Gesammelte Werke. Robert Musil
Gründung von Zeitschriften zu. Es sind vor dem Kriege in Deutschland (damals wußte man wenigstens noch bei allem, was man tat, daß es für die Statistik geschah) jährlich über tausend neue Zeitschriften und weit über dreißigtausend neue Bücher erschienen, und wir haben uns natürlich eingebildet, daß es ein weithin leuchtendes Zeichen unseres geistigen Hochstandes sei. Man kann leider mit nicht geringerer Sicherheit vermuten, daß dieses Übermaß ein unbeachtetes Zeichen eines sich ausbreitenden Beziehungswahnes ist, dessen Grüppchen das ganze Leben an einer fixen Idee befestigen möchten, so daß es heute bei uns ein echter Paranoiker wirklich schwer hat, sich des Wettbewerbs der Amateure zu erwehren.
Es ist nicht unmöglich, daß diese drei Tatsachen: es gibt keine Genies, es gibt nur noch Genies und der Mensch mag nicht lesen – in einer tiefen Weise Zusammenhängen; jetzt müßte eigentlich nur noch gesagt werden, warum und wie. Aber da ist eben diese Geschichte mit dem Kircherschen Huhn. Wenn man dieses Huhn mit beiden Händen eine Weile niederdrückte und mit Kreide vorher einen Kreis darum gezogen hatte, so zeigte sich, daß das Huhn nicht aufstehen und den Kreis überschreiten konnte. Man hat sehr viele Hypothesen zur Erklärung dieser äußerst merkwürdigen Erscheinung aufgestellt. Aber irgendwann kam man darauf, daß das Huhn zuweilen auch aufsteht und weggeht. Ich möchte also lieber nichts Abschließendes sagen.
Der Riese Agoag
Wenn der Held dieser Erzählung das Hemd aufstreifte, kamen zwei Arme zum Vorschein, die so dünn waren wie die Schatten unter den Augen einer Jungfrau; wenn er einer Frau Eindruck machen wollte, konnte es geschehen, daß ihr etwas erstaunter Blick auf seinem Scheitel ruhte; und als ihm einmal eine stattliche Schöne überraschend ihre Gunst schenkte, kam sie auf den Einfall, ihn «mein Eichhörnchen» zu nennen. Darum las er in den Zeitungen nur den Sportteil, im Sportteil am eifrigsten die Boxnachrichten und von den Boxnachrichten am liebsten die über Schwergewichte. Sein Leben war dementsprechend unglücklich.
Aber er ließ nicht ab, den Aufstieg zur Kraft zu suchen. Weil er nicht genug Geld hatte, um in einen Verein einzutreten, und weil Sport ohnedies nach neuer Auffassung nicht mehr das verächtliche Talent eines Leibes, sondern ein Triumph der Moral und des Geistes ist, suchte er diesen Aufstieg allein. Es gab keinen freien Nachmittag, den er nicht dazu benutzte, um auf den Zehenspitzen spazierenzugehen. Wenn er sich unbeobachtet wußte, griff er mit der rechten Hand hinter den Schultern vorbei nach den Dingen, die links von ihm lagen, oder umgekehrt. Das An-und Auskleiden beschäftigte seinen Geist als die Aufgabe, es auf die entschieden anstrengendste Weise zu tun. Und weil der menschliche Körper zu jedem Muskel einen Gegenmuskel hat, so daß der eine sich streckt, wenn der andere sich beugt, oder sich beugt, wenn jener sich streckt, gelang es ihm, sich bei jeder Bewegung die unsagbarsten Schwierigkeiten zu schaffen. Man kann behaupten, daß er an guten Tagen aus zwei völlig fremden Menschen bestand, die einander unaufhörlich bekämpften. Wenn er aber nach solchem ausgenutzten Tag ans Einschlafen ging, so spreizte er alle Muskeln, deren er überhaupt habhaft werden konnte, noch einmal gleichzeitig auseinander, und dann lag er in seinen eigenen Muskeln wie ein Stückchen fremdes Fleisch in den Fängen eines Raubvogels, bis ihn Müdigkeit überkam, der Griff sich löste und ihn senkrecht in den Schlaf fallen ließ. Es konnte nicht ausbleiben, daß er bei dieser Lebensweise unüberwindlich stark wurde. Aber gerade, als er, ehe dies geschah, einmal vierzehn Tage lang seine Übungen ausgesetzt hatte, bekam er Streit auf der Straße und wurde von einem dicken Schwamm von Menschen verprügelt.
Bei diesem schimpflichen Kampf nahm seine Seele Schaden, er wurde niemals wieder ganz wie früher, und es erschien lange fraglich, ob er ein Leben ohne alle Hoffnung werde ertragen können. Da rettete ihn ein großer Omnibus. Er wurde zufällig Zeuge, wie ein riesiger Omnibus einen athletisch gebauten jungen Mann überfuhr, und dieser tragische Unfall wurde für ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Lebens. Der Athlet wurde sozusagen vom Dasein abgeschält wie ein Span oder eine Apfelschale, wogegen der Omnibus bloß peinlich berührt zur Seite wich, stehenblieb und aus vielen Augen zurückglotzte. Es war ein trauriger Anblick, aber unser Mann nahm rasch seine Chance wahr und kletterte in den Sieger hinein.
Das war nun so: Für fünfzehn Pfennige durfte er, wann immer er wollte, in den Leib eines Riesen kriechen, vor dem alle Sportsleute zur Seite sprangen. Der Riese hieß Agoag. Das bedeutet wohl Allgemein geschätzte Omnibus-Athleten-Gesellschaft; denn wenn man Märchen erleben will, muß man heute sehr klug sein. Unser Held saß nun auf dem Verdeck und war so groß, daß er alles Gefühl für die Zwerge verlor, die auf der Straße wimmelten. Unvorstellbar, was sie miteinander zu sprechen hatten. Er freute sich, wenn sie erschrocken hopsten. Er schoß, wenn sie die Fahrbahn überquerten, auf sie los wie ein großer Köter auf Spatzen. Er sah auf die Dächer der eleganten Privatautos, die ihm sonst geradezu einschüchternd vornehm erschienen waren, – nun, er sah im Bewußtsein der eigenen Zerstörungskraft etwa auf sie wie ein Mensch, mit einem Messer in der Hand, auf die lieben Hühner in einem Geflügelhof. Man braucht durchaus nicht viel Phantasie dazu, bloß logisches Denken, um ihm zu folgen. Denn wenn es richtig ist, was man sagt, daß Kleider Leute machen, weshalb sollte das nicht auch ein Omnibus können? Man hat seine riesige Kraft an oder um, und wenn man sich einen ritterlichen Helden mit einem Panzer denken kann, weshalb nicht auch mit einem Omnibus? Und die großen Kraftnaturen der Weltgeschichte? War ihr verwöhnter Leib das furchtbar Große an ihnen oder war es der Machtapparat, mit dem sie ihn zu umgeben wußten? Und was ist es, dachte unser Mann in seinem engeren Gedankenkreis, mit allen den Edelleuten des Sports, welche die Könige des Boxens, Laufens und Schwimmens als Höflinge umgeben, vom Manager und Trainer bis zu dem Mann, der die blutigen Eimer wegträgt oder den Bademantel um die Schultern legt: verdanken diese zeitgenössischen Nachfolger der alten Truchsessen und Mundschenken ihre persönliche Würde ihrer eigenen oder den Strahlen einer fremden Kraft?
Man sieht, der Held dieser Geschichte hatte sich vergeistigt. Er benutzte nun jede freie Stunde zum Omnibusfahren. Sein Traum war ein umfassendes Streckenabonnement. Und wenn er es erreicht hat und nicht gestorben, erdrückt, überfahren worden, abgestürzt oder in einem Irrenhaus ist, fährt er damit noch heute. Allerdings, einmal ging er sogar so weit, eine Freundin auf den Omnibus mitzunehmen, um sie auf die Probe zu stellen, ob sie geistige Männerschönheit zu würdigen wisse. Und da war in dem Riesenleib ein winziger Parasit mit dicken Schnurrbartspitzen, der lächelte die Freundin frech an, und sie lächelte zehn Minuten lang zurück; ja, er flüsterte ihr im Vorbeistreifen sogar etwas zu. Unser Held kochte vor Wut; er hätte sich gerne auf den Nebenbuhler gestürzt, aber so klein dieser neben dem Riesen Agoag aussehen mußte, in dessen Leib war er gut doppelt so breit als unser Held. Da stieg dieser aus und überhäufte seine Freundin mit Vorwürfen. Aber, siehe, sie antwortete: Ich mache mir gar nichts aus starken Männern, ich liebe nur Omnibusse! – Damals ahnte dem Entdecker des Omnibus, daß irgend etwas an seiner Entdeckung nicht stimme; aber wie das schon so ist, solche Ahnungen gehen vorüber.
Eine Geschichte aus drei Jahrhunderten
Als der Marquis von Epatant den Raubtieren vorgeworfen wurde – eine Geschichte, die leider in keiner einzigen Chronik des achtzehnten Jahrhunderts erwähnt wird –, sah er sich plötzlich in eine so peinliche Lage versetzt, wie sie ihm noch nie widerlaufen war. Er hatte mit dem Leben abgeschlossen und ging lächelnd, mit einem Blick, der wie aus zwei geschliffenen Edelsteinen kam, aber nichts mehr sah, dem Nichts entgegen. Doch es löste ihn dieses Nichts nicht ins Ewige auf, zog sich vielmehr sehr gegenwärtig zusammen; mit einem Wort, nicht das Nichts, sondern nichts ereignete sich, und als er sich seiner Augen wieder zum Sehen zu bedienen begann, gewahrte er ein großes Raubtier, das ihn unschlüssig betrachtete. Dies wäre dem Marquis weiter nicht peinlich gewesen, – er hatte Angst, aber er wußte, wie man sie zu tragen habe, – wenn er nicht im selben Augenblick innegeworden wäre, daß es ein weibliches Raubtier war. Strindberg gab es damals noch nicht, man lebte und starb in den Anschauungen des achtzehnten Jahrhunderts, und Epatants natürliche Regung war es, den Hut zu lüften und eine galante Verbeugung zu machen. Dabei sah er aber, daß die Handgelenke der ihn betrachtenden Dame fast so breit waren wie sein Oberschenkel, und die Zähne, welche in dem lüstern und neugierig geöffneten Mund sichtbar geworden waren, gaben ihm ein Bild des Massakers, das ihm bevorstand. Diese Person vor ihm war schön, furchteinflößend stark und in Blick wie Gestalt durchaus weiblich. Das war zuviel für Epatant. Er fühlte sich durch