Hamburgische Dramaturgie. Gotthold Ephraim Lessing

Hamburgische Dramaturgie - Gotthold Ephraim Lessing


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des Stuecks vom Mericourt sagt: "Ich will ihm so viel geben, dass er in der grossen Welt leben kann, die sein Vaterland ist; aber sehen mag ich ihn nicht mehr!" wer hat den Mann gelehrt, mit ein paar erhobenen Fingern, hierhin und dahin bewegt, mit einem einzigen Kopfdrehen, uns auf einmal zu zeigen, was das fuer ein Land ist, dieses Vaterland des Mericourt? Ein gefaehrliches, ein boeses Land!

      Tot linguae, quot membra viro!

      Den vierundzwanzigsten Abend (montags, den 25. Mai) ward die "Amalia" des Herrn Weisse aufgefuehret.

      "Amalia" wird von Kennern fuer das beste Lustspiel dieses Dichters gehalten. Es hat auch wirklich mehr Interesse, ausgefuehrtere Charaktere und einen lebhaftern gedankenreichern Dialog, als seine uebrige komische Stuecke. Die Rollen sind hier sehr wohl besetzt; besonders macht Madame Boek den Manley, oder die verkleidete Amalia, mit vieler Anmut und mit aller der ungezwungenen Leichtigkeit, ohne die wir es ein wenig sehr unwahrscheinlich finden wuerden, ein junges Frauenzimmer so lange verkannt zu sehen. Dergleichen Verkleidungen ueberhaupt geben einem dramatischen Stuecke zwar ein romanenhaftes Ansehen, dafuer kann es aber auch nicht fehlen, dass sie nicht sehr komische, auch wohl sehr interessante Szenen veranlassen sollten. Von dieser Art ist die fuenfte des letzten Akts, in welcher ich meinem Freunde einige allzu kuehn kroquierte Pinselstriche zu lindern und mit dem uebrigen in eine sanftere Haltung zu vertreiben wohl raten moechte. Ich weiss nicht, was in der Welt geschieht; ob man wirklich mit dem Frauenzimmer manchmal in diesem zudringlichen Tone spricht. Ich will nicht untersuchen, wie weit es mit der weiblichen Bescheidenheit bestehen koenne, gewisse Dinge, obschon unter der Verkleidung, so zu brueskieren. Ich will die Vermutung ungeaeussert lassen, dass es vielleicht gar nicht einmal die rechte Art sei, eine Madame Freemann ins Enge zu treiben; dass ein wahrer Manley die Sache wohl haette feiner anfangen koennen; dass man ueber einen schnellen Strom nicht in gerader Linie schwimmen zu wollen verlangen muesse; dass—Wie gesagt, ich will diese Vermutungen ungeaeussert lassen; denn es koennte leicht bei einem solchen Handel mehr als eine rechte Art geben. Nachdem naemlich die Gegenstaende sind; obschon alsdenn noch gar nicht ausgemacht ist, dass diejenige Frau, bei der die eine Art fehlgeschlagen, auch allen uebrigen Arten Obstand halten werde. Ich will bloss bekennen, dass ich fuer mein Teil nicht Herz genug gehabt haette, eine dergleichen Szene zu bearbeiten. Ich wuerde mich, vor der einen Klippe zu wenig Erfahrung zu zeigen, ebenso sehr gefuerchtet haben, als vor der andern, allzu viele zu verraten. Ja wenn ich mir auch einer mehr als Crebillonschen Faehigkeit bewusst gewesen waere, mich zwischen beide Klippen durchzustehlen: so weiss ich doch nicht, ob ich nicht viel lieber einen ganz andern Weg eingeschlagen waere. Besonders da sich dieser andere Weg hier von selbst oeffnet. Manley, oder Amalia, wusste ja, dass Freemann mit seiner vorgeblichen Frau nicht gesetzmaessig verbunden sei. Warum konnte er also nicht dieses zum Grunde nehmen, sie ihm gaenzlich abspenstig zu machen, und sich ihr nicht als einen Galan, dem es nur um fluechtige Gunstbezeigungen zu tun, sondern als einen ernsthaften Liebhaber anzutragen, der sein ganzes Schicksal mit ihr zu teilen bereit sei? Seine Bewerbungen wuerden dadurch, ich will nicht sagen unstraeflich, aber doch unstraeflicher geworden sein; er wuerde, ohne sie in ihren eigenen Augen zu beschimpfen, darauf haben bestehen koennen; die Probe waere ungleich verfuehrerischer und das Bestehen in derselben ungleich entscheidender fuer ihre Liebe gegen Freemann gewesen. Man wuerde zugleich einen ordentlichen Plan von seiten der Amalia dabei abgesehen haben; anstatt dass man itzt nicht wohl erraten kann, was sie nun weiter tun koennen, wenn sie ungluecklicherweise in ihrer Verfuehrung gluecklich gewesen waere.

      Nach der "Amalia" folgte das kleine Lustspiel des Saintfoix, "Der Finanzpachter". Es besteht ungefaehr aus ein Dutzend Szenen von der aeussersten Lebhaftigkeit. Es duerfte schwer sein, in einen so engen Bezirk mehr gesunde Moral, mehr Charaktere, mehr Interesse zu bringen. Die Manier dieses liebenswuerdigen Schriftstellers ist bekannt. Nie hat ein Dichter ein kleineres niedlicheres Ganze zu machen gewusst, als er.

      Den fuenfundzwanzigsten Abend (dienstags, den 26. Mai) ward die "Zelmire" des Du Belloy wiederholt.

      Einundzwanzigstes Stueck Den 10. Julius 1767

      Den sechsundzwanzigsten Abend (freitags, den 29. Mal) ward "Die Muetterschule" des Nivelle de la Chaussee aufgefuehret.

      Es ist die Geschichte einer Mutter, die fuer ihre parteiische Zaertlichkeit gegen einen nichtswuerdigen schmeichlerischen Sohn die verdiente Kraenkung erhaelt. Marivaux hat auch ein Stueck unter diesem Titel. Aber bei ihm ist es die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes, gehorsames Kind an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle Welt und Erfahrung laesst: und wie geht es damit? Wie man leicht erraten kann. Das liebe Maedchen hat ein empfindliches Herz; sie weiss keiner Gefahr auszuweichen, weil sie keine Gefahr kennet; sie verliebt sich in den ersten in den besten, ohne Mama darum zu fragen, und Mama mag dem Himmel danken, dass es noch so gut ablaeuft. In jener Schule gibt es eine Menge ernsthafte Betrachtungen anzustellen; in dieser setzt es mehr zu lachen. Die eine ist der Pendant der andern; und ich glaube, es muesste fuer Kenner ein Vergnuegen mehr sein, beide an einem Abende hintereinander besuchen zu koennen. Sie haben hierzu auch alle aeusserliche Schicklichkeit; das erste Stueck ist von fuenf Akten, das andere von einem.

      Den siebenundzwanzigsten Abend (montags, den 1. Junius) ward die "Nanine" des Herrn von Voltaire gespielt.

      Nanine? fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im Jahre 1749 zuerst erschien. Was ist das fuer ein Titel? Was denkt man dabei?—Nicht mehr und nicht weniger, als man bei einem Titel denken soll. Ein Titel muss kein Kuechenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalte verraet, desto besser ist er. Dichter und Zuschauer finden ihre Rechnung dabei, und die Alten haben ihren Komoedien selten andere, als nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kenne kaum drei oder viere, die den Hauptcharakter anzeigten oder etwas von der Intrige verrieten. Hierunter gehoeret des Plautus "Miles gloriosus". Wie koemmt es, dass man noch nicht angemerket, dass dieser Titel dem Plautus nur zur Haelfte gehoeren kann. Plautus nannte sein Stueck bloss Gloriosus; so wie er ein anderes "Truculentus" ueberschrieb. Miles muss der Zusatz eines Grammatikers sein. Es ist wahr, der Prahler, den Plautus schildert, ist ein Soldat; aber seine Prahlereien beziehen sich nicht bloss auf seinen Stand und seine kriegerische Taten. Er ist in dem Punkte der Liebe ebenso grosssprecherisch; er ruehmt sich nicht allein der tapferste, sondern auch der schoenste und liebenswuerdigste Mann zu sein. Beides kann in dem Worte Gloriosus liegen; aber sobald man Miles hinzufuegt, wird das gloriosus nur auf das erstere eingeschraenkt. Vielleicht hat den Grammatiker, der diesen Zusatz machte, eine Stelle des Cicero12 verfuehrt; aber hier haette ihm Plautus selbst mehr als Cicero gelten sollen. Plautus selbst sagt:

      ALAZON Graece huic nomen est Comoediae

      Id nos latine GLORIOSUM dicimus—

      und in der Stelle des Cicero ist es noch gar nicht ausgemacht, dass eben das Stueck des Plautus gemeinet sei. Der Charakter eines grosssprecherischen Soldaten kam in mehrern Stuecken vor. Cicero kann ebensowohl auf den Thraso des Terenz gezielet haben.—Doch dieses beilaeufig. Ich erinnere mich, meine Meinung von den Titeln der Komoedien ueberhaupt schon einmal geaeussert zu haben. Es koennte sein, dass die Sache so unbedeutend nicht waere. Mancher Stuemper hat zu einem schoenen Titel eine schlechte Komoedie gemacht; und bloss des schoenen Titels wegen. Ich moechte doch lieber eine gute Komoedie mit einem schlechten Titel. Wenn man nachfragt, was fuer Charaktere bereits bearbeitet worden, so wird kaum einer zu erdenken sein, nach welchem, besonders die Franzosen, nicht schon ein Stueck genannt haetten. Der ist laengst dagewesen! ruft man. Der auch schon! Dieser wuerde vom Moliere, jener vom Destouches entlehnet sein! Entlehnet? Das koemmt aus den schoenen Titeln. Was fuer ein Eigentumsrecht erhaelt ein Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, dass er seinen Titel davon hergenommen? Wenn er ihn stillschweigend gebraucht haette, so wuerde ich ihn wiederum stillschweigend brauchen duerfen, und niemand wuerde mich darueber zum Nachahmer machen. Aber so wage es einer einmal, und mache z.E. einen neuen Misanthropen. Wenn er auch keinen Zug von dem Moliereschen nimmt, so wird sein Misanthrop doch immer nur eine Kopie heissen. Genug, dass Moliere den Namen zuerst gebraucht hat. Jener hat unrecht, dass er funfzig Jahr spaeter lebet; und dass die Sprache fuer die unendlichen Varietaeten des menschlichen Gemuets nicht auch unendliche Benennungen hat.

      Wenn der Titel "Nanine" nichts sagt, so sagt der andere Titel desto mehr: "Nanine, oder das besiegte Vorurteil". Und warum soll ein Stueck nicht zwei Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwei, drei Namen. Die Namen sind der Unterscheidung


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<p>12</p>

"De Officiis", Lib. I. Cap. 33.