Der Richter und sein Henker. Grieche sucht Griechin / Судья и его палач. Грек ищет гречанку. Книга для чтения на немецком языке. Фридрих Дюрренматт
mit dem Alten über Gastmann zu sprechen, und dass man ihn in Ruhe lassen müsse, dachte Lutz, aber wieder schwieg er. Im Burgernziel[161] stieg er aus, Bärlach war allein.
„Soll ich Sie in die Stadt fahren, Herr Kommissär?“ fragte der Polizist vorne am Steuer.
„Nein, fahre mich heim, Blatter.“
Blatter fuhr nun schneller. Der Regen hatte nachgelassen, ja, plötzlich am Muristalden wurde Bärlach für Augenblicke in ein blendendes Licht getaucht: die Sonne brach durch die Wolken, verschwand wieder, kam aufs Neue im jagenden Spiel der Nebel und der Wolkenberge, Ungetüme, die vom Westen herbeirasten, sich gegen die Berge stauten, wilde Schatten über die Stadt werfend, die am Flusse lag, ein willenloser Leib, zwischen die Wälder und Hügel gebreitet. Bärlachs müde Hand fuhr über den nassen Mantel, seine Augenschlitze funkelten, gierig sog er das Schauspiel in sich auf: die Erde war schön. Blatter hielt. Bärlach dankte ihm und verließ den Dienstwagen. Es regnete nicht mehr, nur noch der Wind war da, der nasse, kalte Wind. Der Alte stand da, wartete, bis Blatter den schweren Wagen gewendet hatte, grüßte noch einmal, wie dieser davonfuhr. Dann trat er an die Aare[162]. Sie kam hoch und schmutzig braun. Ein alter verrosteter Kinderwagen schwamm daher, äste, eine kleine Tanne, dann, tanzend, ein kleines Papierschiff. Bärlach schaute dem Fluss lange zu, er liebte ihn. Dann ging er durch den Garten ins Haus.
Bärlach zog sich andere Schuhe an und betrat dann erst die Halle[163], blieb jedoch auf der Schwelle stehen. Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann und blätterte in Schmieds Mappe. Seine rechte Hand spielte mit Bärlachs türkischem Messer.
„Also du“, sagte der Alte.
„Ja, ich“, antwortete der andere.
Bärlach schloss die Türe und setzte sich in seinen Lehnstuhl dem Schreibtisch gegenüber. Schweigend sah er nach dem andern hin, der ruhig in Schmieds Mappe weiterblätterte, eine fast bäurische Gestalt, ruhig und verschlossen, tiefliegende Augen im knochigen, aber runden Gesicht mit kurzem Haar.
„Du nennst dich jetzt Gastmann“, sagte der Alte endlich.
Der andere zog eine Pfeife hervor, stopfte sie, ohne Bärlach aus den Augen zu lassen, setzte sie in Brand und antwortete, mit dem Zeigfinger auf Schmieds Mappe klopfend:
„Das weißt du schon seit einiger Zeit ganz genau. Du hast mir den Jungen auf den Hals geschickt[164], diese Angaben stammen von dir.“
Dann schloss er die Mappe wieder. Bärlach schaute auf den Schreibtisch, wo noch sein Revolver lag, mit dem Schaft gegen ihn gekehrt, er brauchte nur die Hand auszustrecken; dann sagte er:
„Ich höre nie auf, dich zu verfolgen.[165] Einmal wird es mir gelingen, deine Verbrechen zu beweisen.“
„Du mußt dich beeilen, Bärlach“, antwortete der andere. „Du hast nicht mehr viel Zeit. Die ärzte geben dir noch ein Jahr, wenn du dich jetzt operieren läßt.“
„Du hast recht“, sagte der Alte. „Noch ein Jahr. Und ich kann mich jetzt nicht operieren lassen, ich muss mich stellen. Meine letzte Gelegenheit.“
„Die letzte“, bestätigte der andere, und dann schwiegen sie wieder, endlos, saßen da und schwiegen.
„Über vierzig Jahre sind es her“, begann der andere von Neuem zu reden, „dass wir uns in irgendeiner verfallenen Judenschenke am Bosporus[166] zum erstenmal getroffen haben. Ein unförmiges gelbes Stück Schweizerkäse von einem Mond hing bei dieser Begegnung damals zwischen den Wolken und schien durch die verfaulten Balken auf unsere Köpfe, das ist mir in noch guter Erinnerung. Du, Bärlach, warst damals ein junger Polizeifachmann aus der Schweiz in türkischen Diensten, herbestellt, um etwas zu reformieren, und ich – nun ich war ein herumgetriebener Abenteurer wie jetzt noch, gierig, dieses mein einmaliges Leben und diesen ebenso einmaligen, rätselhaften Planeten kennenzulernen. Wir liebten uns auf den ersten Blick[167], wie wir einander zwischen Juden im Kaftan und schmutzigen Griechen gegenübersaßen. Doch wie nun die verteufelten Schnäpse, die wir damals tranken, diese vergorenen Säfte aus weiß was für Datteln und diese feurigen Meere aus fremden Kornfeldern um Odessa herum, die wir in unsere Kehlen stürzten, in uns mächtig wurden, dass unsere Augen wie glühende Kohlen durch die türkische Nacht funkelten, wurde unser Gespräch hitzig. O ich liebe es, an diese Stunde zu denken, die dein Leben und das meine bestimmte!“
Er lachte.
Der Alte saß da und schaute schweigend zu ihm hinüber. „Ein Jahr hast du noch zu leben“, fuhr der andere fort, „und vierzig Jahre hast du mir wacker nachgespürt. Das ist die Rechnung. Was diskutierten wir denn damals, Bärlach, im Moder jener Schenke in der Vorstadt Tophane, eingehüllt in den Qualm türkischer Zigaretten? Deine These war, dass die menschliche Unvollkommenheit, die Tatsache, dass wir die Handlungsweise anderer nie mit Sicherheit vorauszusagen, und dass wir ferner den Zufall, der in alles hineinspielt, nicht in unsere überlegung einzubauen vermögen, der Grund sei, der die meisten Verbrechen zwangsläufig zutage fördern müsse. Ein Verbrechen zu begehen[168] nanntest du eine Dummheit, weil es unmöglich sei, mit Menschen wie mit Schachfiguren zu operieren. Ich dagegen stellte die These auf, mehr um zu widersprechen als überzeugt, dass gerade die Verworrenheit der menschlichen Beziehungen es möglich mache, Verbrechen zu begehen, die nicht erkannt werden könnten, dass aus diesem Grunde die überaus größte Anzahl der Verbrechen nicht nur ungeahndet, sondern auch ungeahnt seien[169], als nur im Verborgenen geschehen. Und wie wir nun weiterstritten, von den höllischen Bränden der Schnäpse, die uns der Judenwirt einschenkte, und mehr noch, von unserer Jugend verführt, da haben wir im übermut eine Wette geschlossen[170], eben da der Mond hinter dem nahen Kleinasien versank, eine Wette, die wir trotzig in den Himmel hinein hängten, wie wir etwa einen fürchterlichen Witz nicht zu unterdrücken vermögen, auch wenn er eine Gotteslästerung ist, nur weil uns die Pointe[171] reizt als eine teuflische Versuchung des Geistes durch den Geist.“
„Du hast recht“, sagte der Alte ruhig, „wir haben diese Wette damals miteinander geschlossen.“
„Du dachtest nicht, dass ich sie einhalten würde“, lachte der Andere, „wie wir am andern Morgen mit schwerem Kopf in der öden Schenke erwachten, du auf einer morschen Bank und ich unter einem noch von Schnaps feuchten Tisch.“
„Ich dachte nicht“, antwortete Bärlach, „dass diese Wette einzuhalten einem Menschen möglich wäre.“
Sie schwiegen.
„Führe uns nicht in Versuchung[172]“, begann der Andere von Neuem. „Deine Biederkeit kam nie in Gefahr, versucht zu werden, doch deine Biederkeit versuchte mich. Ich hielt die kühne Wette, in deiner Gegenwart ein Verbrechen zu begehen, ohne dass du imstande sein würdest, mir dieses Verbrechen beweisen zu können.“
„Nach drei Tagen“, sagte der Alte leise und versunken in seiner Erinnerung, „wie wir mit einem deutschen Kaufmann über die Mahmud-Brücke[173] gingen, hast du ihn vor meinen Augen ins Wasser gestoßen.“
„Der arme Kerl konnte nicht schwimmen und auch du warst in dieser Kunst so ungenügend bewandert, dass man dich nach deinem verunglückten Rettungsversuch halb ertrunken aus den schmutzigen Wellen des Goldenen Hornes ans Land zog“, antwortete der Andere unerschütterlich. „Der Mord trug sich an einem strahlenden türkischen Sommertag bei einer angenehmen Brise vom Meere her auf einer belebten Brücke in aller öffentlichkeit zwischen Liebespaaren der europäischen Kolonie, Muselmännern[174] und ortsansässigen Bettlern[175] zu, und trotzdem konntest du mir nichts beweisen. Du ließest
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