Neues Altes. Peter Altenberg

Neues Altes - Peter Altenberg


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größere Begabung als der bloß mit einem schlichten, gesunden Hausverstand ohne weiten Blick ausgerüstete Hofer. Gedrängt, unwiderstehlich gedrängt wurde Hofer zu allem, was er tat. Eine äußere, aber geheime Macht, deren Walten er wohl ahnte, der er nie zu widerstehen suchte und die er verehrte, trieb ihn: der Volksgeist von Tirol!

      Diese Macht erhob ihn hoch – er blieb demütig und schlicht; diese Macht entriß ihm all seine Entschlüsse. Durch sie gedrängt, siegte er bei Sterzing, am Isel und bei Leonhard. Durch sie gehalten, vermochte er nicht zu fliehen, als die Besten des Landes das sinkende Schiff verließen – und geschoben, ja ganz verwirrt von dem Einfluß der Verzweifeltsten des ganzen Landes, brach er im Spätherbst 1809 zum erstenmal in seinem Leben das Wort, verleugnete seine Unterwerfung, erhob von neuem den Ruf zum Aufruhr, und erst als sein Körperliches gefangen und dem Tode geweiht war, da befreite sich seine Seele, eine tiefe Erkenntnis seines ganzen Lebenslaufes durchzuckte ihn, und da wuchs er ins Übermenschliche. Dieser weichherzige Mann, der so leicht die gutmütigen Augen voll Wasser bekam, nahm trockenen Auges Abschied von einer Welt, die sich schlechter erwiesen hatte als er.

      Daß man Hofer so oft verkannt und in ihm den Führer und Kommandanten des Aufstandes gesehen hatte! Er war weniger und doch mehr. Er war seinem Volke, was dem Soldaten seine Fahne ist: Das Panier von Tirol!

      Selbst unbeweglich, aber von den Kühnsten und Besten getragen, allen voran. Unbefleckt, rein, verehrenswürdig, ja wahrhaft geheiligt! Von der Religion geweiht, vom Paten Johann mit einem Wahlspruch belebt, vom Kaiser ausgezeichnet und geschmückt. In der höchsten Not entfaltet, als alle Kommandanten versagten, siegt diese menschliche vorausgetragene Fahne Andreas Hofer, dann sinkt sie – und mit ihr das Land Tirol. Er war eben der einfache, Mensch gewordene Idealismus, der embryonal in tausend Herzen, in tausend Gehirnen, in tausend Willenskräften verborgen lag!

      Die edle Leserin machte die Hinrichtung Andreas Hofers mit, aber sie konnte nicht, wie er von sich selbst es sagte, sagen: »So leicht kommt mir sein Sterben an, daß mir die Augen davon nicht naß werden – .«

      Sie aß wenig, sie sprach wenig durch viele Tage. Nur dem Freunde, der ihr diesen »Roman des wirklichen Lebens« anempfohlen hatte, blickte sie dankbarst in die Augen. Da sagte er denn zu ihr: »Dieser Oberleutnant Rudolf Bartsch ist vielleicht ein größerer Dichter als viele protokollierte Firmen dieser Branche. Denn er hat die in den Archiven des Lebens begrabene Poesie und Romantik der Menschheit zu lebendigem wirkendem Leben gebracht durch sein einfaches tiefes Buch!« Und die Dame reihte es ein in ihrer kleinen Bibliothek neben ihre Götter: Hamsun, Strindberg, Maeterlinck, Ibsen, diese Vermehrer des Bestandes der allgemeinen menschlichen Seele!

      IDEALE

      Ein fünfzehnjähriges wunderschönes Stubenmädchen stahl ihrer Herrin zwanzig Kronen.

      Die Herrin schickte zur Polizei und machte die Anzeige von dem Diebstahl. Da nahm die Fünfzehnjährige, die ihrer Mutter zum Namenstag ein Geschenk hatte machen wollen, eine Flasche mit Spiritus, trank die Hälfte aus, übergoß ihre Kleider mit der anderen Hälfte, zündete sie an. Nach elf qualvollen Stunden verstarb sie im Wasserbett.

      Einfache künftige Polizeivorschrift:

      Anzeigen gegen Untergebene unter zwanzig Jahren wegen Diebstahls unter 100 Kronen werden zwar angenommen, aber sobald es sich um einen ersten Fall handelt, in den Papierkorb geworfen!

      Man vertröste die anzeigende »Canaille«, daß sich der Fall leider »verzögert« habe – .

      EIN BRIEF

      Liebes Fräulein Marion Kaulitz, ich habe gestern in der Wiener Werkstätte, erster Bezirk, Graben 15, die Puppenausstellung besichtigt. Ich war ganz gerührt. Wie schrecklich sind doch diese Puppengespenster gewesen aus der Kindheit unsrer geliebten Schwestern und Cousinen! Wie starrten sie uns blöde herzlos an, erwiderten alle Liebe und Sorge mit einem nichtssagenden kretinartigen Grinsen, das unsre kleinen Herzen hätte lieblos machen müssen, wenn wir damals nicht so viel an selbstloser Liebe aufgespeichert hätten zu adeliger Verschwendung!

      Aber nun schufen Sie, Fräulein, Puppen, die wie edle, zarte Menschenkinder blicken, träumerisch lächelnde, und solche, die sich anschicken zu weinen und es dennoch unterdrücken! Kleine, zarte Kindchen schufen Sie, nicht Puppen!

      »Das Beste ist für unsre Kinder gerade noch gut genug«, sei der Wahlspruch von verständnisvollen Eltern. Eine meiner kleinen zartfühlenden Freundinnen, zwölfjährig, hat am Lande im Garten einen Zentralkäfig aus spinnwebdünnem Stacheldraht. Innerhalb ein kleiner ovaler Teich von Quellwasser, und blühende kleine Gesträuche. Dieser Käfig ist bewohnt von siebzig herrlichen Vogelarten. Hier genießt sie die Märchen der mysteriösen Natur aus allererster Hand, hat einen kleinen bequemen Fauteuil davor gerückt, sitzt stundenlang, beglückt und entrückt – .

      Geradeso könnte man mit Ihren Püppchen sitzen, stundenlang, Fräulein Marion Kaulitz! Ich denke mir kinderlose zarte Damen, die dieselben sanft an ihr Herz drückten. Im Schlafzimmer sollten sie in Sofaecken kauern, wie kleine zarte Lebewesen! Es gibt einige darunter, die man direkt lieb gewinnt. Ich kann es mir vorstellen, daß eine alte Jungfer solche fünfzig ankaufte und so in ihrem Zimmer eine Welt erblühen ließe, die ihr im realen Leben versagt geblieben ist. Eine Welt von Poesie und ohne die Enttäuschungen. Eine ist darunter, dreißig Kronen, von der man es sich vorstellen muß, daß sie unbedingt eine weltentrückte Dichterin werden würde. Ich sagte zu der wunderbar schönen bleichen Verkäuferin mit den aschblonden Haaren und der sanftmütigen Stimme: »Melden Sie es mir seinerzeit, welche Dame diese scheinbar unscheinbare Puppe erstanden habe! Es wird jedenfalls eine ›innerlich Adelige‹ sein – .« Die bleiche Verkäuferin errötete und sagte: »Ein fremder Herr hat sie heute bereits von selbst für mich erstanden – .«

      VARIÉTÉ

      »Sechs riesenstarke Männer und eine Sechzehnjährige, wunderbaren verklärten Antlitzes, und gewachsen wie ein edler Knabe. Man warf sie wie einen Gummiball, fing sie nach zahllosen Umdrehungen auf herkulischen Schultern geschickt auf. Dennoch zitterte man jedesmal für ihre edelzarten, unbeschreiblich rührenden, gebrechlichen Glieder. Sie blickte ekstatisch, ließ sich in die Luft wirbeln und auffangen und hätte, zufällig auf den Boden geschleudert und ermordet, zerbrochen, zerquetscht, keinen Laut von sich gegeben! Ekstatisch blickend wäre sie gestorben. Da dachte ein Graf: »Ich werde sie ihren Peinigern entziehen und ihrem Selbstmorde. Ich werde sie schützen, pflegen und behüten!« Aber das wunderbar verklärte Antlitz hätte sie dann sogleich verloren, und den edlen süßen Heldenblick wie in einer Schlacht, in der man gern vor dem Tode steht! Denn »leben ohne Ehre« ist da überflüssig geworden! O, Fräulein, gedenken Sie eines armseligen Zeitungsreferenten, der es nicht drucken lassen darf, daß er vor Ihnen hätte hinknien mögen! Sondern er mußte schreiben: »Einen wirklichen Rekord in der Parterreakrobatik bot die jugendliche Tochter des Truppendirektors. Eine Vereinigung von Kraft und Anmut – . Stürmischer Beifall belohnte aber auch ihre Leistung!« O, Menschheit, pfui über dich, die du noch immer die »spanische Stiergefechtsseele« hast, ohne Erbarmen und ohne Liebe, pfui! Fräulein M., Ihre edelzarten Glieder sind mehr wert als das begeisterte Gejohle einer herzlosen Menge. Gott beschütze Sie, Allerzarteste, in Ihrem gefahrvollen Berufe! Möge dennoch ein Graf Sie zuletzt erretten!«

      DIE ABGELEHNTE EINLADUNG

      »Sie luden ihn ein auf ihre Besitzung. Er könne dort tun und lassen, was er wolle, niemand würde Ansprüche an ihn stellen. Er habe seine Freiheit garantiert. Er kam nicht. Er hatte zu tiefe Achtung vor dem Fernverkehr zwischen Menschen, die sich wenigstens teilweise verstehen, zu viel Verachtung für den Nahverkehr, der unter allen Umständen Abgründe öffnet, in denen die Seelen zerschellen. Welche Freiheit konnte man ihm garantieren, nachdem er als Gast von selbst infolge seiner inneren Kultur unwillkürlich den Gastgeber ununterbrochen berücksichtigt hätte? Die großen Abgründe sind leicht mit Freundschaft zu überbrücken, unüberbrückbar sind die allerkleinsten; was ist es, wenn der fanatisch geliebte Hund des Gastgebers dem Gaste als ein verwöhntes, ekelhaftes Beest erscheint? Genügt das nicht, alle Werte umzuwerten und Verzweiflung in den Nerven zu erzeugen, wo früher edler Friede war? Ich will von Speisen und Getränken gar nicht reden, von Tageseinteilungen. Der Gast wird zum


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