Die Nacht von Lissabon / Ночь в Лиссабоне. Книга для чтения на немецком языке. Эрих Мария Ремарк
Welle der Emigralion“, erwiderte ich. „Man hatte noch Mitleid mit ihnen. Man gab ihnen Erlaubnis zu arbeiten und Papiere. Nansenpässe*. Als wir kamen, war das Mitleid der Welt längst aufgebraucht. Wir waren lästig wie Termiten, und fast niemand war da, der für uns noch seine Stimme erhob. Wir dürfen nicht arbeiten, nicht existieren und haben immer noch keine Papiere.“
Ich war nervös, seit wir hier saßen. Es lag wahrscheinlich an dem geschlossenen Raum mit den vielen Vorhängen, dem Bewusstsein, dass Deutsche hier sein sollten, und der Tatsache, dass ich zu weit von der Tür weg saß, um entkommen zu können – ich war daran gewöhnt, überall nahe beim Ausgang zu sitzen. Ich war auch nervös, weil ich das Schiff nicht mehr sah. Wer wusste, ob es nicht nachts noch die Anker lichtete, früher, als angesagt war, wegen irgendeiner Warnung.
Schwarz schien es zu spüren. Er griff in die Tasche und legte die beiden Fahrscheinhefte vor mich hin. „Nehmen Sie sie. Ich bin kein Sklavenhändler. Nehmen Sie sie und gehen Sie, wenn Sie wollen.“
Ich sah ihn sehr beschämt an. „Sie verstehen mich falsch. Ich habe Zeit. Alle Zeit der Welt.“
Schwarz antwortete nicht. Er wartete. Ich nahm die beiden Hefte und steckte sie ein.
„Ich richtete es so ein, dass ich einen Zug fand, der am frühen Abend in Osnabrück ankam“, fuhr Schwarz fort, als wäre nichts passiert. „Mir war plötzlich, als überschritte ich jetzt erst die Grenze. Alles vorher war noch Fremde gewesen, selbst Deutschland; jetzt aber begann langsam jeder Baum zu sprechen. Ich kannte die Dörfer, durch die wir fuhren, ich hatte Schulausflüge dorthin gemacht; ich war mit Helen da gewesen in den ersten Wochen unserer Bekanntschaft, ich hatte die Landschaft geliebt, so wie ich die Stadt geliebt hatte mit ihren Häusern und Gärten.
Mein Abscheu war bis dahin ein konformer, abstrakter Block gewesen. Das, was geschehen war, hatte alles in mir paralysiert und versteinert. Ich hatte nie das Bedürfnis, ja eher sogar Angst davor gehabt, es zu analysieren oder zu detaillieren. Jetzts plötzlich, begannen die Dinge zu sprechen, die dazugehörten, aber nichts damit zu tun hatten.
Die Landschaft hatte sich nicht geändert. Sie war dieselbe geblieben. Die Kirchtürme standen wie früher im gleichen sanften Grün ihrer Patina vor dem herabsinkenden Abend; der Fluss spiegelte den Himmel wie immer. Er erinnerte mich an die Zeit, als ich dort gefischt und von Abenteuern in fremden Ländern geträumt hatte – ich hatte sie später dann erlebt, aber anders, als ich sie mir damals vorgestellt hatte. Die Wiesen mit ihren Schmetterlingen und Libellen und die Hänge mit den Bäumen und den wilden Blumen hatten sich nicht verändert, sie lagen da wie zur Zeit meiner Jugend, und in ihnen lag meine Jugend – begraben, wenn ich so denken wollte, oder aufgehoben, wenn ich es anders zu nehmen vermochte. Sie wurde auch durch nichts gestört. Ich sah wenige Menschen und keine Uniformen vom Zuge aus. Ich sah nur den Abend, der die Landschaft langsam erfüllte. Es gab schon Rosen und Dahlien und Lilien in den winzigen Gärten der Bahnwärterhäuschen, sie waren da wie immer, der Aussatz hatte sie nicht angefressen, sie hingen über die hölzernen Zäune, so, wie sie in Frankreich hingen, und auf den Wiesen standen die Kühe, so, wie sie in den Wiesen der Schweiz standen, braun und schwarz und weiß – ohne Hakenkreuz —, mit denselben geduldigen Augen wie stets. Ich sah auch einen Storch auf einem Bauernhause klappern, und die Schwalben flogen, wie sie immer und überall fliegen. Nur die Menschen waren anders geworden, das wusste ich, aber ich konnte es an diesem Abend nicht sehen und auch nicht begreifen. Sie waren auch nicht so uniform anders, wie ich sie mir bisher gedankenlos vorgestellt hatte. Das Abteil füllte und leerte sich und füllte sich wieder. Es waren in dieser Stunde wenige Uniformen darunter, fast alles waren Leute des Alltags, mit ähnlichen Gesprächen, wie ich sie in Frankreich und in der Schweiz gehört hatte – über das Wetter, die Ernte, über Tagesereignisse und die Furcht vor dem Kriege. Sie hatten Angst davor, und so, wie man außerhalb Deutschlands wusste, dass Deutschland ihn wollte, so hörte ich hier, dass das Ausland ihn Deutschland aufzwang. Fast jeder war für Frieden, wie immer kurz vor der Katastrophe.
Der Zug hielt. Ich schob mich im Knäuel der anderen durch die Sperre. Die Bahnhofshalle hatte sich nicht verändert, seit ich sie zuletzt gesehen hatte; sie schien nur kleiner und staubiger zu sein, als ich sie im Gedächtnis hatte.
Als ich auf den Bahnhofsplatz trat, fiel alles, was ich vorher gedacht hatte, von mir ab. Es war dämmerig und feucht wie nach einem Regen, ich sah keine Landschaft mehr, alles in mir bebte auf einmal, und ich wusste, dass ich von jetzt an in großer Gefahr war. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, mir könne nichts passieren. Es war, als stünde ich unter einer Glasglokke, die mich zwar schützte, aber jeden Augenblick zerspringen konnte.
Ich ging zum Schalter in die Halle zurück, um mir ein Retourbillett* nach Münster zu kaufen; ich konnte nicht in Osnabrück wohnen. Es war zu gefährlich. „Wann geht der letzte Zug?“ fragte ich den Beamten, der mit spiegelnder Glatze im gelben Licht hinter seinem Schalter saß, wie ein Kleinstadtbuddha, sicher und gefeit.
„Einer um zweiundzwanzig Uhr zwanzig, einer um dreiundzwanzig Uhr zwölf.“
Ich ging zu einem Automaten und zog eine Bahnsteigkarte. Ich wollte sie zur Hand haben, falls ich schnell verschwinden musste, zu einer Zeit, wenn mein Billett noch nicht fällig gewesen wäre. Bahnsteige waren in der Regel schlechte Verstecke, aber man hat immer mehrere zur Auswahl – drei in Osnabrück – und konnte rasch in irgendeinen Zug steigen, der abfuhr, und dem Schaffner erklären, dass man sich geirrt habe, nachzahlen und am nächsten Ort aussteigen.
Ich hatte beschlossen, einen Freund aus früheren Jahren, von dem ich wusste, dass er kein Anhänger des Regimes gewesen war, anzurufen. Am Telefon würde ich herausfinden, ob er mir helfen könne. Meine Frau direkt anzurufen, wagte ich nicht, weil ich nicht wusste, ob sie allein wohnte.
Ich stand in der kleinen Glaskabine mit dem Telefonbuch und dem Apparat vor mir. Das Herz schlug mir so stark, als ich die Seiten mit den beschmutzten und geknickten Ecken umblätterte, dass ich glaubte es zu hören; ich glaubte sogar, dass andere es hören könnten, und beugte mein Gesicht tiefer, damit man mich nicht erkennen könne. Ohne nachzudenken, hatte ich die Seite aufgeschlagen mit dem Buchstaben, mit dem mein früherer Name begann. Ich fand den Namen meiner Frau, die Telefonnummer war dieselbe, aber die Adresse war verändert. Statt Rißmüller-Platz hieß sie jetzt Hitler-Platz.
Im Augenblick, als ich die Adresse sah, schien es mir, als würde die trübe Birne in der Kabine hundertfach verstärkt. Ich blickte auf, so sehr hatte ich das Gefühl, ich stünde in tiefer Nacht in einem grell erleuchteten Glaskasten – oder aber ein Scheinwerfer sei von außen auf mich gerichtet. Der ganze Irrsinn meines Unternehmens kam mir wieder voll zum Bewusstsein.
Ich verließ die Kabine und ging durch die halbdunkle Halle. Die Schilder für „Kraft durch Freude“ und die Reklamen für deutsche Kurorte drohten mit ihren blauen Himmeln und fröhlichen Menschen auf mich herab. Ein paar Züge mussten angekommen sein; ein Schwärm von Reisenden kam die Treppen herauf. Aus einer Gruppe löste sich ein SS-Mann*. Er kam auf mich zu.
Ich lief nicht weg. Es konnte sein, dass er mich nicht meinte. Aber er blieb vor mir stehen und sah mich an.
„Verzeihen Sie, haben Sie Feuer?“ fragte er.
„Feuer?“ wiederholte ich, und dann rasch: „Gewiß! Ein Streichholz!“
Ich griff in die Tasche und suchte.
„Wozu ein Streichholz?“ sagte der SS-Mann erstaunt. „Ihre Zigarette brennt ja!“
Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich geraucht hatte. Jetzt hielt ich ihm meine Zigarette hin. Er hielt seine eigene an das glühende Ende und zog. „Was ist denn das für eine Zigarette, die Sie da rauchen?“ fragte er dann. „Die riecht ja fast wie eine Zigarre!“
Es war eine französische Gauloise. Ich hatte einige Päckchen davon mitgenommen, als ich die Grenze überschritt. „Geschenkt von einem Freunde“, erwiderte ich. „Französisches Kraut. Schwarzer Tabak. Er hat sie von der Reise mitgebracht. Mir sind sie auch zu stark.“
Der SS-Mann lachte. „Am besten, man ließe das Rauchen ganz bleiben, was? So wie der Führer. Aber wer kann das, besonders in diesen Zeiten?“ Er grüßte und ging.
Schwarz lächelte