Gesammelte Werke. Robert Musil
aufs Korn genommen, dessen Socken wie der Hals einer Ringeltaube gestreift waren, als er bemerkte, wie dieser sicher neben seinem Mädchen durchs Leben Schlendernde bei jedem seiner langsamen Schritte mit einem angestrengten winzigen Ruck das Bein aus dem Stand schleuderte; nicht das Mädchen, nicht er, kein Arzt, kein Mensch ahnte noch das Grauen, das ihm bevorstand; aber das Triëder, indem es die kleine Gebärde aus der Harmonie der Feschheit herauslöste, zeigte die Zukunft. An einem freundlichen, rundlichen Mann in den besten Jahren, der rasch daherkam, war mit freiem Auge nichts zu bemerken gewesen als eine wohlwollende, sanguinische Art des Gehens; nach einem Schnitt durch die Mitte, der die Beine herauspräparierte, kam hervor, daß der Fuß ganz scheußlich einwärts und gekantet aufgesetzt wurde; nun pendelten auch die Arme dünn aus den Schulterpfannen, die Schultern zogen am Hals, und statt eines Ganzen des Wohlwollens war mit einem Male ein eigensinniges menschliches System da, das nur mit Mühe darauf bedacht war, sich selbst zu behaupten, und gar nichts für andere übrighatte.
So ging es fort. Es zeigte sich, daß ein Fernglas ebenso gut zum Verständnis des einzelnen Menschen beiträgt wie zu einer tiefen, und wenn man so sagen darf, stuporösen Verständnislosigkeit für das Menschsein. Da sagte sich der Mann mit dem Glas: das Triëder, indem es alle gewohnten Zusammenhänge zerstört, ersetzt eigentlich das Genie oder ist wenigstens eine Vorübung dazu. Aber weil er ein bescheidener Mann war, legte er es in diesem Augenblick wieder in den Kasten zurück.
Indes, wenige Menschen sind heute so unsinnig bescheiden wie er. Und weil es als Folge davon ohnedies schon viele Reformpläne gibt, die den Menschen schöner, weiser, intuitiver, seelenvoller, schwingender, dynamischer, rapider und wesentlicher machen sollen, darf wohl auch dieser empfohlen werden.
Unter Dichtern und Denkern
Ich erinnere mich, seit Jahren selten ein Buch zu Ende gelesen zu haben, außer es war ein wissenschaftliches oder einer jener ganz schlechten Romane, in denen die Augen stecken bleiben, als ob man einen großen Teller in Schnaps getränkter Makkaroni hinunterschlingen würde. Wenn ein Buch aber wirklich eine Dichtung ist, kommt man selten über die Hälfte; mit der Länge des Gelesenen wächst in steigenden Potenzen ein bis heute unaufgeklärter Widerstand. Es ist nicht anders, als ob die Pforte, durch die ein Buch eintreten soll, sich krampfhaft gereizt fühlte und eng verschließen würde. Man befindet sich, wenn man ein Buch liest, alsbald in keinem natürlichen Zustande mehr, sondern glaubt sich einer Operation unterworfen. Man fühlt, jetzt wird ein Nürnberger Trichter an den Kopf gesetzt, und ein fremdes Individuum versucht, seine Herzens-und Gedankenweisheit einem einzuflößen; eigentlich kein Wunder, daß man sich diesem Zustand entzieht, sobald man nur kann!
Man sagt, die Bücher seien schuld daran, und die deutschen Schriftsteller könnten nicht schreiben. Das ist eine liebenswürdige und einleuchtende Hypothese. Aber wie alle Hypothesen hüllt sie eine Tatsache in einen Überschuß ein, und wenn man sich nackt an die Wahrheit halten will, so vermag man nicht mehr festzustellen, als daß die deutschen Leser nicht mehr lesen können. Das ist das einzige, was feststeht und wovon man ausgehen kann. Alles andere ist äußerst unklar. Es ist auch unklar, wer und was die Schuld hat. Darum ist es päßlich, sich wohl oder übel vorerst umzusehen, wie eigentlich ein Mensch liest, der heute am Lesen von Büchern keine Freude empfindet und dennoch seine Zeit an Bücher abgibt? Wir wollen aber unter Mensch nicht die glückseligen Opfer der Literatur in Fortsetzungen verstehen, unter denen noch wirkliche Leseleidenschaft wütet, sondern nur solche Menschen, welche mit jenem Ernste lesen, mit dem man einen Parteivorstand wählt oder den Namen für den erstgeborenen Sohn.
Wenn zwei solche Verantwortliche sich irgendwo treffen und das Gespräch eine höhere Richtung nimmt, so vergehen nicht fünf Minuten, ohne daß sie sich im gemeinsamen Ausdruck einer Überzeugung finden, die sich ungefähr in die Worte fassen läßt: es gibt heute ja doch keine große Leistung und kein Genie! – Sie meinen damit durchaus nicht das Fach, das sie selbst vertreten, und es ist auch nicht eine besondere Form des bekannten Heimwehs nach der besseren alten Zeit, was sie bewegt. Denn es zeigt sich, daß die Chirurgen keineswegs die Zeit Billroths für chirurgisch größer als die ihre halten, daß die Pianisten durchaus überzeugt sind, das Klavierspiel habe seit Liszt Fortschritte gemacht, ja sogar, daß die Theologen die Meinung verbergen, es sei immerhin diese oder jene kirchliche Frage heute genauer bekannt als in Christi Tagen. Nur sobald die Theologen auf die Musik, die Dichtung oder die Naturwissenschaft, die Naturwissenschaftler auf die Musik, die Dichtung und die Religion, die Dichter auf die Naturwissenschaft usw. zu sprechen kommen, zeigt sich jeder überzeugt, daß die anderen nicht ganz das Richtige leisten und von dem Beitrag, den sie der Allgemeinheit schulden, bei allem Talent das Letzte, eben was das Genie wäre, schuldig bleiben.
Dieser Kulturpessimismus auf Kosten der anderen ist heute eine weitverbreitete Erscheinung. Er steht in sonderbarem Widerspruch zu der Kraft und Geschicklichkeit, die allenthalben im einzelnen entwickelt werden. Man hat geradezu von unserer Zeit den Eindruck, daß ein Riese, der ungeheuer viel ißt, trinkt und leistet, davon nichts wissen will und sich lustlos schwach erklärt wie ein junges Mädchen, das die eigene Blutarmut ermüdet. Es gibt auch zur Erklärung dieser Erscheinung sehr viele Hypothesen, davon angefangen, daß man sie als die letzte Stufe einer seelenlos werdenden Menschheit ansieht, bis dorthin, wo man in ihr die erste Stufe von irgendetwas Neuem erblickt. Es wird gut sein, diese Hypothesen nicht ohne Not um eine neue zu vermehren.
Denn man hat schon einmal eine sehr üble Erfahrung gemacht: das war die Geschichte mit dem Kircherschen Huhn. Wenn man dieses Huhn mit beiden Händen eine Weile niederdrückte – doch davon später! Man kann nämlich ebensogut sagen: es gibt nur noch Genies. Man muß sich bloß die Mühe nehmen und durch längere Weile unsere Buchbesprechungen und Aufsätze sammeln, mit der Absicht und nach den Methoden, um aus ihnen ein Bild der geistigen Bewegung in der Zeit zu gewinnen. Man wird nach einigen Jahren mächtig darüber staunen, wieviele erschütternde Seelenverkünder, Meister der Darstellung, größte, beste, tiefste Dichter, ganz große Dichter, und endlich einmal wieder ein großer Dichter im Laufe solcher Zeit, der Nation geschenkt werden, wie oft die beste Tiergeschichte, der beste Roman der letzten zehn Jahre und das schönste Buch geschrieben wird. Wenn man oft Gelegenheit hat, solche Sammlungen zu durchblättern, staunt man jedesmal von neuem über die Heftigkeit augenblicklicher Wirkungen, von denen in den meisten Fällen wenige Jahre später nichts mehr zu sehen ist.
Man kann dabei eine zweite Beobachtung machen. Noch mehr als einzelne Urteile, sind ganze Kreise hermetisch gegeneinander abgedichtet. Sie werden gebildet von bestimmten Typen von Verlagen, zu denen bestimmte Typen von Autoren, Kritikern, Lesern, Genies, Urteilen und Erfolgen gehören. Denn das Bezeichnende ist, daß man in jeder dieser Gruppen ein Genie werden kann, wenn man eine bestimmte Höhe der Auflage und damit des Verlegerinteresses erreicht, ohne daß die anderen Gruppen davon etwas merken. Es mag sein, daß in ganz großen Fällen ein Teil des Publikums von der einen Fahne zur anderen desertiert und daß sich um die meistgelesenen Schriftsteller ein eigenes Publikum aus allen Lagern bildet; stellt man aber eine Rangliste der Erfolgreichen nach den Auflagenzahlen zusammen, so merkt man sogleich aus ihrer Zusammensetzung, wie wenig die paar Lichtgestalten, die sich darin befinden, imstande sind, bildend auf den Geschmack der Allgemeinheit zu wirken und ihn davon abzuhalten, daß er sich, mit der gleichen Begeisterung wie ihnen, auch einer obskuren Mittelmäßigkeit zuwende; diese Einzelnen treten wohl über die Ufer, welche vorgezeichnet sind, aber wenn ihre Wirkung abfließt, fängt jede Rinne des vorhandenen Kanälesystems das ihre davon auf. Man kann auch sagen, sie machen den Geschmack soweit gesund, daß er sich seinen Krankheiten weiter hingeben kann.
Wenn man sie nicht bloß auf die schöne Literatur beschränkt, so wird diese Betrachtung überwältigend. Es ist gar nicht zu sagen, wieviele Rom es gibt, in deren jedem ein Papst sitzt. Nichts bedeutet der Kreis um George, der Ring um Blüher, die Schule um Klages gegen die Unzahl der Sekten, welche die Befreiung des Geistes durch den Einfluß des Kirschenessens, vom Theater der Gartensiedlung, von der rhythmischen Gymnastik, von der Wohnungseinrichtung, von der Eubiotik, vom Lesen der Bergpredigt oder einer von tausend anderen Einzelheiten erwarten. Und in der Mitte jeder dieser Sekten sitzt der große Soundso, ein Mann, dessen Namen Uneingeweihte noch nie gehört haben, der aber in seinem Kreise die Verehrung eines Welterlösers genießt. Ganz Deutschland ist voll von solchen geistigen Landsmannschaften; aus dem großen Deutschland, wo von zehn bedeutenden Schriftstellern neun