Gesammelte Werke. Robert Musil
hat abbilden lassen. Man sieht viele solcher Sarkophagdeckel in Rom, aber in keinem Museum und in keiner Kirche machen sie solchen Eindruck wie hier unter den Bäumen, wo die Figuren wie auf einer Landpartie ruhen und eben aus einem kleinen Schlaf erwacht zu sein scheinen, der zweitausend Jahre gewährt hat. Sie haben sich auf den Ellbogen gestützt und sehen einander an. Es fehlt nur der Korb mit Käse, Früchten und Wein zwischen ihnen. Die Frau trägt eine Frisur mit kleinen Locken, – gleich wird sie sie ordnen, nach der letzten Mode vor dem Einschlafen. Und sie lächeln einander an, lang, sehr lang. Du siehst weg; noch immer lächeln sie, ohne Ende. Dieser treue, brave, bürgerliche verliebte Blick hat die Jahrhunderte überstanden, er ist im alten Rom ausgesandt worden und kreuzt Dein Auge. Wundre Dich nicht darüber, daß sie nicht wegsehn oder die Augen senken; sie sind schamlos, weil sie ihre kleine persönliche Angelegenheit für ewig halten. Und wirklich, wenn Du noch länger hinsiehst, glaubst Du ein Ölflämmchen in den Steinen brennen zu sehn, so wie es vor zwei Jahrtausenden angezündet worden ist; viel wunderlicher ist dies als die Sonne über Deinem Haupt.
Triëdere!
Eines Nachmittags langweilte er sich sehr. Da erinnerte er sich, daß er noch aus der Kriegszeit ein Triëder besitze, fand es in einer tiefen Lade eines hohen Sekretärs und stellte es auf sein Auge ein. Er benützte dazu einen Anschlag, den er am Tor des gegenüberliegenden Hauses bemerkt hatte, und las zu seinem Staunen, daß ein staatliches Institut, welches in diesem Gebäude untergebracht war, von 9 bis 16 Uhr Amtsstunden habe. Denn es war 15 Uhr, und weit und breit kein Beamter mehr zu sehen; er erinnerte sich auch nicht, zu dieser Stunde jemals einen bemerkt zu haben. Endlich entdeckte er hinter einem entlegenen Fenster zwei dicht nebeneinander stehende Herren, welche mit den Fingern gegen die Scheiben trommelten und auf die Straße hinabsahen. Er erinnerte sich seiner eigenen unvergeßlichen Bureauzeiten. Das Triëdern ist Festangestellten, Beamten und ihresgleichen, Männern mit einer heiligen Anzahl von Bureaustunden, warm zu empfehlen.
Das Haus, in welchem das stadtbekannte Amt untergebracht war, an dem diese ersten Versuche angestellt wurden, ist ein altes Palais mit Fruchtgewinden am Kapitäl der Steinpfeiler, und schöner Gliederung in der Horizontalen wie Vertikalen. Während der Beobachter noch die Beamten suchte, war ihm schon aufgefallen, wie deutlich sich diese Architektur ins Fernglas hineinstellte, und als sein Auge nun einiges an Pfeilerwerk, Fenstern und Gesimsen in einem Blick erfaßte, erschrak er beinahe vor der steinernen, perspektivischen Korrektheit, mit der es sich ihm darstellte. Er wurde plötzlich gewahr, daß er bisher diese zu einem Punkt im Hintergrund zusammenlaufenden Wagerechten, diese, je weiter seitlich, desto trapezförmiger zusammengezogenen Fenster, ja, diesen ganzen Absturz vernünftiger Begrenzungslinien bekannter Gegenstände in einen irgendwo seitlich und hinten gelegenen Trichter der Verkürzung für einen Alb der Renaissance gehalten hatte, eigentlich für eine grauenvolle Malersage vom Verschwinden der Linien, die gerüchtweise übertrieben worden war, wenn auch etwas Richtiges daran sein mochte. Nun aber sah er sie lebensgroß und weit schlimmer, als alles Gerücht vor seinen eigenen Augen.
Wer es nicht glaubt, daß die Welt so aussieht, der triëdere die Straßenbahn. Vor dem Palais machte sie einen S-förmigen Doppelbogen. Ungezählte Male hatte unser Freund sie vom zweiten Stockwerk aus daherkommen, eben diesen S-förmigen Doppelbogen machen und wieder davonfahren gesehen, sie, die Straßenbahn, in jedem Augenblick dieser Entwicklung der gleiche längliche rote Wagen. Aber wenn du sie mit dem Triëder ansiehst, so bemerkst du: eine unerklärliche Gewalt drückt plötzlich diesen Kasten zusammen wie eine Pappschachtel, seine Wände stoßen immer schräger aneinander, gleich wird er platt sein, da läßt die Kraft nach, er fängt hinten an breit zu werden, durch alle seine Flächen läuft wieder eine Bewegung, und während du den angehaltenen Atem aus der Brust läßt, ist die alte vertraute rote Schachtel wieder in Ordnung. Das geschah nun, als er mit dem Glas zusah, so deutlich draußen an dem Ding und nicht in seinem Auge, daß er hätte darauf schwören können, es sei so wirklich, wie wenn man einen Fächer öffnet und schließt. Wer ihm das nicht glaubt, der kann es nachprüfen! Er braucht nur eine Wohnung dazu, auf die eine Straßenbahn in S-förmiger Schleife zukommt.
Sobald diese Entdeckung gemacht war, sah sich der Entdecker natürlich die Frauen an. Und da enthüllte sich ihm die ganze Unverwüstlichkeit des Kuppelbaus. Was rund ist an der Frau und heute so sorgfältig verheimlicht wird, daß es bloß als kleine rhythmische Unebenheit im knabenhaften Fluß der Bewegung erscheint, wölbt sich in der Einsamkeit des Binokels zum steinernen stillen Kreis voll hochgehobenen Schweigens. Unerwartet viel Falten öffneten und schlossen sich aufgeregt ringsum im Kleid; sie drückten das Lob des Schneiders aus, alle möglichen öffentlichen und verborgenen Arten der Bewegung, Unwillkürlichkeiten, lüsternes Gewisper, deuteten Geheimnisse an; jede Frau wurde eine psychologisch belauschte Susanna im Bade des Kleides. Aber das merkwürdigste daran war doch, wie boshaft sich in der Ruhe des Triëderblicks dieses kennerhafte verfeinerte Verhalten ausnahm; es glich nur einem Gefackel und Geflacker zwischen ewigen, gleichbleibenden Werten, die keine Psychologie brauchen.
Genug davon! Das beste Mittel gegen einen anzüglichen Mißbrauch dieses weltanschaulichen Werkzeugs ist es, an seine Theorie zu denken. Sie heißt Isolierung. Man sieht Dinge immer samt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Heben sie sich aber einmal heraus, so sind sie schrecklich und unverständlich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein muß, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns gewöhnt hatten. Sie werden zwar auch deutlicher und größer unter dem Blick des Triëders, aber das ist nur eine Hilfe; vor allem werden sie ursprünglicher und bestialischer. Wie schön ist bekanntlich ein hoher Herrenhut, wenn er mit seinem geschweiften Glanz eine männliche Gestalt krönt, eins mit dem Ganzen des Mannes von Welt und Macht, durchaus ein nervöses Gebilde, vielleicht sogar Sitz des Willens, und zu welcher rohen Verkehrtheit entartet er auf dem Menschenleib, wenn vom Triëder dieser Zusammenhang durchschnitten wird, der nur aus Einbildung besteht. Wie sonderbar gestört wird das Gleichgewicht einer Frau, wenn man sie vom Rocksaum aufwärts als eine Einheit sieht und darunter zwei kurze, geknickt aus den Knien kommende Stelzchen. Wie beängstigend wird das Zähnefletschen der Liebenswürdigkeit und wie säuglingshaft komisch der Ausdruck des Zorns, wenn sie einsam und unschädlich hinter der Isolierschicht des Glases stecken. Zwischen unseren Kleidern und uns und zwischen unseren Manieren und uns besteht ein verwickeltes moralisches Kreditverhältnis, in welchem wir ihnen erst alles leihen, was sie bedeuten, und es uns dann mit Zinseszins von ihnen wieder ausborgen; darum sind wir immer abhängig von ihnen und in dem Augenblick wo wir ihnen den Kredit kündigen wollten, würden wir uns selbst bankerott fühlen.
Da sind zum Beispiel die vielbelächelten Torheiten der Mode, die den Menschen ein Jahr lang verlängern und in einem anderen Jahr verkürzen, die ihn dick machen und dünn, die ihn bald oben breit und unten schmal, bald oben schmal und unten breit machen, die in einem Jahr alles an ihm empor und im nächsten alles an ihm bergab streichen, die seine Haare nach vorn und hinten, rechts und links kämmen. Sie stellen, ohne Mitfühlen betrachtet, eine überraschend geringe Zahl von geometrischen Möglichkeiten dar, zwischen denen auf das leidenschaftlichste abgewechselt wird, ohne diese Überlieferung durch etwas ganz Neues zu durchbrechen. Nimmt man die paar Moden der Haltung, des Gehens und Sprechens, des Handschlags und Lächelns hinzu, so erscheint das in seiner Gesamtheit dem vom Triëder geübten Auge nicht anders wie ein Pferch, zwischen dessen wenigen Wänden die Menschenherde besinnungslos hin und her stürzt. Und doch, wie willig folgen wir dabei den Führern, die eigentlich nur erschrocken voranfliehen, und welches Glück grinst uns aus dem Spiegel entgegen, wenn wir Anschluß haben, aussehen wie alle, und alle anders aussehen als gestern. Offenbar befürchten wir mit Grund, daß unsere Eigenschaften wie ein Pulver auseinanderfallen würden, wenn wir sie nicht in solche Tüten stecken könnten.
Im Triëder kann man sie zum Auseinanderfallen bringen, aber auch das Umgekehrte geschieht, daß unbeachtete Eigenschaften den Zusammenhang offenbaren, den sie mit dem Ganzen haben. Um von nichts Schwierigerem als von den Füßen zu reden, wie unheimlich sind sie an Mann und Frau! Man weiß ja einiges davon schon aus dem Kino, wo berühmte Helden und Heldinnen eilig aus dem Hintergrund hervorwatscheln wie Enten. Aber das Kino ist ja noch voll Illusion. Viel besser sieht man durchs Triëder, wie die Beine sich oben von den Hüften abstoßen und wie sie unten auf Absatz und Sohle landen; das schwankt nicht nur und kommt mit der Ferse voran an, sondern vollführt in neun von zehn