Winterwahn. Wolfe Eldritch
habe ich mir das auch im Laufe der Dekaden nur so lange eingeredet, bis ich es selbst geglaubt habe. Oder das Alter macht mir doch allmählich das Gehirn matschig.
Aber wie auch immer, so fühlt es sich heuer nicht an. Ich kann es nicht in Worte fassen. Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten Tagen auch nur eines von diesen Biestern zu sehen bekommen werden. Das ganze Jahr hatten wir nicht eine einzige götterverdammte Sichtung. Obwohl es so scheißkalt ist, wie das letzte Mal vor über fünfzehn Jahren. Als ich das Amt des Kommandanten übernommen habe, hatten wir auch so einen gemein kalten Wintereinbruch. Nachts scheint es einem heuer, als schneide einem der Wind die ungeschützten Teile des Gesichts weg. Es ist einfach alles zu ruhig. Auf eine merkwürdige Art, die ich noch nie erlebt habe. Nicht die Ruhe vor dem Sturm, sondern anders, irgendwie unnatürlich.«
Er brach ab, schaute den Jarl direkt an und zuckte mit einem schiefen Lächeln die Schultern.
»Ich plappere wie ein altes Weib, aber besser kann ich es nicht beschreiben, Mylord.«
Varg erwiderte das Lächeln voller ehrlicher Zuneigung zu dem ergrauten, harten Gefolgsmann und nickte.
»Manchmal ist das so, Erik. Ich habe nicht euer Gespür für diesen Ort, aber vielleicht weiß ich, was ihr meint. Wenn ich wieder in Snaergarde bin, schicke ich euch noch ein paar Blodsjkoldir mehr, nur für alle Fälle. Wenn ihr irgendetwas braucht, sendet Nachricht. Ich würde noch eine Weile hierbleiben, aber mit meinen Gästen dieses Jahr bin ich leider nicht so ungebunden, wie ich es gerne hätte.«
Der Kommandant nickte grimmig. »Aye, Mylord. Ich danke euch. Und verstehe schon. Wundert mich, dass sich überhaupt welche von denen hergetraut haben. Muss sagen, ich hatte mir diese Vögel anders vorgestellt. Für verweichlichte Festländer und dann noch Priester scheinen die Drei ziemlich hart im Nehmen zu sein. Hab schon norselunder Burschen gesehen, die sich beschissener angestellt haben in der Witterung hier. Die beiden Lakaien von dem Alten waren auf jeden Fall mal Soldaten, bevor sie die Kutte genommen haben.«
»Aye«, nickte Varg, »die sind auch eher untypisch für ihre Art. Die anderen Priester sind so, wie du sie dir vorstellst, deswegen ist auch keiner von denen hier. Aber der Alte hat mehr Eisen in sich als mancher Herzog vom Festland und die beiden anderen sind kaum mehr als Totschläger, würde ich sagen. Aber wir hätten es schlechter treffen können.«
Sie standen für einen Moment Seite an Seite an den Zinnen, während sich ihre Blicke in dem diesigen, undurchdringlichen Weiß verloren, das sich in Richtung Norden am Horizont ausbreitete. Irgendwo dort vorne, etliche Landmeilen weiter in den Ausläufern des Eisgebirges, mochten die Klabauter lauern. Außer dem Wind herrschte auf diesem riesigen Friedhof aus Eis völlige Stille. Sie standen noch nicht lange dort, und doch spürte Varg, wie die unbarmherzige Kälte sich durch seine dicke Kleidung fraß. Er spürte seine Zehen bereits nicht mehr und das wenige, was unter Kapuze und Bart von seinem Gesicht freilag, hatte sich ebenfalls in eine Mischung aus Taubheit und Kribbeln verwandelt.
»Götterverdammt, die Kälte ist wirklich in jedem Jahr aufs Neue eine Erfahrung«, sagte er schließlich und wand sich von der Zinne ab. »Selbst für mich.«
Er war auf Snaergarde und von seinen Ausflügen zu den Minen bittere Winter gewohnt, aber die Witterung am Wall traf ihn immer wieder wie ein Hammer aus Eis.
»Aye«, grinste der alte Kommandant erneut, »ich glaube, das geht jeder lebenden Seele so, egal wie sehr sie ein Kind der Insel ist. Nur diejenigen, die dauerhaft hier leben, gewöhnen sich irgendwie daran. Aber dieses Jahr ist es besonders übel, selbst für die alten Eisbären wie mich. Oder vielmehr wird es besonders übel. So wie jetzt ist es sonst im Januar. Das gibt ein paar verteufelt harte Wintermonate. Ich kann euch versichern, dass wir nicht an Brennstoff sparen werden.«
»Was immer ihr braucht«, sagte Varg sofort, »das hier ist mit der Arbeit in den Minen der schwerste Dienst, den ein Mann an der Insel leisten kann. Spart an nichts, ob an Nahrung oder Kohle, und meldet eventuellen Bedarf früh genug an.«
Der Kommandant nickt und deutete eine leichte Verbeugung an.
»Es ist eine Schande, dass ihr nicht bis zu den Kämpfen bleiben könnt«, meinte er dann. »Ich werde jetzt mal zusehen, dass ich weiterkomme, bevor mir hier mein knochiger alter Arsch festfriert. Gebt ihr mir bescheid, bevor ihr abreist?«
»Das tue ich, Erik«, sagte Varg und stampfte mit den genagelten Stiefeln auf den gefrorenen Stein des Wehrgangs. »Einen oder zwei Tage bleiben wir noch. Ich verabschiede mich persönlich von euch, bevor ich abreise. Überlegt euch, was ihr über den Winter braucht, und macht eine Liste. Lieber mehr Vorräte einlagern als nötig, als einen Mangel zu leiden, wenn die Witterung euch tatsächlich für ein paar Wochen abschneiden sollte.«
Erneut nickte der Kommandant, hob die Faust zum Gruß vor die linke Brustseite und stapfte mit entschlossenem Schritt davon. Seinem Gang war nichts von der Unsicherheit anzumerken, die selbst Varg hier verspürte, wenn er über den gefrorenen Boden lief. Er bewegte sich mit der Sicherheit eines alten Kapitäns auf seinem Schiff.
Varg setzte seine Schritte mit mehr bedacht, während er in die andere Richtung den Wehrgang entlangging. Auch ein Jarl war nicht davor gefeit, sich auf dem glatten Boden auf den Hintern zu setzen und er tat sein Möglichstes, sich diese Blöße nur selten zu geben. Bislang war er hier jedes Jahr mindestens einmal ausgeglitten und hatte sich einen mehr oder weniger schmerzhaften Sturz zugezogen. Heuer war ihm das erspart geblieben, aber hatte noch zwei oder drei Tage vor sich und machte sich keine falschen Hoffnungen. Ein Moment der Unachtsamkeit genügte an diesem Ort, und man fand sich auf dem vereisten Boden wieder. Der Wall verzieh keinen Fehler, gleich welcher Art.
Während er auf eine der Treppen zusteuerte, die von der Mauer herunterführten, sah er sich nach den Wachmannschaften um. Im Abstand von knapp hundert Schritten standen dick vermummte Gestalten in Zweiergruppen auf jeder der drei Wehranlagen. Das waren doppelt so viele Männer wie den Rest des Jahres über, deutete aber nicht auf eine erhöhte Wachsamkeit hin. Den Herbst über, bis zum Ende der Angriffe, war diese Wachdichte normal. Was auch immer der Kommandant des Walls für dunkle Vorahnungen haben mochte, seine Untergebenen schien er bislang nichts davon spüren lassen zu wollen. Die Stimmung war allgemein leicht angespannt, wie immer um diese Zeit des Jahres, aber ansonsten so gut, wie sie an einem Ort wie diesem nur sein konnte. Varg wusste, dass besonders seine und die Anwesenheit der Blodskjoldir ihren Teil zur guten Moral der hier stationierten Männer und Frauen beitrug. Das war einer der Gründe, warum er in jedem Jahr hierher kam.
Unabhängig jeder Logik verspürte er hier bei jedem Besuch aufs Neue eine nicht greifbare, vage Faszination. Die ständige, latente Bedrohung, die hier in der Luft lag, die allein schon die Existenz dieses Bollwerks symbolisierte, sprach etwas tief in ihm an. Die Lebensfeindlichkeit der Umwelt hatte etwas Surreales, selbst für einen eingefleischten Nordmann wie ihn, der als urtümlicher Sohn Ulfrskógrs die härtesten und längsten Winter der bekannten Welt gewohnt war. Dem ewigen Eis war eine beinahe ätherische Schönheit zueigen, jedenfalls in seinen Augen, und die Bösartigkeit der Umwelt ließ sich jeden überlebten Tag wie einen kleinen Triumph anfühlen.
Auch die Fremdartigkeit und Monstrosität des Feindes, auf den man hier in jedem Jahr traf, trugen dazu bei. Varg war seit dem Tag, als sein Vater ihm den Tod seines Bruders mitgeteilt hatte, zum Jarl erzogen worden. Er hatte sich, anders als viele andere junge Männer, nie gegen den Platz gesträubt, den das Schicksal ihm zugedacht hatte. Er war von Anfang an mit Freude in seine Rolle hineingewachsen und füllte sie leidenschaftlich gerne aus. Weder die Verpflichtungen, die seine Stellung mit sich brachte, noch die Verantwortung, die er durch sie trug, waren ihm je als Last erschienen. Und doch wurde ihm hier oft bewusst, dass er auch mit weniger zufrieden gewesen wäre. Es war nicht so, als beneidete er den alten Erik um seine Stellung, aber nach ein paar Tagen konnte er sich gut vorstellen, sie selbst auszufüllen. Er vermutete jedoch, dass ihm der Rest des Jahres, die lange Zeit, die aus dem Warten auf die Zeit der Angriffe bestand, nur allzu bald langweilig würde. Der morbide Zauber, den seine Besuche am Wall für ihn hatten, lag in erster Linie in der dunklen, harschen Exotik dieses Ortes begründet. Und die ging schnell vorbei, wenn sich der Alltag einschlich.
Er hatte gerade die Treppe erreicht, die in einem Bogen hinauf auf den westlichen Turm der mittleren