Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке. Эрих Мария Ремарк
sah durch die Scheibe auf Helen und wollte den Hörer niederlegen. „Weißt du, wo du unterkommen wirst?“ fragte Martens.
„Ich glaube, ja. Sorge dich nicht. Vergiss den Abend, als hättest du geträumt.“
„Wenn ich noch etwas tun kann“, sagte er zögernd, „lass es mich wissen. Ich war zuerst zu überrascht. Du verstehst…“
„Ja, Rudolf, ich verstehe. Und wenn ich etwas brauche, werde ich es dich wissen lassen.“
„Wenn du hier übernachten willst – wir könnten dann noch miteinander reden…“
Ich lächelte. „Wir werden sehen. Ich muss jetzt aufhören…“
„Ja, natürlich“, sagte er eilig. „Verzeih. Alles Glück, Josef. Wirklich!“ „Danke, Rudolf.“
Ich trat aus der stickigen Kabine. Ein Windstoß fasste mich und riss mir fast den Hut vom Kopf. Helen kam rasch heran. „Komm nach Hause! Du hast mich mit deiner Vorsicht angesteckt. Es ist plötzlich, als ob hier hundert Augen aus der Dunkelheit starrten.“ „Hast du noch dasselbe Mädchen?“ „Lena? Nein, sie spionierte für meinen Bruder. Er wollte wissen, ob du mir schriebest. Oder ich dir.“ „Und das jetzige?“
„Sie ist dumm und gleichgültig. Ich kann sie wegschicken, und sie wird sich freuen und nicht nachdenken.“
„Du hast sie noch nicht weggeschickt?“
Sie lächelte und war plötzlich sehr schön. „Ich musste doch erst sehen, ob du wirklich hier wärest.“
„Du musst sie wegschicken, ehe ich komme“, sagte ich. „Sie darf uns nicht sehen. Können wir nicht anderswohin gehen?“
„Wohin?“
Ja, wohin? – Helen lachte plötzlich. „Da stehen wir wie Halbwüchsige, die sich heimlich treffen müssen, weil ihre Eltern sie noch für zu jung halten! Wohin können wir gehen? In den Schlosspark? Er wird um acht Uhr geschlossen. Auf eine Bank in den städtischen Anlagen? In eine Konditorei? Schon zu gefährlich!“
Sie hatte recht. Es waren die kleinen Tatsachen, die ich nicht vorausgesehen hatte – man sieht sie nie voraus.
„Ja“, sagte ich. „Wir stehen da wie Halbwüchsige. Als wären wir in unsere Jugend zurückgeworfen.“
Ich blickte sie an. Sie war neunundzwanzig Jahre alt; aber sie wirkte so, wie ich sie früher gekannt hatte. Die fünf Jahre dazwischen schienen abgeglitten zu sein wie Wasser von einem jungen Seehund. „Ich bin auch gekommen wie ein Halbwüchsiger“, sagte ich. „Alle Überlegungen waren dagegen, aber wie ein Halbwüchsiger habe ich nicht weitergedacht. Ich wusste nicht einmal, ob du nicht längst mit jemand anderem lebtest.“
Sie antwortete nicht. Ihr braunes Haar glänzte im Licht der Laterne. „Ich werde vorausgehen und das Mädchen wegschicken“, sagte sie. „Aber ich hasse es, dich allein auf der Straße zu lassen. Du könntest wieder verschwinden – so, wie du aufgetaucht bist. Wo willst du so lange bleiben?“
„Da, wo du mich gefunden hast. In einer Kirche. Ich kann zum Dom zurückgehen. Kirchen sind sicher, Helen. Ich bin ein großer Kenner französischer, schweizer und italienischer Kirchen und Museen geworden.“
„Komm in einer halben Stunde“, flüsterte sie. „Erinnerst du dich noch an die Fenster unserer Wohnung?“
„Ja“, sagte ich.
„Wenn das Eckfenster offen ist, ist alles in Ordnung, und du kannst heraufkommen. Wenn es geschlossen ist, warte, bis ich es öffne.“
Ich musste an Martens und meine Jugend denken, wenn wir Indianer spielten. Damals war es ein Licht im Fenster gewesen: das Zeichen für Lederstrumpf oder Winnetou, der unten wartete. Wiederholte es sich? Gab es das, dass sich etwas wiederholte?
„Gut“, sagte ich und wollte gehen.
„Wohin gehst du?“
„Ich will sehen, ob die Marienkirche noch offen ist. Soweit ich mich erinnere, ist sie ein schönes Beispiel gotischer Baukunst. Ich habe inzwischen gelernt, das zu schätzen.“
„Lass das!“ sagte sie. „Es ist schlimm genug, dass ich dich allein lassen muss.“
„Helen“, erwiderte ich. „Ich habe gelernt, auf mich aufzupassen.“
Sie schüttelte den Kopf. Ihr Gesicht verlor plötzlich jeden Versuch zur Tapferkeit. „Nicht genug“, sagte sie.
„Nicht genug. Was tue ich, wenn du nicht kommst?“
„Du kannst nichts tun. Ist deine Telefonnummer noch dieselbe?“
„Ja“.
Ich berührte ihre Schulter. „Helen“, sagte ich. „Alles wird gut gehen.“
Sie nickte. „Ich bringe dich zur Marienkirche. Ich will wissen, dass du sicher hinkommst.“
Wir gingen schweigend hin. Es war nicht weit. Helen verließ mich, ohne ein Wort zu sagen. Ich sah ihr nach, während sie über den alten Marktplatz ging. Sie ging rasch und blickte sich nicht um.
Ich blieb im Schatten des Portals stehen. Rechts lag das Rathaus im Schatten; nur auf den steinernen Gesichtern der alten Skulpturen schimmerte ein Streifen Mondlicht. Auf der Freitreppe davor war das Ende des Dreißigjährigen Krieges im Jahre 1648 verkündet worden; ebenso der Beginn des Tausendjährigen Reiches im Jahre 1933. Ich überlegte, ob ich erleben würde, dass auch sein Ende hier gemeldet werden würde. Ich hatte wenig Hoffnung.
Ich versuchte nicht, in die Kirche zu gehen. Es war mir auf einmal zuwider, mich zu verstecken. Ich wollte zwar nicht unvorsichtig werden; aber seit ich Helen gesehen hatte, wollte ich nicht mehr ohne Not ein gehetztes Tier sein.
Ich ging weiter, um nicht aufzufallen. Die Stadt, die vorher gefährlich, bekannt und entfremdet gewesen war, fing jetzt an zu leben. Ich spürte, dass es so war, weil ich selbst begonnen hatte zu leben. Das anonyme Dasein der letzten Jahre, das nur ein Überleben gewesen war, ein Wachsen ohne Frucht von einem Tag zum anderen, schien mir auf einmal nicht mehr so unnütz gewesen zu sein. Es hatte mich geformt, und wie eine schwankende Blüte, heimlich aufgebrochen, war plötzlich ein Lebensgefühl da, das ich früher nicht gekannt hatte. Es hatte nichts mit Romantik zu tun; aber es war so neu und erregend, als wäre es eine große, leuchtende, tropische Blüte, hingezaubert auf einen durchschnittlichen Strauch, von dem man höchstens ein paar bescheidene, durchschnittliche, kleine Knospen erwartet hätte. Ich kam an den Fluss und blieb auf der Brücke stehen und blickte über das Geländer auf das Wasser. Links von mir stand ein Wachtturm aus dem Mittelalter, in dem jetzt eine Wäscherei eingerichtet war. Die Fenster waren erleuchtet, und die Mädchen arbeiteten noch. Das Licht wehte in breiten Reflexen über den Fluss darunter. Der schwarze Wall mit den Linden stand vor dem hohen Himmel, und rechts lagen die Gärten mit der Silhouette des Domes darüber.
Ich stand sehr still und war völlig entspannt. Nichts war zu hören als das Plätschern des Wassers und die gedämpften Stimmen der Wäscherinnen hinter den Fenstern. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagten. Was ich hörte, schienen nur menschliche Laute zu sein, die noch nicht zu Worten geworden waren. Sie waren nur Zeichen, dass Menschen nahe waren – aber noch nicht Zeichen der Lüge, des Betrugs, der Dummheit und der höllischen Einsamkeit, die sie als fertige Worte wie hässliche Obertöne einer rein geplanten Melodie gehabt hätten.
Ich atmete, und mir war, als atme ich im selben Rhythmus wie das Wasser. Für einen Augenblick, der ohne Zeit war, war mir sogar, als wäre ich ein Teil der Brücke und das Wasser flösse wie mein Atem und mit ihm durch mich hindurch. Es schien mir selbstverständlich, und ich wunderte mich nicht. Ich dachte nicht; auch meine Gedanken waren so unbewusst geworden wie mein Atem und das Wasser.
Ein abgeschirmtes Licht wanderte rasch durch die schwarze Allee der Linden zu meiner Linken. Meine Augen folgten ihm, und dann hörte ich die Stimmen der Wäscherinnen wieder. Es kam mir zum Bewusstsein, dass ich sie eine Zeitlang nicht gehört hatte. Auch den Geruch der Linden spürte ich jetzt wieder. Ein schwacher Wind trieb ihn über das Wasser.
Das wandernde Licht erlosch, und gleichzeitig wurden