Wenn die Nacht stirbt und die Zeit still steht. Lisa Lamp
war, so wie sie es in den letzten Jahren auch keine Sekunde gewesen war.
»Schläfst du noch immer, Prinzessin?«, fragte Silverian grinsend und lehnte sich an den Türrahmen, der unter seinem Gewicht leicht knarrte. Zu gern hätte Maria einen Gedanken daran verschwendet, dass sie in wenigen Minuten Gäste erwarten würden, aber nichts lag ihr ferner als aufzustehen oder sich anzuziehen. Nicht mit Silverians nackter Brust vor Augen. Lieber wäre ihr, er würde sich wieder zu ihr legen und sie in die Arme nehmen, obwohl sie sich auch unter seinen verschlingenden Blicken wohlfühlte.
»Ja, wenn du zurück zu mir ins Bett kommst, mein Gemahl«, säuselte sie und schlug die Decke zurück, sodass ihr Geliebter einen perfekten Blick auf ihren Körper hatte, der sich ihm entgegenstreckte. Sie rekelte sich auf dem Laken und sah ihn auffordernd an. Ein Knurren war zu hören und Maria lächelte triumphierend. Silverian hatte schon immer eine Schwäche für ihre weiche Haut und ihre weiblichen Rundungen gehabt. Sie waren ihm damals im Anwesen der Familie Holl als Erstes aufgefallen, als sie sich begegnet waren, und es hatte sich nicht geändert, als er zu einem ihrer Beschützer wurde, der die Königsfamilie vor allem verteidigen sollte. Noch heute bekam er dieses seltsame Glitzern in den dunklen Augen, wenn er Maria nackt sah. Sie liebte es. Es gab ihr das Gefühl, die schönste Frau auf der Welt zu sein. Genauso wie seine kräftigen Hände, die ihren Oberschenkel massierten, während sich seine Lippen auf ihre legten. Und plötzlich war es still. In Marias Kopf breitete sich eine angenehme Leere aus, die nur Silverian ihr geben konnte. Sie musste über so vieles nachdenken, vieles planen und sie durfte dabei keinen Fehler machen. Sie wusste, dass sie nicht mehr lange Zeit hatte. Immer mehr ihresgleichen wurden eingekerkert und verloren auf dem Scheiterhaufen ihr Leben. Bald würde sie eine davon sein. Silverian ahnte es noch nicht, aber die Göttin persönlich hatte es in Marias Ohr geflüstert, damit sie sich wappnen konnte und dafür sorgte, dass sie irgendwann an einem Ort nicht weit von hier wiedergeboren wurde, um alles in Ordnung zu bringen. Sie würde es schaffen, hatte die Göttin gesagt. Aber Maria war sich nicht sicher, ob sie das konnte. Ob sie stark genug war. Doch sobald Silverian bei ihr war und sie eins wurden, waren alle Aufgaben und Verpflichtungen weit weg. Dann zählte nur das Hier und Jetzt. Und Silverians unvergleichlicher Geruch, von dem sie nicht genug bekam. Maria stöhnte in den Kuss und klammerte sich an ihren Gemahl, wohl wissend, dass jedes Mal das letzte Mal sein könnte, bevor sie an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit wieder aufeinandertrafen.
Kapitel 1: Blutige Zeiten
Liebe Mel!
Es heißt, Träume wären psychische Prozesse während des Schlafes, die aus realistischen Bildern bestehen und unser Erleben fantasievoll widerspiegeln. Wenn das wahr wäre, würde ich von blutenden Raben auf einem Pferdehof träumen, der einer bösen Hexe mit Warzen gehört, die alle Pferde nur für sich haben will, weil sie Angst hat, dass jemand anderer besser reiten lernen könnte als sie. So weit so gut. Doch nichts davon war Teil meiner Fantasien, die sich in meinen Kopf schlichen und mir das Schlafen versüßten. Stattdessen sah ich Liebeserklärungen, Küsse und den Tod. Immer wieder. Ich sah mich. In langen und kurzen Kleidern, mit oder ohne Unterrock, mit gepudertem Gesicht oder bemalten Lippen, arm und reich. Und ich sah Hunter. In jeder Altersstufe, in allen Berufen, mit und ohne farbige Kostüme. Trotz der teilweise lächerlichen Kleidung liebten die Mädchen, die ich zu sein schien, die Männer, die ihm zum Verwechseln ähnlich sahen. Die Pärchen fanden sich auf die verschiedenste Art und Weise, aber das Ende sah jedes Mal gleich aus: Sie starben. Gemeinsam glücklich oder allein unglücklich. Anfangs dachte ich noch, dass ich den Verstand verlieren würde oder mir mein Unterbewusstsein helfen wollte, Hunter zu vergeben, indem es mir schöne Illusionen mit ihm schenkte. Aber dann sah ich das schwarzhaarige Mädchen in der Zeit der Pest, was meine Theorie widerlegte. Daran war überhaupt nichts schön. Schwarze Flecken, Pestbeulen, die sich unter der Haut wölbten, weißer Schaum, der den Toten aus dem Mund tropfte, und von Schmutz übersäte Körper, die genauso erbärmlich aussahen wie die Straßen, in denen es vor riesigen Ratten wimmelte, die herumliegende Leichenteile abnagten. Eine Gänsehaut überzog meine Arme und ein Schauer des Ekels jagte meinen Rücken hinunter. Nicht schön traf es nicht wirklich. Widerlich, abstoßend oder desaströs waren schon passender.
Als Nächstes spekulierte ich, ob es wirklich nur Träume waren, die Hunter und mich in Situationen hineinmanövrierten, von denen ich gehört oder die ich in Filmen gesehen hatte. Doch dann war da diese rothaarige Monarchin, von der ich schwören könnte, dass sie in meinem alten Geschichtsbuch abgebildet war, die in einem dieser Träume aufgetaucht war. Fiktion war damit auch vom Tisch. Fieberhaft überlegte ich, was es noch sein könnte. Für einen Moment glaubte ich sogar, dass ich mir einbildete, alle Liebenden sähen aus wie Hunter und ich, weil ich besessen von diesem Mann war. Aber dann sah ich Maria zusammen mit Silverian auf dem Bett mit den schwarzen Laken, an die ich mich immer erinnern würde. Ich kannte die Szene. Maria hatte mir vor vielen Monaten denselben Schock versetzt wie jetzt, weil ich mich wie eine Spannerin gefühlt hatte. Es war eine von Marias Mitteilungen an mich gewesen. Damals, als ich gerade eine Hexe geworden war. Ich wusste nicht, was genau an diesem Abschnitt ihres Lebens so wichtig gewesen war, aber Maria hatte diese Nacht alles bedeutet. Ob es die letzte gemeinsame Nacht mit ihrem Geliebten gewesen war? Oder wollte sie mir eine Momentaufnahme ihres Glücks präsentieren, das so vergänglich gewesen war?
Somit blieb nur noch eine Möglichkeit über, auch wenn ich mir den Kopf zermarterte, um eine andere logische Erklärung zu finden. Es waren Erinnerungen. Meine Erinnerungen. Na gut, nicht meine, aber die meiner Seele und sie war ein Teil von mir. Die Erkenntnis traf mich hart. Nicht dass es mich störte, meine früheren Leben beobachten zu können. Aber die Tatsache, dass ich anscheinend nie ohne Hunter glücklich werden konnte – zumindest nicht bevor ich starb und ihn im nächsten Leben wiedertraf – war ein Schlag in die Magengrube.
»Read! Read! Wach auf!« Ein Ruckeln an meiner Schulter störte mich in meinen Überlegungen und zog mich aus den Erinnerungen längst vergangener Tage. Die Wärme, die mich eingehüllt hatte, verschwand und ich spürte einen kalten Luftzug auf meiner Haut, der alle Härchen auf meinem Körper gleichzeitig aufstellte.
»Read, du musst jetzt aufstehen!« Die Stimme klang nervig in meinen Ohren, auch wenn ich mir sicher war, dass ich sie kannte. Ein wenig wie das Geräusch einer Maus, der man auf den Schwanz trat. Aber ich konnte nicht identifizieren, zu wem sie gehörte und es interessierte mich auch nicht. Ich wollte noch nicht aufwachen. Ich wollte wissen, ob irgendein Paar es geschafft hatte, ohne eine Tragödie ihr Leben miteinander zu verbringen und gemeinsam alt zu werden. Maria war nicht alt und dennoch war sie in den Erinnerungen die älteste Version von mir. Ob es meiner Seele bestimmt war, immer und immer wieder jung zu sterben? War das ein Zeichen? Lohnte es sich überhaupt, gegen Rabiana zu kämpfen, wenn mein Schicksal schon vorherbestimmt war?
»Read, bitte! Beweg dich!« Diese Stimme war mir auch bekannt, aber sie klang harscher, weniger piepsig und das Schütteln an meiner Schulter wurde stärker. Ohne die Augen aufzuschlagen wusste ich, dass Du mich angesprochen hattest und wie eine Wahnsinnige an mir zerrtest, aber ich verstand nicht wieso. Warum war es so wichtig, dass ich aufwachte? Wo waren wir und wie lange hatte ich geschlafen? Ich war noch so unendlich müde. Mein Körper fühlte sich schwer an, als würde jemand auf meiner Brust sitzen und mich nach unten drücken.
»Was ist mit ihr? Ist sie tot?«, mischte sich jemand ein und seufzte genervt. »Dann sollten wir sie kühlen, bevor sie den ganzen Raum verpestet. In den nächsten Tagen wird sich schon eine Möglichkeit finden, sie wegzubringen.« Diesmal machte ich mir gar nicht die Mühe, die Tonlage einem meiner Freunde zuzuordnen. Nicole war manchmal ein Miststück, aber selbst aus ihrem Mund wären niemals solche Worte gekommen. Doch wer war die Person, mit der meine Freunde sprachen? Ich durchforstete mein Gehirn und fuhr schweißnass aus dem Schlaf hoch. Ich schlug meine Hände vor den Mund. Tränen stiegen mir in die Augen und ich keuchte erschüttert, als die Bilder von blutverschmierten Pferdemäulern, brennenden Pfeilen und einem verprügelten Hunter auf mich einstürzten. Kerzengerade saß ich in einem weichen Bett und blickte in Deine Augen, die grün leuchteten, statt wie stürmische Seen blau zu funkeln. Sorge lag in Deinem Gesicht, das sich freudig verzog, als