet Omar aus der Hütte und sagt: „Warte", wie immer kein Wort zu viel. Fatima und Hamed kommen mit dem Muli und der Charrette. Die Beduinen haben den französischen Namen für dieses Fuhrwerk, das von Eseln oder Mulis gezogen wird, übernommen. Man hört nur selten Creppa, den arabischen Ausdruck dafür. Diese zweirädrige Eselskarre mit einem großen Brett als Sitz- und Ladefläche wird geschickt vom neunjährigen Brahim vor den Muli gespannt. Dabei kriecht er unter den Beinen des Nutztieres durch und schlingt die einfachen Kordeln um Leib und Hals. Hamed hatte also in der Zwischenzeit das Tier aus seinem Stall geholt. Damit die Frauen die vielen Taschen mit Kleidung für die Familien der Guides, die auf Esthes Veranlassung mitgenommen wurden, nicht tragen müssen. Also doch erwünscht. Der Stein fällt vom Herzen.
Einfach-Sein, eine andere Art zu leben
Esthes sitzt wie früher neben Omar auf der Charette 5). Die anderen Frauen und Brahim, sein Bruder, haben sich auf der Ladefläche verteilt. Die Gespräche klingen versöhnlich und zufrieden mit der Welt. Ja, das hatten sich die Mädels gewünscht, Kontakt zur Bevölkerung und die unmittelbaren Erfahrungen, die die Menschen hier auch machen. Nicht einfach eine Münze reichen und sich als Tourist in einer Kutsche durch die Gegend karren lassen. Kinder winken am Wegrand. Barfuss laufen sie neben der Creppa 5) her. Die vollen Wangen leuchten rot, und große, braune Augen bringen Neugierde entgegen. Die kleinen Beinchen sind flink wie Wiesel. Die für europäische Wetterbedingungen viel zu dicken Wollpullover geben beim Laufen den Blick auf nackte Haut frei, und runde, glatte Bäuche spitzen hervor. Ein Eselskarren kommt entgegen. Ein elfjähriges Mädchen lenkt geschickt ihr Tier. Eine ältere Beduinin liegt wie ein Buddha auf der Ladefläche. Esthes grüßt: „Keif halek?“ - Wie geht es? Die Beiden lächeln und rufen
„Quwies!“ - Es geht gut! Die weiße Frau war schon mit Mutter und Tochter in ihrem Oasengarten. Schon damals war ihr aufgefallen, dass das kleine Mädchen die üblichen Tätigkeiten des weiblichen Familienoberhaupts übernommen hatte. Sie kümmerte sich um Gartenarbeit, sorgte für eine Verständigung zwischen Mutter und Esthes, sprach die Einladung ins Haus aus und reichte den üblichen Tee. Das Mädchen wirkte angestrengt und seine Gesten waren bereits die eines Erwachsenen. Esthes wand sich an Omar mit ihrer Empfindung, dass man das Kind überforderte. Es sei normal, meinte der Kenner der Region, dass das jüngste Kind der Familie derartige Pflichten übernehme, weil andere Mitglieder mit außer häuslichen Tätigkeiten eingespannt seien. Außerdem wäre die Mutter müde von den vielen Kindern, die sie bereits aufgezogen hätte. Und Esthes wurde klar, dass das Mädchen schon bald genauso müde wirken würde, wie ihre Mutter.
„Woher kennst du die Familie zu der wir fahren?" fragt Sylvia.
„Es ist Monjis Großfamilie, einer der Guides, die uns in die Wüste begleiten", erklärt Esthes.
„Ist Monji verheiratet?
5) Charette frz./ Creppa arab.: einachsiger Eselskarren
„Nein!"
„Und wieso nicht?“ will Gudrun wissen.
„Man benötigt Geld und permanentes Einkommen auch als Beduine, um eine neue Familie zu ernähren. Es ist eine Sache der Ehre, dass man erst dann eine Frau nimmt, wenn man diese Voraussetzung erfüllt", erklärt die Beduinenkennerin. „Außerdem bringen die Männer Schafe und Ziegen, sowie Schmuck und Kleidung, manchmal auch ein Dromedar mit in die Ehe. Diese Gaben müssen auch erst einmal erarbeitet werden. Es gibt aber auch Männer, die trotz mangelnder Versorgungsfähigkeit heiraten wollen. Die Frauen wissen dann, auf was sie sich einlassen und können auch nein dazu sagen.“
„Haben sie vor der Ehe Freundinnen?“ fragt Hilde.
„Nein, die Beduinen nicht.“ Esthes dreht sich zu Hilde. „Und weißt du, Monji hat feste Werte. Er möchte erst sicher sein, dass er seiner zukünftigen Frau eine Lebensgrundlage bieten kann. Da sein Bruder noch nicht erwachsen ist, steckt er noch in der Verpflichtung für die Existenz seiner sehr großen Herkunftsfamilie mit aufzukommen.“
„Ziehen die Frauen mit in die Familie der Männer?“ erkundigt sich Karla.
„Meist wohnt die neue Frau nach der Heirat in die Familie des Mannes und bezieht mit ihm eine eigene Hütte innerhalb des Familienverbandes. Aber die umgekehrte Variante gibt es mittlerweile auch. Das ist dann schon sehr modern", erklärt Esthes.
Sie war von ihren Reisebegleiterinnen gebeten worden, eine typische Beduinenfamilie besuchen zu dürfen. Daraufhin hatte sie Monjis Familie gewählt, weil die Beduininnen des Hauses während des Winterhalbjahres oft ihre Webarbeiten über die sandige Fläche des Hofes gespannt haben. Es ist eine Attraktion für Menschen aus Europa. Außerdem besitzt Monjis Familie zusätzlich einen Webstuhl, der den Raum einer Hütte einnimmt und das ganze Jahr zu bewundern ist. Er ist stabil aus knorrigen Ästen und unbearbeiteten Stöcke gebaut, die so verwendet wurden, wie sie am Baum gewachsen waren. Ein Kunstwerk, findet Esthes.
Omar hält das Zugtier an. Die Charette steht vor dem Hof von Monjis Familie. Die Gruppe der Touristen begibt sich vom Karren, und Brahim steuert ihn wieder zurück. Allah hat es gut mit den Frauen gemeint, es ist tatsächlich über den Hof eine Webarbeit gespannt. Sie ist mit einfachen Stöcken und eckigen Steinen im Sand fixiert. Das Gewebe befindet sich nur etwa handbreit über der Erde. Monjis Mutter und seine Tante müssen kniend arbeiten, wenn sie weben. Die weißen Frauen stehen staunend vor dem einfachen Gebilde. Esthes erklärt, dass es etwa zwei Wochen dauert, bis ein Stoffstreifen für ein Beduinenzelt fertig ist. Und ein Zelt besteht aus vielen Stoffstreifen. Auf diese Art werden auch die Barnushat, die Wollcapes der Beduinen, sowie die Rhascharbirhat, die kleidartigen Mäntel für den Winter, hergestellt.
Monjis Großmutter, Ghama, ist blind. Sie greift temperamentvoll nach Esthes Hand und küsst sie. Das hat sie schon immer getan. Ghama hatte ihr auch schon frisch gekochte Eier geschenkt, die köstlich schmeckten, weil ihre Erzeugerinnen den ganzen Tag im Sand picken dürfen. Sie freut sich immer, wenn Esthes kommt, obwohl sie nur wenige Worte miteinander austauschen können. Neben Monjis Großmutter sitzt seine ebenfalls betagte Großtante, Faiza, auf einer Matte im Sand. Die beiden Alten haben ihre geblümten Kopftücher locker über das graue, gelockte Haar geschwungen. Sie tragen weite bunte Gewänder, unter denen sie geschickt und wendig beim Plaudern ihre Positionen auf der Erde wechseln, als wären sie junge Mädchen beim Bodenturnen.
Die alten Damen zeigen völlig frei und ungeniert ihre Empfindungen in ihren vom Leben zerfurchten Gesichtern. Esthes erschrickt. Sie hat als Touristenangebot einen Familienbesuch organisiert. Im Gegensatz zu den reifen Frauen, die sich ihre Offenheit ein Leben lang erhalten haben, wirken die Europäerinnen mit ihren wohl platzierten Masken wie unbeteiligte Eindringlinge in ein fremdes Leben. Esthes kommt sich wie eine Verräterin vor. Sie hat das Leben dieser Menschen den Betrachtungen der Touristen preisgeben. Es gab schon immer Mitreisende, die sie in ihrer Begeisterung für die Mentalität der Beduinen mit in die Familien genommen hatte. Anschließend wurde sie mit einer Fülle von europäischen Beurteilungen überhäuft, die letztlich nie das gesamte Miteinander dieser Menschen hier erfassten. Es ist ein Eindringen in eine Privatsphäre, die nur jenen zugänglich sein sollte, die das Leben dieser Menschen