Neues Altes. Peter Altenberg

Neues Altes - Peter Altenberg


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»Erkenntnisse« aus »Erkenntnis« allein haben Triebkraft. Sie zeitigen Blüten und Früchte am Baume der Erkenntnis! Der ganze mögliche Fortschritt also: Erkenntnisse haben und sie durchsetzen, ohne »physiologisch« dazu bereits genötigt zu sein! Zum Beispiel also, Krankenkost essen, ohne es nötig zu haben, keusch leben, ohne es nötig zu haben, zehn Stunden schlafen, ohne es nötig zu haben! Mit diesem gewonnenen Überschuß an Lebenskräften es versuchen, ein »höherer, besserer Mensch« zu werden!

      LEBENSBILD

      Die fünfjährige Marie Ch. mußte um 6 Uhr morgens, bei 10 Grad Kälte, nur mit einem Hemd bekleidet, den Fußboden des Vorhauses reiben. Ein Adeliger, ein Geschäftsmann wollte ich sagen, der zufällig in das Haus trat, machte die polizeiliche Anzeige. Alle ärmlichen Bewohner des weiten alten Hauses atmeten auf. Sie selbst hätten sich vor der Furie von Mutter nicht getraut, es zu tun.

      Der Richter zu der Mutter: » – und was ist es mit den blutigen Striemen auf dem Leibe dieses schwächlichen todbleichen Geschöpfes?!«

      »Dös Menscherl hat eh zu viel Blut – .«

      Der Richter war empört und verurteilte sie zu 8 Tagen. Nach diesen acht Tagen wird sie also jedenfalls das »vollblütige Menscherl« nicht mehr den Boden des Vorhauses reiben lassen, da dort »Adelige« vorbeigehen und die Anzeige machen könnten. Im trauten Gemache, einen Knebel im Munde, gibt es verschwiegenere Martern für irgend etwas. Nun hat aber höchstwahrscheinlich diese »Mutter« eine Entschuldigung. Denn sie nahm das Mäderl von Bauersleuten weg am Lande, die es zwar sehr fürsorglich behandelten, aber immerhin 6 bis 10 Kronen monatlich erhielten. Grund genug, ein Kind als »unerträgliche Last« zu empfinden für durch Armut in einem ununterbrochenen Zustande von »reizbarer Schwäche« befindliche Nervensysteme. Grauen befällt den Allweisen erst in dem gar nicht seltenen Falle, wo Pflegeeltern ein abgöttisch geliebtes, edel gehegtes Kindchen ohne einen Kreuzer Entschädigung à tout prix behalten wollen, und die »Eltern« es nicht gestatten, sondern es nach Hause nehmen, um es der gerechten Strafe, geboren worden zu sein, unter unermeßlichen Qualen zu unterziehen, bis der Frevel seiner Geburt mit dem Tode gesühnt ist!

      Richter: »Ihr Kind hat es doch dort so gut gehabt, und Sie selbst haben in zwei engen Stuben acht Kinder zu ernähren?!«

      »Wo acht hungern, kann das neunte auch mithungern, soll sie’s besser haben als mir, warum?!«

      Richter: »Der Bauer, der Ziehvater, hat erklärt, er setze es zur Erbin ein – .«

      »Nix, dös Kind g’hört zu seine Eltern, zu seine Geschwister – .«

      Das Kind wurde später zu Tode gemartert.

      Ich stelle einen einfachen logischen Gesetzesantrag: »Kinder, die nachweislich es bei Zieheltern, die keinerlei Entschädigung dafür verlangen, gut haben, dürfen den Eltern, falls sie in bedrängten Verhältnissen leben, unter keiner Bedingung wieder ausgefolgt werden

      LEBENSBILDER AUS DER TIERWELT

      Ich habe mit Begeisterung diese Hefte angesehen, gelesen. Es ist endlich die Natur »aus erster Hand«, unverfälscht durch den Künstler, der sich seit Jahrhunderten verbrecherischerweise zwischen Gott und die Urromantik des Seins drängt, ein zwar notwendiger, aber für unsereinen überflüssiger Vermittler und Erklärer der Schätze des Daseins! Wir sind selbst »Künstlermenschen« geworden!

      Dieser »Hochzeitstag« z. B. der Eber im dunklen alten Forste; ja, weshalb hat bis heute keiner von den protokollierten »Landschaftern« so etwas gemalt?!? Diese schwarzen Ungetüme, in Liebe aufgelöst, einer auf den anderen getürmt; die anderen schauen dumm zu, und der Forst ist voll riesiger schwarzer Stämme. Solche Dinge bringt heutzutage die »Kamera« fertig und beschämt den Maler, der den Eber »mit seinem Auge«, also falsch sieht! Der Japaner allein bemühte sich, der Natur mit unsäglichem Fleiße nahezukommen, beizukommen. Aber bei uns steht immer der Größenwahn des »Menschen« der einfachen schönen Wahrheit heimtückisch hinderlich im Wege! Der Maler bringt überall »seine Seele« hinein, für diejenigen, die nicht einmal »ihre eigene dumme Seele« besitzen! Aber Gottes Seele, die aus jeglichem ausstrahlt, muß endlich ohne Vermittlung dieses Hofmeisters »Künstler« erfaßt werden können! Wer eine Frau erst als wertvoll, als mysteriös, als Verhängnis empfinden, sehen, erfassen könnte, bis der geniale Maler ihre Werte gemalt, der Dichter ihre Werte besungen hätte, dem, dem wird sie ihr Leben lang nur ein »unenträtselbares Sexualtierchen« bleiben! Der Künstler ist ein Lehrer und Vermittler, und solange man seiner bedarf und er als wertvoll erscheint, ist man nur ein »Schüler des Lebens«, ein nicht schauen und hören Könnender, in Gottes All hinein, ein Menschlein, fern dem Herzen und Gehirne, das in der Natur überall geheimnisvoll verborgen liegt, auf daß erst der zum wirklichen Leben »Ausgereifte« es genießen dürfe auf seinem Weg zum Heile, zur Gottähnlichkeit! Den anderen ist es wohlweislich verschlossen, und man schickt diese »Babies« in die »Lebensschule« zum Herrn Lehrer »Künstler«, der ihnen primitiverweise die Anfangsgründe beibringen soll, mit leichtfaßlichen Beispielen, »Kunstwerke« genannt!

      Wir aber entnehmen diesen mit der einfachen »Kamera« aufgenommenen »Lebensbildern aus der Tierwelt«, R. Voigtländers Verlag, Leipzig, und diesen Texten, die nur klar und einfach berichten von den Ereignissen des Tierlebens bei Tag und Nacht und zu jeder Stunde, und von den »Homerischen Kämpfen« unter Grashalmen und Gebüschen verborgen, wir entnehmen ihnen alle Poesien, alle Romantik, alle Tragödien, alle Rätsel, die es hienieden gibt! Unsere Lehrer sind Gott und Natur!

      Man müßte eigentlich einer geliebten Frau diese in Lieferungen erscheinenden, »Lebensbilder aus der Tierwelt«, R. Voigtländers Verlag, Leipzig, als Geschenk senden. Denn es ist ein absoluter Prüfstein für ihre »inneren Werte«; wie sie darauf nämlich reagierte!?

      Nun, ich habe das mit einer unbeschreiblich verehrten Dame getan.

      Sie schrieb mir zurück: »Lieber Freund, sein’s mir nicht bös, aber dös interessiert mich leider gar nicht …«

      Nun, hat es meine Anhänglichkeit an sie aber zum Schwinden gebracht?!? Keine Spur!

      BRIEF AN MITZI VON DER »LAMINGSON-TRUPPE«, DÄNIN

Liebes, liebes Fräulein, Mitzi von der »Lamingson-Truppe«!

      Ich weiß es nicht, wie lange Sie noch in Wien und hier im »Casino de Paris« bleiben werden, und eines Tages können Sie fort sein, fort auf Nimmerwiedersehen, irgendwohin in die lustige oder traurige Welt der Künstler, der Artisten, tausend und tausend merkwürdigen Schicksalen und Begebenheiten ausgesetzt!

      Mögen Sie es daher wissen, daß ein alter armer glatzköpfiger uneleganter Dichter Ihnen nachweinen wird und Ihre herrliche liebliche wundervolle Persönlichkeit gleichsam im Innern seiner Augen aufbewahren wird, lange lange lange Zeit – .

      Man vergleicht oft junge Mädchen mit schlanken Rehen im Walde; aber niemals, niemals hat ein Vergleich so sehr gestimmt! Sie sind das schlanke rührende edelbeinige Reh, nicht ahnend, woher der Schuß eines grausamen Jägers kommen wird im Waldesfrieden – .

      Ihre lieben lieben, beim Lächeln zusammengezwickten Augen, werde ich nie nie vergessen, nie Ihre blondbraunen Haare, Ihre aristokratisch-noblen Glieder, Ihre edelgebogene und dennoch rechtzeitig abstumpfende Nase, Ihren süßen Mund!

      Wenn Sie fort sind, Mitzi, Fräulein Mitzi, wird es mir sein, wie wenn mir jemand ungeheuer Liebes gestorben wäre, und ich werde Ihnen nachtrauern und um Sie besorgt sein!

      Ihre außergewöhnliche Schönheit, Ihr Leib, der wie das zarte Gedicht eines Dichters ist, haben mich tief, tief gerührt; und ich möchte, daß junge, reiche elegante Männer mit derselben Ehrfurcht vor Ihrer lieblichen Herrlichkeit sich innerlich verneigen könnten wie ich alter Mann.

      Man müßte Sie betreuen und beschützen wie einen kostbaren lebendigen Gegenstand, man müßte für Sie sorgen bei Tag und bei Nacht. – Mit liebevollster Fürsorge!

      Lächeln Sie nicht, wenn Sie diese Zeilen lesen, Ihre Härte könnte mich nicht verwunden, nicht verletzen – .

      Ich bete zu Gott, daß Sie glücklich


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