Gesammelte Werke. Robert Musil

Gesammelte Werke - Robert Musil


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man bloß so niederträchtig lügen?! – Aber ich muß sagen, daß es mir selbst heute noch schwer fiele, stolz zu sein, wenn ich eine Ohrfeige bekäme. Oder Stolz zu zeigen, während ich auf den Rücken falle. Wut könnte ich mir vorstellen; aber die sollten wir ja gerade nicht haben! Und ebenso ist es mit dem Lügen; wie soll man denn lügen, wenn nicht niederträchtig? Etwa ungeschickt? Wenn ich darüber nachdenke, kommt es mir selbst heute noch vor, als ob man damals am liebsten von uns Buben gefordert hätte, wir sollten aufrichtig lügen. Das war aber eine Art doppelter Anrechnung: erstens, du sollst nicht lügen, zweitens, wenn du jedoch lügst, dann lüge wenigstens nicht verlogen. Es ist ja zuzugeben, daß erwachsene Verbrecher das können müssen, denn sonst würde man es ihnen in den Gerichtssälen nicht immer als besondere Bosheit anrechnen, wenn sie ihre Verbrechen kaltblütig, vorsichtig und mit Überlegung begehen, aber von Buben war das entschieden zuviel verlangt. Ich fürchte, ich habe bloß deshalb keine so auffallenden Charaktermängel gezeigt wie mein Freund, weil ich nicht so sorgfältig erzogen wurde.

      Am einleuchtendsten von allen elterlichen Ansprüchen, welche sich mit unserem Charakter befaßten, waren noch die, welche sein bedauerliches Fehlen mit der Warnung in Zusammenhang brachten, daß wir ihn einst als Männer vonnöten haben würden. «Und ein solcher Junge will ein Mann werden!?» hieß es ungefähr. Sah man davon ab, daß die Sache mit dem Wollen nicht ganz klar war, so bewies dies doch wenigstens, daß Charakter etwas sei, das wir erst später brauchen würden; wozu dann jetzt schon die überhasteten Vorbereitungen? Dies war ganz das, was wir meinten.

      Wenn mein Freund also damals keinen Charakter besaß, so vermißte er ihn doch nicht. Das kam erst später und begann zwischen unserem sechzehnten und siebzehnten Jahr. Da fingen wir an, ins Theater zu gehen und Romane zu lesen. Von dem Gehirn meines Freundes, das lebhafter als das meine die irreführenden Verlockungen der Kunst aufnahm, ergriffen der Intrigant der städtischen Theater, der zärtliche Vater, der heldenhafte Liebhaber, die teuflische Salonschlange und die bezaubernde Naive Besitz. Er redete nur noch in falschen Tönen, hatte aber plötzlich alles von Charakter in sich, was es auf der deutschen Bühne gibt. Wenn er etwas versprach, wußte man nie, ob man sein Ehrenwort als Held oder als Intrigant besaß; es geschah, daß er einen heimtückischen Vorschlag machte, aber später heldenhaft aufrichtig durchführte, oder daß er etwas naiv zusagte und bei der Ausführung ein Bösewicht wurde; er konnte polternd uns Freunde empfangen, um uns plötzlich mit dem eleganten Lächeln des Bonvivants Platz und Schokoladenbonbons anzubieten, oder umarmte uns väterlich und stahl dabei die Zigaretten aus unserer Tasche.

      Das war harmlos und offen, verglichen mit den Wirkungen des Romanelesens. In solchen Romanen finden sich die wundervollsten Verhaltungsweisen für unzählige Lebenslagen beschrieben. Der einzige Nachteil ist bloß der, daß die Lebenslagen, in welche man gerät, sich niemals ganz mit den Lebenslagen decken, in denen jene Worte: Rache, Verzicht, Verzeihung, vorkommen, welche in den Romanen beschrieben sind. Die Weltliteratur ist ein ungeheures Magazin, wo jährlich Millionen Seelen mit Edelmut, Zorn, Stolz, Liebe, Hohn, Eifersucht, Adel und Gemeinheit bekleidet werden. Wenn eine angebetete Frau unsere Gefühle mit Füßen tritt, so wissen wir, daß wir ihr einen strafend seelenvollen Blick zuzuwerfen haben; wenn ein Schurke eine Waise mißhandelt, so wissen wir, daß wir ihn mit einem Schlag zu Boden schmettern müssen. Aber was sollen wir tun, wenn die angebetete Frau unmittelbar, nachdem sie unsere Gefühle mit Füßen getreten hat, die Tür ihres Zimmers zuschlägt, so daß sie unseren seelenvollen Blick nicht sieht? Oder wenn zwischen dem Schurken, der die Waisen mißhandelt, und uns ein Tisch mit Gläsern steht? Sollen wir die Tür einschlagen, um durch das Loch einen sanften Blick zu werfen, oder sorgfältig die teuren Gläser abräumen, ehe wir zum empörten Schlag ausholen? In solchen wirklich wichtigen Fällen läßt einen die Literatur immer im Stich; vielleicht wird das in einigen hundert Jahren, wenn noch mehr beschrieben ist, besser sein.

      Einstweilen aber gibt es deswegen jedesmal eine geradezu besonders unangenehme Lage für einen belesenen Charakter, wenn er sich in einer sogenannten Lebenslage befindet. Ein gutes Dutzend angefangener Sätze, halb erhobener Augenbrauen oder geballter Fäuste, gekehrter Rücken und pochender Brüste, die alle nicht ganz zu dem Anlaß passen und doch auch nicht unpassend wären, bleiben in ihm stecken und zerren an ihm; die Mundwinkel werden gleichzeitig hinauf-und hinabgezogen, die Stirn finster gerunzelt und hell beglänzt, der Blick will sich zur gleichen Zeit strafend hervorstürzen und beschämt zurückziehen, und das ist sehr unangenehm, denn man tut sich sozusagen selbst gegenseitig weh. Das Ergebnis ist dann jenes bekannte Zucken und Schlucken, das sich über Lippen, Augen, Hände und Kehle ausdehnt, ja mitunter den ganzen Körper so heftig erfaßt, daß er sich wie eine Schraube windet, die ihre Mutter verloren hat.

      Damals entdeckte mein Freund, wie viel bequemer es wäre, als einzigen Charakter seinen eigenen zu besitzen, und begann diesen zu suchen.

      Aber er geriet bloß in neue Abenteuer. Ich traf ihn nach Jahren wieder, als er im Bureau eines Rechtsanwalts arbeitete. Er trug Brillen, rasierte sich den Bart und sprach mit leiser Stimme. – Du siehst mich an? – bemerkte er. Ich konnte es nicht leugnen, irgend etwas hieß mich, in seiner Erscheinung eine Antwort zu suchen. – Rechtsanwälte – erklärte er mir – haben eine ganz bestimmte Art, durch ihre Kneifergläser zu blicken, die anders ist als zum Beispiel die der Ärzte. Vielleicht kann man auch sagen, daß alle ihre Bewegungen und Worte spitzer oder zackiger sind als die rundlichen und knorrigen der Theologen. Sie unterscheiden sich von ihnen wie ein Feuilleton von einer Predigt, mit einem Wort, so wenig ein Fisch von Baum zu Baum fliegt, so sehr sind Rechtsanwälte in ein Medium eingetaucht, das sie niemals verlassen.

      «Berufscharakter!» sagte ich. Mein Freund triumphierte.

      «Sag’ einmal, bemerkst du etwas davon an mir?» fragte er. Als ich verneinte, war er es zufrieden. «Siehst du,» fuhr er in seiner Auseinandersetzung fort, «das war eine große Schwierigkeit. Bis vor kurzem habe ich noch einen christusähnlichen Bart getragen. Denn das stimmt gar nicht zu dem Charakter der Rechtsanwälte. Aber Bart ist, wie du wissen wirst, zusammen mit starken Augenbrauen, behaarter Brust und einer Stimme, welche die Tonlagen zwischen Keller und erstem Stock bewohnt, ein sogenanntes sekundäres Merkmal des Geschlechtscharakters. Darum spreche ich jetzt leise und trinke kein Bier.»

      «Das sehe ich nicht ein,» sagte ich dagegen, «du könntest dich doch zum Beispiel wie ein Maler tragen oder wie ein Seefahrer?»

      «Nein! Das ist eben das Sonderbare! Es gibt natürlich Rechtsanwälte, die sehen wie Dichter aus, und dann wieder Dichter, die in ihrem Äußern gern mit einem Diplomaten verwechselt werden möchten, auch Gemüseverkäufer mit Denkerköpfen gibt es. Sie alle haben aber etwas von einem Glasauge oder einem angeklebten Bart. Es ist eben das Schlimme, daß an dieser Sache mit dem Berufscharakter wirklich etwas daran ist. Denn nun gibt es, wie du weißt, doch noch ebenso wie den Berufs-und den Geschlechtscharakter des Mannes verschiedene andere Charaktere, die er hat, seinen National-, seinen Staats-, seinen Klassen-, seinen geographisch bedingten Charakter, den Charakter, der zu seiner Handschrift gehört, den, welchen man an seinen Handlinien, an seiner Schädelform, an der Konstellation der Gestirne im Augenblick seiner Geburt und an was weiß ich noch erkennt. Lauter solche Charaktere habe offenbar auch ich, ohne es zu wissen. Ich merkte es nicht. Es ist mir unheimlich. Ich wünsche, dem zu entrinnen. Aber wahrscheinlich gerate ich, wenn ich den einen abstreife, in den anderen hinein. Zum Glück habe ich eine Braut, welche behauptet, daß ich überhaupt keinen Charakter besitze und sie nie heiraten werde. Ich werde sie gerade deshalb heiraten; denn sie ist mir wahrhaftig eine Stütze.»

      «Wer ist deine Braut?»

      «Dem Nationalcharakter nach Deutsche, im Berufscharakter die Tochter eines kleinen Kaufmanns, dem Klassencharakter nach Bourgeoise, geographisch an der Abendland und Morgenland verbindenden West-Ost-Linie der Donau geboren,» zählte er geläufig auf. «Aber weißt du,» unterbrach er sich, «sie weiß trotzdem immer, was sie will! Sie war ursprünglich ein reizend hilfloses kleines Mädchen – ich kenne sie schon lange; aber sie hat sehr viel von mir gelernt. Wenn ich lüge, findet sie es entsetzlich; wenn ich morgens nicht rechtzeitig ins Bureau gehe, so behauptet sie, daß ich niemals eine Familie erhalten könnte, wenn ich mich nicht entschließen kann, eine Zusage zu halten, die ich gegeben habe, so weiß sie, daß das nur ein Schuft tut.»

      Mein Freund lächelte. Er war damals ein liebenswürdiger Mensch, und jeder Mensch sah freundlich


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