Winterwahn. Wolfe Eldritch
Wall befand sich seit über dreihundert Jahren an Ort und Stelle. Ständig besetzt und in immerwährender Bereitschaft.
Auf der anderen Seite wusste man so gut wie nichts über die Klabauter. Nicht, wo genau sie lebten, und noch weniger wie ihr Leben aussah. Ganz davon zu schweigen, warum sie alljährlich in rasender Heftigkeit nach Süden stürmten, um am Wall zu Hunderten und Tausenden ihr Ende zu finden. In diesem Jahr hatte man bisher nicht eine einzige Sichtung vermelden können.
Varg av Ulfrskógr stand an den Zinnen der Nordseite der mittleren Mauer und sah auf den Wehrgang der ersten, äußeren Mauer hinab. Die Wehranlage, auf der er sich befand, war zwei Mannslängen höher als die äußere. Hinter ihm erhob sich die dritte und letzte Verteidigungslinie noch einmal zehn Schritte höher in den immergrauen Himmel. Auf diese Weise konnten die Bogenschützen aus mehreren Reihen schießen und zur Not auch einen weiter vorne liegenden Wehrgang unter Beschuss nehmen, falls dieser überrannt wurde. Dass die erste Mauer aufgegeben werden musste, war jedoch viele Jahre lang nicht mehr der Fall gewesen.
Während Varg in das leichte Schneetreiben schaute, in dem sich die Welt hinter der Festungsanlage gen Norden verlor, dachte er an den großen Durchbruch von 794. Das tat er nicht besonders oft, obwohl in diesen dunklen Tagen sein Bruder gefallen war. Er selbst war damals, vor zweiunddreißig Jahren, noch ein Kind und erinnerte sich nur verschwommen an den jungen Mann, der eigentlich sein Halbbruder gewesen war.
An seine Mutter hatte er überhaupt keine Erinnerungen mehr, da sie gestorben war, bevor er seinen dritten Winter erlebt hatte. Er wusste nur, dass es sich um eine Bürgerliche gehandelte hatte, eine junge, schöne Frau aus einer Huskarlarsippe, der nur ein kurzes Leben an der Seite seines Vaters vergönnt war. Es war ungewöhnlich, dass ein Jarl sich ein Weib nahm, dass nicht zumindest aus den Reihen der Familien der Thane stammte, obgleich eine solche Verbindung nicht den gleichen skandalösen Beigeschmack hatte, wie es auf dem Festland der Fall gewesen wäre. Außerdem war damals bereits das Grau über die Welt gekommen, und dieser Umbruch hatte viele alte Konventionen überall auf dem Kontinent und der Insel aufgeweicht und teilweise davongespült.
Seiner Autorität als Jarl hatte seine halbbürgerliche Herkunft nie einen Abbruch getan. Das lag zum einen an dem starken Vermächtnis des alten Egilhard und ihrer Ahnen begründet. Aber auch sein resoluter und entschlossener Führungsstil, nachdem er schon im achtzehnten Winter zum Jarl von Ulfrskógr wurde, hatten einen Anteil daran. Überhaupt hatte sich sein Leben durch den Tod des Bruders nicht merklich verändert. Das Verhältnis zu seinem Vater hatte er seit jeher als freundlich distanziert in Erinnerung. Er empfand keine echte Trauer, wenn er an die alten Tage und das Dahinscheiden seiner Familie dachte, bestenfalls ein leichtes Bedauern. Der einzige Schmerz, den die Vergangenheit ihm brachte, war noch immer der Verlust seiner Gemahlin und der Tochter, die starb, bevor sie geboren war. Doch auch der verblasste allmählich und wurde nach und nach eins mit der Melancholie, die ihn umgab wie feiner Nebel.
Der Spätherbst 794 war ein solcher gewesen, wie man ihn heuer in Norselund erlebte. Nach einem kurzen, kühlen Sommer waren Kälte und Schnee über das Land hergefallen, kaum dass die Blätter vollständig in den Farben des Herbstes verblüht waren. Am Wall war es gespenstisch still für diese Jahreszeit, bis dann im frühen Oktober, ungewöhnlich spät also, der Angriff der Klabauter begann. Damals hatte es nur zwei Mauern gegeben und diejenige, auf welcher der Jarl jetzt stand, war die äußere gewesen.
Er hatte selbst etliche Male hier gekämpft und sah die heranwogenden Wellen aus weißen, zottigen Leibern vor seinem inneren Auge Form annehmen. Es war ein gespenstisches Schauspiel, wenn man in der Ferne sah, wie der fahle Horizont mit einem Mal lebendig zu werden schien. Wie er gleich einer Brandung aus gedrungenen Gestalten mit zahllosen schwarzen Augen heranrollte. Die Tatsache, dass es dabei weiterhin bis auf den allgegenwärtigen Wind völlig still war, verstärkte nur den surrealen Eindruck eines solchen Angriffs.
Sie kamen immer lautlos. Selbst wenn die Bogenschützen damit begannen, sie unter Feuer zu nehmen, blieben sie ruhig. Man glaubte beinahe hören zu können, wie ihre klauenbewehrten Gliedmaßen den vereisten Schnee aufwühlten und den stinkenden Atem zu vernehmen, der sich rasselnd ihren aufgerissenen Mäulern entrang, während sie die Mauern erkletterten. Erst wenn sie selbst auf den Wällen angriffen, begannen sie mit ihrem markerschütternden Gebrüll. Nach der vorangegangenen Stille wirkte dieses grauenhafte Geräusch doppelt intensiv. Wer das Brüllen der Klabauter einmal gehört hatte, vergas es sein ganzes Leben nicht mehr.
Der Jarl war da keine Ausnahme. Es war ein unwirklich klingendes Geräusch, das tief aus dem massigen Rumpf der Geschöpfe zu kommen schien. Ein kaum artikuliertes Röhren, das etwas Bärenartiges, aber auch etwas Menschliches hatte, wie das Geschrei eines Irren. Er würde jetzt nicht mehr lange am Wall bleiben, war heuer ohnehin nur guten Gewissens hierhergekommen, weil sein ungebetener Gast Interesse an dem Bollwerk bekundet und ihn begleitet hatte.
»Das wird ein schlimmes Jahr«, ertönte schräg hinter ihm eine Stimme, die klang wie ein schartiges Schwert, dass man über einen rostigen Amboss zog.
Das Äußere des Mannes, nur wenige Fingerbreit kleiner als der Jarl mit langem, aschgrauen Haar und ebensolchem Bart, passte dazu. Sein Gesicht war gezeichnet von Jahrzehnten der Zeit und mehr als einem Dutzend zumeist verblasster Narben. Die blassblauen Augen waren so kalt wie das allgegenwärtige Eis dieses Ortes. Erik Bokdal hatte im Jahr des großen Durchbruchs den zweiten Winter hier verbracht. Er lebte seit nunmehr vierunddreißig Jahren an diesem Ort und war seit über fünfzehn Jahren der Kommandant des Walls. Er trat jetzt neben den Jarl an die Zinne, verschränkte die Arme vor dem in einen dicken Mantel gehüllten Körper, und schaute hinaus in das ewige Weiß.
»Ich habe gerade an den Durchbruch gedacht«, sagte Varg, »man sagt, das Wetter und die ungewöhnliche Ruhe waren damals genauso wie jetzt.«
»Ganz genau so war es«, bestätigte der Kommandant. »Es war ebenso kalt, ebenso gespenstisch ruhig. Und doch ... fühlt es sich anders an.« Er schüttelte leicht den Kopf und wand sich halb seinem Lehnsherren zu, so dass er ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. »Ich bin über meine lange Dienstzeit hier kein abergläubischer, seniler Narr geworden. Aber ich habe ein ungutes Gefühl, wie eine dunkle Vorahnung für diesen Winter. Es ist schwer zu erklären, aber es wird ein schlimmes Jahr, dessen bin ich sicher.«
Varg zog eine Augenbraue hoch und wand sich seinerseits dem alten Krieger zu. Er kannte Bokdal beinahe sein ganzes Leben lang und hatte mehr als einmal in den vergangenen zwanzig Jahren an diesem Wall Seite an Seite mit ihm gestanden und gekämpft, wenn die Angriffe begannen. Es würde das erste Jahr sein, an dem er nicht an den Kämpfen teilnehmen konnte, wenn die Klabauter nicht in den nächsten Tagen kamen. Der alte Kämpe war tatsächlich kein Mann für Vorahnungen, hatte aber in den Jahrzehnten, die er in der ewigen Kälte verbracht hatte, eine Art sechsten Sinn entwickelt. Mehr als einmal hatte er die Wachmannschaften einen oder zwei Tage vor den Angriffen verdoppeln lassen. Ganz so, als hätte er vorausgespürt, wann die Monstren kamen.
»Ich kenne euch lange genug, um das nicht als das Geschwätz eines alten Soldaten abzutun, Erik. Was ist anders in diesem Jahr? Haltet ihr es für angebracht, wenn ich für etwas mehr Verstärkung sorge, als ich mitgebracht habe? Die Garde hat immer ein paar Männer für den Wall übrig.«
Als Varg vor drei Tagen angekommen war, hatte er fünfzig Blodsjkoldir seiner Rabengarde im Schlepptau gehabt. Drei Dutzend davon waren angedacht, bis zum Ende der jährlichen Angriffe am Wall zu bleiben. Die anderen dienten als Eskorte für den Jarl selbst und drei der Priester, die ihn begleitet hatten. Ormond Torga, der Leiter der Delegation der Kirche in Ulfrskógr, hatte an dem Besuch an der nördlichsten Wehranlage von Norselund mit Freuden teilgenommen. Der alte Mann schien einen unversiegbaren Durst nach Wissen und Neuem zu verspüren. Von den anderen Männern Gottes hatten nur seine beiden ständigen Begleiter, die Brüder Lombardo und Bridges, den Weg in die ewige Kälte angetreten.
»Ich kann es nicht gut beschreiben«, brummte Bokdal. »In manchen Jahren ist es wie ein Ziehen in den Knochen, oder ein flaues Gefühl im Bauch, und dann weiß ich einfach, dass es bald losgeht. Ich will nicht behaupten, dass ich mir jedes Mal sicher bin, aber mehr als einmal hat mich mein Instinkt einen oder zwei Tage gewarnt, bevor es losging. Ich will verdammt sein, wenn ich dieses Gefühl nicht schon als junger Bengel hatte. Auch