Weißer Stein. Christian Friedrich Schultze

Weißer Stein - Christian Friedrich Schultze


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erbaut, welches wegen der damals besonders guten Luft des Ortes als TBC-Kurheim fungierte. Es war der erste Ziegelbau der Siedlung. Das große Objekt existiert heute noch, wurde nach der so genannten Wende renoviert und zu einem Seniorenheim des Deutschen Roten Kreuzes erweitert und umgestaltet.

      Martha Helene Hauptmann, geborene Kober, unsere Großmutter, ererbte das Hausgrundstück von ihrer verwitweten Mutter Anna Kober, der Frau des Zimmermanns. Wie in dem Grundbuch verzeichnet ist, wurde sie am 6. Mai 1946 als Eigentümerin eingetragen. Das war ziemlich genau ein Jahr, nachdem die gegen Nazideutschland siegreichen Russen ihren lungenkranken, pazifistischen Ehemann, Grundschullehrer und Nazihasser Paul Hauptmann verschleppt hatten. Die russischen Politoffiziere verwechselten dessen ungewöhnlichen Familiennamen mit einem militärischen Rang. Wenige Wochen danach soll er unweit von Liegnitz in Niederschlesien, nur sechzig Kilometer vom Geburtsort seines berühmten Namensvetters und Literaturnobelpreisträgers entfernt, in einem Internierungslager gestorben sein. Niemand konnte uns bis heute etwas über die näheren Umstände seines Todes und den Verbleib seiner Leiche mitteilen. Wie wir aber zuverlässig herausgefunden haben, war Paul Hauptmann mit Gerhart Hauptmann aus Obersalzbrunn bei Waldenburg, dem heutigen polnischen Wałbrzych, welcher das Leid der schlesischen Leineweber des 19. Jahrhunderts in seinem berühmten Drama „Die Weber“ der ganzen Welt nahegebracht hatte, weder verwandt noch verschwägert.

      Mit dem Tod der Großmutter am 29. Januar 1960 ging das Grundstück in das Eigentum unserer Mutter Brigitta, geborenen Hauptmann, über. Im Jahre 1967 wurde es geteilt und die obere Hälfte mitsamt Wohnhaus an die Eheleute W. verkauft, mit denen es in der Folge jahrelangen Streit wegen vorgeblicher Verletzung von Nachbarschaftsrechten gab. Übrig blieb der lediglich mit einer Holzlaube und Kobers Bienenhaus bebaute untere Wiesenteil mit Obststräuchern, Kirsch- und Apfelbäumen, welcher südlich an die Bahnschienen grenzte. Noch zu Lebzeiten unserer Mutter wurde nun dieses Stück Land an mich überschrieben.

      Wahrscheinlich waren es die starke Quelle, direkt am Waldrand der nördlichen Flanke des Berges, sowie die weiten Wiesen ins Tal hinab gewesen, die den Laienbruder Jonas Anfang des 16. Jahrhunderts bewogen haben mochten, der Herrschaft der Oybiner Cölestinermönche das Privileg abzuringen, seine Schafe dort weiden und ein Vorwerk errichten zu dürfen. In jener Zeit waren die Mönche des Klosters Oybin die Besitzer der Fluren des Zittauer Gebirges. Der später nach dem Schäfer benannte Berg grenzt die engen Täler zwischen Ameisenberg und Oybin von den nördlichen Ausläufern des Zittauer Gebirges, vom Zittauer Becken und vom Einschnitt des langgezogenen Bertsdorfer Tales ab. In Oberlausitzer Mundart handelt es sich bei diesem Hang seit jeher um die „Hutchwiese“.

      3. Jonasdorf

      In dieser Zeit der Mönche und Schäfer herrschte in Wien der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Maximilian II.. Bereits zweihundert Jahre vorher war die Burganlage auf dem Berg Oybin errichtet worden, welche, solange ich denken kann, der stärkste Touristenmagnet im gleichnamigen Ort des Zittauer Gebirges ist. Diese Festung hatte der Ritter Heinrich von Leipa zum Schutz der alten, nach ihm benannten Handelsstraße bauen lassen. Der mittelalterliche Handelsweg, der auf einigen Abschnitten heute noch bewandert werden kann, führte damals von Görlitz und der in dieser altehrwürdigen Stadt die Neiße überquerenden berühmten „Via Regia“ über Zittau durch das Zittauer Gebirge hindurch bis nach Böhmisch Leipa und von dort weiter bis nach Prag, der damaligen Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches. Diese Straße war bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Hauptverkehrsweg zwischen Zittau und den nordböhmischen Städten gewesen. Auf diese Weise waren Böhmen und die Reichshauptstadt mit den Häfen der Ostsee und der „Hohen Königsstraße“ verbunden.

      Der Hauptstrang der „Königsstraße“ hatte sich im achten oder neunten Jahrhundert rund viertausend Kilometer lang von Santiago de Compostela, im spanischen Königreich Galizien, bis zur Hauptstadt des Kiewer Rus entwickelt. In Deutschland teilte sich dieser hoch frequentierte Handelsweg an der Kaiserstadt Aachen. Die „Untere Straße“ führte über Frankfurt am Main, Erfurt, Chemnitz und Dresden nach Görlitz weiter, wogegen die obere nach Nordosten abzweigte und über Naumburg, Leipzig und Bautzen an die Neißefurt gelangte, wo sich beide Routen wieder vereinten.

      Im Jahr 1346 hatten die Laipaer Herrscher ihre Oybiner Burg an die böhmische Krone verloren und 1364 begann Kaiser Karl der IV. auf dem merkwürdigen, einem steinernen Bienenstock gleichenden, Berg Oybin dazu sein Kaiserhaus zu errichten. Es heißt, dass er diesen damals recht abgeschiedenen und noch heute romantischen Platz, gegenüber dem das Tal beherrschenden Hochwald, als seinen Altersruhesitz nutzen wollte. Unter Mitwirkung der berühmten Prager Dombauhütte der Familie Parler begann man zwei Jahre später auch mit dem Bau der heute noch in ihren Grundfesten und mit hoch hinaufstrebenden Pfeilern zu bewundernden gotischen Kirche. Sie wurde 1384 fertiggestellt. Doch nur wenige Jahre später zwangen die damaligen Weltläufte den Kaiser dazu, Burg und Kirche seines einstmals auserkorenen Juwels dem Orden der Cölestiner, einer Unterabteilung des Benidiktinerordens, zu widmen. Die Mönche gestalteten die ganze Anlage im Verlaufe des folgenden Jahrhunderts mit viel Fleiß und Können zu einem der bedeutendsten Klöster der Gegend um.

      Am 14. Mai 1562 wurde Maximilian in Prag zum König von Böhmen gekrönt. Ein Jahr später ernannte man ihn in Preßburg, der heutigen slowakischen Hauptstadt Bratislawa, zum König von Ungarn und Kroatien. Und am 25. Juli 1564 folgte er seinem Vater Ferdinand I. auf den Kaiserthron des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Auf diese Weise gehörte die Oberlausitz, die man seinerzeit „das ganze Buddissiner Land“ nannte und welche lange Jahrhunderte im Besitz der Könige von Böhmen war, bereits schon einmal zu einem Deutschen Reich mit einer gesamteuropäischen Prägung.

      Alle diese Ereignisse und Daten mochten dem einfachen Schäfer und Mönch Jonas vielleicht gar nicht bekannt gewesen sein. Doch mit seiner Erlaubnis zur Schafzucht am „Kalten Born“ und den darunter liegenden weiten Wiesen, welches ihm die Cölestiner gewährt hatten, war er schließlich zum Namensgeber sowohl des Berges als auch des Fleckens geworden. Wenig später, nachdem der Prior der Klosterbrüder dieses Privileg erteilt hatte, durften zunächst zehn Siedler ihr dauerhaftes Domizil auf der „Hutchwiese“ einrichten. Sie nannten den Ort „Jonasdorf“. Wenig später erwarb die Stadt Zittau den Berg und das Kloster Oybin und kam damit auch in den Besitz dieses Fleckens.

      Doch es war nicht die Schafzucht gewesen, welche damals eine Handvoll Zittauer Bürger in diese bergige Region gelockt hatte. Der zuständige Ortsrichter Hans hatte bei seinen Streifzügen durch das Gebirge mithilfe seiner Söhne Georg und David entdeckt, dass es in den südlichen Felsenstädten einen ganz einzigartigen Sandstein gab, der hervorragend zur Herstellung von Mühlsteinen geeignet war. Diese zerklüftete Felsengruppe war unter dem Namen „Rabensteine“ bekannt. Einer seiner Abkömmlinge, Hieronymus Richter, pachtete um 1580 von der Stadt Zittau den ersten Steinbruch an der „Bärwand“ für ganze zehn Taler Jahreszins. Fortan nannte man das Gebiet nur noch die Mühlsteinbrüche. Binnen kurzer Zeit entstand in Neujonsdorf eine bedeutende Mühlsteinmanufaktur, die bald ihre Erzeugnisse bis nach Holland, Russland und in andere Länder exportierte. Wenig später folgten den Steinbrechern, wie in fast allen Orten der Oberlausitz, in Nordböhmen und Niederschlesien, die Leineweber, die für ebenso viel harte Arbeit ebenso wenig Brot erhielten.

      An der „Hutchwiese“ entwickelte sich die Altjonsdorfer Siedlung abwärts des „Kalten Borns“ ebenfalls weiter. Heute wird dieser Ortsteil von den Einheimischen auch Niederjonsdorf genannt. Das notwendige Trinkwasser bezogen die Altjonsdorfer von der starken Quelle, die bereits den Schäfer Jonas hergelockt hatte. Von diesem ergiebigen Brunnen aus entwickelten sie in zwei durch die Ansiedlung führenden Gräben ein "Tümpfe"-System mit dem zugehörigen Nutzungsregime, welches alle diese Grundstücke bis heute mit frischem und gutem Wasser versorgt. Die Wasserlöcher in ihren Grundstücken nennen die Oberlausitzer „Tump“

      Das für die Leinwandbleicherei so hervorragend geeignete weiche Wasser floss dermaßen reichlich, dass es für anderthalb Jahrhunderte die zahlreichen Bleichen des Weilers „Hänischmühe“, der größten und berühmtesten unter ihnen, versorgte. Die Ortschronik von Bertsdorf, zu dem die Bleichefluren bis heute gehören, berichtet hierzu: „Bei der oberen Mühle vereinigt sich dasselbe (der Grundbach, d. Autor) mit dem in Oberaltjonsdorf aus


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