Wenn die Nacht stirbt und die Zeit still steht. Lisa Lamp
schien sich auf das Grünzeug beschränken zu wollen. Ich konnte mich auch nicht erinnern, dass Nicole abgesehen von fettarmen Joghurt jemals etwas anderes als Salat gegessen hatte, obwohl auch sie deutlich mehr auf den Rippen vertragen würde. Nicole war wohl die Einzige, die sich in so einer Zeit Gedanken über Fett, Kohlenhydrate und Kalorien machte.
»Read?«, bohrte Hunter nach, ignorierte meine Begleiterin und schenkte mir einen flehenden Blick, der für mich tödlich war. Er hatte die Macht, mein Herz schmelzen zu lassen. In meinem Inneren schrie sowieso schon alles nach ihm. Einen Augenblick stand die Zeit still, als ich ihm in die Augen sah. Nichts bewegte sich und kein Ton war zu hören. Als hätte bei einem Film jemand die Pause-Taste gedrückt, um sich etwas aus dem Kühlfach zu holen. Aber statt Eiscreme wütete in meinem Kopf ein Gewirr, das ich nicht entknoten konnte. Ein Staubkorn, das mit dem Wind getanzt hatte, hing in der Luft und die Menschen, die sich über ihr Essen gebeugt hatten, waren eingefroren, als hätte ein Maler sie in einem seiner Kunstwerke festgehalten. Ich wollte ihm ein »Nein« entgegenschreien, aber das Mädchen im Turm aus meiner Erinnerung kam mir wieder ins Gedächtnis. Sie war so unendlich traurig gewesen und hatte nicht gewusst warum. Sie konnte nichts an ihrem Schmerz und der wachsenden Sehnsucht in ihrem Herzen tun, außer ihrem Leben ein Ende zu setzen. Aber ich wusste, woher meine Trauer kam.
»Später vielleicht«, würgte ich hervor, riss Nicole das Tablett aus der Hand und wollte den nächsten Tisch ansteuern, um wieder klar denken zu können. Hunters bloße Anwesenheit, sein Geruch lösten in meinem Kopf einen Nebel aus, der mich alles vergessen ließ, aber ich musste bei Verstand bleiben. Ich durfte nicht riskieren, dass er mich wieder hinterging, und die derzeitigen Verhältnisse schrien gerade danach. Nicht nur mein Leben hing davon ab, sondern auch das meiner Freunde. Jaimie hätte schon einmal deshalb sterben können.
Die Tische in der Umgebung waren alle voll bis auf einen einzigen. Neben Orion waren alle Stühle frei. Er saß alleine an einem großen Tisch, der einer Tafel glich, obwohl ein Mädchen am Nachbartisch bereits auf dem Schoß ihres Freundes Platz genommen hatte, weil sonst alles besetzt war. Nicole bemerkte mein Zögern, griff nach meinem Handgelenk und ging auf Orion zu, als wäre uns der Tisch zugewiesen worden.
»Zu ihm würde ich mich nicht setzen«, gab Hunter zu bedenken, dem Nicoles rosige Wangen und das Strahlen in ihrem Gesicht nicht aufzufallen schienen. Ich war mir sicher, dass sie an diesem Tisch sitzen wollte. Selbst wenn sonst alle Plätze frei gewesen wären, hätte sie diesen angesteuert.
»Wieso nicht?«, fragte ich und war froh, dass meine Stimme kräftiger klang, als ich mich fühlte. Hunters Lippen verzogen sich zu einem Grinsen und er sah mich dankbar an, als wäre es das Schönste für ihn, dass ich mit ihm sprach.
»Er ist ein wenig sonderbar. Orion spricht kaum, hat keine Freunde, von seinen Hunden mal abgesehen, und er hält sich aus allem raus, was nicht mit Mord und Totschlag endet. Er ist gefährlich und es gibt nettere Menschen hier, mit denen ihr eure Zeit verbringen könnt. Ich stelle euch gern jemanden vor.« Hunter richtete seine Worte an Nicole und mich, aber er ließ mich nicht aus den Augen. In dem Raum, in dem wir eingesperrt waren, hatte er mich überhaupt nicht angesehen und jetzt das? Wusste er selbst nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte? Warum klang er dann so selbstsicher? Ob er auch diese Erinnerungen hatte?
»Ach ja, welche denn? So eine pfuschende Mörderin oder die gaffenden Schaulustigen? Ich würde sagen, sonderbar ist genau unser Ding. Du musst ja nicht mitkommen, wenn du nicht willst.« Nicole klang schnippisch und beschleunigte ihre Schritte. Sie deutete Gänsefüßchen mit ihren Fingern bei dem Wort »sonderbar« an und zog eine Augenbraue hoch, als würde sie Hunter gern vor die Füße spucken, weil er Orion beleidigt hatte. Was war los mit der Eisprinzessin? Hatte der Mann es mit weniger als einer Unterhaltung geschafft, ihr Herz im Sturm zu erobern? Sie schien auf jeden Fall nicht schnell genug bei ihm sein zu können. Nicole ging davon aus, dass ich ihr folgen würde und das tat ich auch, genau wie Hunter trotz seiner Bedenken.
»Nicole, glaubst du an Liebe auf den ersten Blick?«, fragte ich sie neckend und Alex kicherte hinter mir. Auch sie hatte ein Tablett in der Hand, jedoch hatte sie zum Braten gegriffen und beäugte das Fleisch schon sehnsüchtig.
»Das würde Zeit sparen«, meinte Nicole sachlich und ich verschluckte mich an meiner Spucke, was den Lachanfall von Alexandra anheizte. Einige der Umstehenden sahen uns interessiert an, aber Alex lachte, ohne sich zu schämen, weiter. »Ich will mich einfach bei ihm bedanken, in Ordnung? Wer weiß, was die Hunde getan hätten, wenn er mir nicht geholfen hätte.« Sie hätten Nicole wahrscheinlich zu Tode gekuschelt, aber diese Bemerkung verkniff ich mir, weil sich in diesem Moment ein Mädchen vom Nebentisch erhob und Hunters Namen rief. Sie war rothaarig und war von kleiner Statur. Trotzdem hatte sie mit ihren grauen Augen eine Ausstrahlung, die sich mir bis heute ins Gedächtnis brannte, Mel. Die schmalen Lippen, die blasse Haut – ich hatte sie schon einmal gesehen. Sie hatte auf einem Thron gesessen, in dem sie fast versunken war, und in die Flammen gestarrt, die meinen Gemahl umgebracht hatten. Dass sie nicht dieselbe Frau sein konnte, war mir klar. Schließlich hatte diese Königin vor Jahrhunderten gelebt, doch sie sah ihr zum Verwechseln ähnlich und das allein reichte, um mir einen Schauer über den Rücken zu jagen.
»Setzt du dich zu uns? Deine Mutter möchte etwas mit dir besprechen«, säuselte das Mädchen und krallte ihre Finger in Hunters Hemd, der sich perplex mitziehen ließ. Er drehte seinen Kopf zu mir um, aber ich war zu beschäftigt damit, das Ebenbild einer Verstorbenen mit meinen Blicken zu Asche zu verbrennen, statt zurückzusehen. Sie betatschte und begrapschte Hunter von oben bis unten und hörte damit auch nicht auf, als sie sich zu zweit setzten.
»Wer ist die Schlampe?«, fragte Nicole geradeheraus, als wir bei Orion ankamen, der mürrisch von seinem Essen aufsah und eine grimmige Miene aufsetzte, als die Höllenhexe einen Stuhl zurückzog und sich setzte. Ich stellte das Tablett ab und ließ mich auf den Sessel neben ihr fallen.
»Darf ich fragen, was an ‚Alle halten sich von mir fern‘ so schwer zu verstehen war? Ich will meine Ruhe haben.« Netter Zeitgenosse. Vielleicht hatte Hunter doch recht und wir hätten uns besser auf den Boden setzen sollen. Ein Blick über meine Schulter ließ mich den Gedanken sofort wieder verwerfen. Die Rothaarige hatte eine Hand auf Hunters Oberschenkel gelegt und rieb leicht über den Stoff seiner Hose. Bevor ich mich in ihre Nähe setzte, ließ ich mich lieber von Orion beleidigen. Der Jäger senkte wieder den Kopf und aß weiter, als hätte er alles gesagt und wir würden Leine ziehen, aber Nicole hatte andere Pläne. Sie griff nach einer Gabel, stocherte in den grünen Blättern und stopfte sie sich in den Mund. Ihr Kauen war demonstrativ laut und sie schluckte unbekümmert, bevor sie Orion antwortete.
»Lass mich überlegen.« Nicole machte eine stilvolle Pause. »Alles. Beim Rest muss ich Angst haben, dass sie uns umbringen wollen und du hast schon bewiesen, dass du uns nicht tot sehen willst.« Orion legte mit einem Knall ein großes Messer auf den Tisch und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
»Ich will nicht, dass meine Hunde als Mörder missbraucht werden. Das ist ein Unterschied«, erklärte er und zog einen Mundwinkel gehässig nach oben, als er Alexandra nervös auf die Klinge starren sah. Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und suchte unauffällig den Raum nach einem Ausgang ab, um im Ernstfall fliehen zu können.
»Schön. Wir verschwinden, wenn du uns sagst, was wir wissen wollen, großer, böser Wolf. Also, wer ist die Schlampe?« Obwohl Nicole versuchte, witzig zu sein, hörte ich den verletzten Unterton in ihrer Stimme und ihr Grinsen erreichte ihre Augen nicht, als sie sich über den Tisch lehnte und gespannt auf Orions Antwort wartete.
»Wir nennen sie Bloody Mary«, sagte er schließlich, als ihm klar wurde, dass Nicole nicht nachgeben und er erst wieder seinen Frieden bekommen würde, wenn er ihr Rede und Antwort stand. Trotzdem schien er es nicht für notwendig zu halten, ihr seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken und kaute weiter an seinem Steak, zu dem er eine Portion Fleischbällchen aß. Keine Nudeln, keine Kartoffeln, kein Reis. Als wären Beilagen für ihn ein Fremdwort.
»Bloody Mary? So wie der Cocktail und das Gespenst im Spiegel?«, hakte ich nach und erinnerte mich an die Geschichten, die mir erzählt wurden, als meine Klasse vom Sommercamp wiederkam, auf das ich nicht mitfahren durfte. Irgendwer hatte den Hokuspokus verbreitet, dass eine Mörderin