Gesammelte Werke. Robert Musil

Gesammelte Werke - Robert Musil


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beide so gütig wie warme Kräuterkissen, als ich später erkrankte. Als ich aber einmal ihr Zimmer untertags betrat, um etwas zu verlangen, und beide im Bett lagen, und ich mich natürlich zurückziehn wollte, sprangen sie hilfsbereit unter den Decken hervor und waren völlig bekleidet; sogar die schmutzigen Straßenschuhe hatten sie im Bett an den Füßen behalten.

      Das war die Wohnung, in der ich stand, als ich dem Begräbnis zusah; eine dicke Frau war gestorben, die schräg meinen Fenstern gegenüber auf der andren Seite der breiten, hier etwas ausgebuchteten Reichsstraße wohnte. Zuerst brachten die Schreinerjungen den Sarg; es war Winter und sie brachten ihn auf einem kleinen Handschlitten, und weil es ein schöner Vormittag war, schlitterten sie mit ihren Nagelschuhen auf der Straße daher, und die große schwarze Schachtel hinter ihnen sprang von einer Seite zur andren. Jeder, der es sah, hatte das Gefühl, was für hübsche Jungen das sind, und blieb neugierig, ob der Schlitten umwerfen würde oder nicht.

      Nachmittags stand die Trauergesellschaft vor dem Haus, Zylinder und Pelzmützen, modische Hüte und winterliche Kopftücher; dunkel gegen das lichte Schneegrau des Himmels. Und die Geistlichkeit kam, schwarz und rot, und gezackte weiße Hemdchen darüber, quer über den Schnee. Und ein zottiger brauner, großer junger Hund sprang ihr entgegen und bellte sie an wie einen Wagen. Und wenn man es sagen darf, hatte er damit keine falsche Beobachtung ausgedrückt, denn tatsächlich war in diesem Augenblick weder Heiliges, noch selbst Menschliches in den Nahenden, sondern nur die schwierige Bewegung der mechanischen Seite ihrer Existenz auf dem glatten Straßenbelag.

      Dann aber wurde es überirdisch. Ein ruhiger Baß stimmte ein wunderholdes trauriges Lied an, in dem ich nur die fremden Worte für süße Marie verstand, ein hellbraun wie Kastanien schimmernder Barriton fiel ein, und noch eine Stimme, und ein Tenor schwang sich über alle hinweg, während gleichzeitig aus dem Haus ohne Ende Frauen mit schwarzen Tüchern quollen, die Kerzen vor dem Winterhimmel blaßgolden brannten, und die Geräte blitzten. Da mußte man weinen; aus keinem andren Grund, als weil man bereits ein Mensch über dreißig war.

      Vielleicht auch ein wenig, weil sich hinter der Trauergesellschaft die Buben pufften, oder weil der aufrechte junge Herr, dem der Hund gehörte, über alle Köpfe hinweg so regungslos nach den heiligen Hantierungen sah, ohne daß man wußte, warum. Denn so ängstlich voll mit Tatsachen, die nicht recht fest standen, war alles wie ein Porzellanschrank. Und während ich kaum mehr die Tränen zurückhalten konnte, bemerkte ich, daß der junge Herr eine Hand am Rücken hielt, und der große junge Hund mit ihr zu spielen begonnen hatte. Scherzend biß er an ihr herum und suchte sie mit seiner warmen Zunge aufzutaun. Mit qualvoller und atemloser Spannung wartete ich nun vorsichtig ab, was geschehen würde. Und endlich, nach einer langen Weile, während das Gesicht zu meiner Befriedigung nach wie vor gerichtet und weit weg blieb, begann sich die Hand hinter dem Rücken als selbständig zu erklären und fing mit dem Maul des Hundes zu spielen an, ohne daß es ihr Herr wußte.

      Das rückte mir die Seele wieder ins Lot, die damals, in jener ungewohnten Umgebung, auch ohne zureichende Gründe in Unordnung oder Ordnung geriet; und warm durchströmte mich die Vorstellung des Händedrucks, den mir nach dem Begräbnis meine Lehrerinnen sicher anbieten würden, zusammen mit einem Gläschen von ihrem Schnaps, denn das Unglück rückt die Menschen aneinander, wie sie dabei zu sagen pflegten.

      Fischer auf Usedom

[24. August 1922]

      Am Strand wird mit den Händen eine kleine Kute ausgehoben, und dahinein werden aus einem Sack mit schwarzer Erde die dicken Regenwürmer geschüttet; die lockere schwarze Erde und das Gewürm geben eine mulmige, ungewisse anziehende Häßlichkeit im blanken Sande. Neben sie wird eine Holzlade gelegt; sie sieht aus wie eine ordentliche, lange, nicht sehr breite Tischlade oder ein Zahlbrett voll mit sauberem Garn, und eine leere Lade wird auf die andere Seite gelegt; die hundert Haken, welche am Garn sitzen, sind manierlich auf eine kleine eiserne Stange am Ende der Lade gereiht und werden einer nach dem anderen heruntergenommen und in die andere Lade gebettet, deren Ende mit reinem nassen Sande gefüllt ist. Zwischendurch sorgen vier lange, magerkräftige Hände so sorgfältig wie Kinderfrauen dafür, daß auf jede Angel ein Wurm kommt.

      Zwei Männer hocken auf Knien und Fersen im Sande, mit mächtigen, knochigen Rücken, langen, gütigen Gesichtern, eine Pfeife im Mund, und unverständlichen Worten, die so sanft aus ihnen herauskommen, wie die Bewegungen ihrer Hände. Der eine nimmt einen fetten Regenwurm mit zwei Fingern, holt die gleichen zwei Finger der anderen Hand herzu und reißt ihn in drei Stücke, so sanft und präzise, wie ein Schuster das Papierband abknipst, nachdem er Maß genommen, während der andere diese sich bäumenden Stücke sanft und achtsam über die Angel stülpt. Ist das geschehen, so werden sie mit Wasser gelabt und in der Lade mit dem weichen Sand in kleine, nebeneinanderliegende, zierliche Gräber gebettet, damit sie sich frisch erhalten. Es ist ein stilles, feines Tun, wo die groben Finger leise wie auf den Zehen gehen. Man muß sehr auf die Sache achten. Der Himmel hat sich darüber blau emporgewölbt, und die Möven kreisen hoch über Land wie Schwalben.

      Die fliegenden Menschen

[24. Dezember 1922]

      Es gab eine Zeit, wo man auf einem bolzsteifen Pferdchen pedantisch genau im Kreise ritt und mit einem stockgeraden Stäbchen nach kupfernen Ringen stieß, die ein Holzarm im Vorbeifahren hinhielt. Diese Zeit ist vorbei. Heute trinken die Fischerjungen Sekt mit Kognak. Und es hängen an dreißig mal vier eisernen Kettchen kleine Schaukelbrettchen im Kreis, ein Kreis innen und einer außen, so, daß man sich, wenn man nebeneinander fliegt, an Hand oder Bein oder den Schürzen fassen kann und dazu fürchterlich schreit. Dieses Ringelspiel steht auf dem kleinen Platz mit dem Ehrenstein für die gefallenen Krieger, neben der alten Linde, wo sonst die Gänse sind. Es hat einen Motor, der es zeitgemäß antreibt, und kalkweiße Scheinwerfer über vielen kleinen warmen Lichtern. Der Wind wirft, wenn man in der Dunkelheit nähertappt, Fetzen von Musik, Leuchten, Mädchenstimmen und Lachen einem entgegen. Das Orchestrion brüllt schluchzend. Die Eisenketten kreischen. Man fliegt im Kreis, aber außerdem, wenn man will, aufwärts oder hinab, auswärts und einwärts, einander in den Rücken oder zwischen die Beine. Die Burschen peitschen ihre Schaukeln an und kneifen die Mädel, an denen sie vorbeifliegen, ins Fleisch oder reißen die Aufschreienden mit sich; auch die Mädel haschen einander im Flug und dann schreien sie zu zweit erst recht so, als ob eine ein Mann wäre. So schwingen sie alle durch die Kegel der Helle ins Dunkle und werden plötzlich wieder in die Helligkeit gestürzt: anders gepaart, mit verkürzten Leibern und schwarzen Mündern, rasend bestrahlte Kleiderbündel, fliegen sie auf dem Rücken oder auf dem Bauch oder schräg gegen Himmel und Hölle. Nach einer ganz kleinen Weile diesen wildesten Galopps fällt das Orchestrion rasch in Trab, dann in Schritt zurück wie ein altes Manegepferd und steht schnell still. Der Mann mit dem Zinnteller geht im Kreis, aber man bleibt sitzen oder wechselt höchstens die Mädchen. Und es kommen nicht wie in der Stadt ein paar Tage lang zu dem Ringelspiel wechselnde Menschen, denn es fliegen hier immer die gleichen, vom Einbruch der Dunkelheit an, zwei bis drei Stunden, durch alle acht oder vierzehn Tage hindurch, solange, bis der Mann mit dem Zinnteller ein Nachlassen der Lust fühlt und eines Morgens weitergezogen ist.

      Schafe auf einer Insel

[März 1923]

      Sie haben die langen Gesichter und zierlichen Schädel von Märtyrern. Irgendwie schwarze Kapuzen und Socken der Fanatiker oder Todesbrüder.

      Ihre Lippen, wenn sie über dem kurzen, spärlichen Gras suchen, zittern nervös und stäuben den Ton einer erregten Metallsaite in die Erde. Schließen sich ihre Stimmen zum Chor, so klingt es wie das klagende Gebet der Prälaten im Dom von St. Peter. Singen aber ihrer viele, so bilden sie einen Männer-, Frauen-und Kinderchor. In sanften Rundungen heben und senken sie die Stimmen; wie ein Wanderzug im Dunkel, den in jeder zweiten Sekunde das Licht trifft, und es stehn dann die Stimmen der Kinder auf einem immer wiederkehrenden Hügel, während die Männer das Tal durchschreiten. Tausendmal schneller rollen Tag und Nacht durch ihren Gesang und treiben die Erde dem Ende entgegen. Manchmal wirft sich eine einzelne Stimme empor oder stürzt hinab in die Angst der Verdammnis. In den weißen Ringeln ihrer Haare wiederholen sich die Wolken des Himmels. Es sind alte katholische Tiere, uralte metaphysische Begleiter des Menschen. Er ist zwischen ihnen doppelt so groß als sonst und ragt wie der spitze Turm einer Kirche gegen Himmel. Unter seinen Füßen ist die Erde braun, und das schüttere Gras ist wie eingekratzte


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