Gesammelte Werke. Robert Musil

Gesammelte Werke - Robert Musil


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eine andere Lage einnahm; die Augen gingen irgendwohin zur Seite, Achsel, Arm und Hand bewegten sich nach entgegengesetzten Richtungen, und mindestens ein Bein federte im Kniewinkel wie eine Briefwage. Wie gesagt, er war damals ein liebenswürdiger Mensch, bescheiden, schüchtern, ehrfürchtig, und manchmal war er auch das Gegenteil davon.

      Als ich ihn wiedersah, besaß er ein Auto, eine Frau, die sein Schatten war, und eine angesehene, einflußreiche Stellung. Wie er das angefangen hatte, weiß ich nicht; aber was ich vermute, ist, daß das ganze Geheimnis darin lag, daß er dick wurde. Sein eingeschüchtertes, bewegliches Gesicht war weg. Genauer besehen, es war noch da, aber es lag unter einer dicken Hülle von Fleisch. Seine Augen, die einst, wenn er etwas angestellt hatte, so rührend sein konnten wie die eines traurigen Äffchens, hatten eigentlich ihren aus dem Innern kommenden Glanz nicht verloren, aber zwischen den hoch gepolsterten Wangen hatten sie jedesmal Mühe, wenn sie sich nach der Seite drehen wollten, und stierten darum mit einem hochmütig gequälten Ausdruck. Seine Bewegungen fuhren innerlich immer noch umher, aber außen, an den Beugen und Gelenken der Glieder wurden sie von stoßdämpfenden Fettpolstern aufgefangen, und was herauskam, sah wie Kurzangebundenheit und entschlossene Sprache aus. So war nun auch der Mensch geworden. Sein irrlichternder Geist hatte feste Wände und kompakte Überzeugungen bekommen. Manchmal blitzte noch etwas in ihm auf, aber es verbreitete keine Helligkeit mehr in dem Menschen, sondern war ein Schuß, den er abgab, um damit zu imponieren oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Es war nun eigentlich viel weniger an ihm als früher; von allem, was er äußerte, ging zwölf auf ein Dutzend, wenn es auch ein Dutzend guter, verläßlicher Ware war. Seine Vergangenheit behandelte er selbst nun so, wie man sich an eine Jugendtorheit erinnert.

      Aber das Sonderbare war, – weshalb ich mir diese Erinnerungen niederzuschreiben erlaube –, daß ich immerdar, wenn ich ihn ansah, das Empfinden hatte, der alte Mensch sei noch in ihm. Er stand in ihm, von der fleischigen größeren Wiederholung der ursprünglichen Gestalt eingeschlossen. Sein Blick stach im Blick des andern, sein Wort im Wort. Es war unheimlich. Ich habe ihn inzwischen noch oft wiedergesehen, und dieser Eindruck hat sich jedesmal wiederholt; er wohnt eingekerkert in seinem Körper. Ich glaube heimlich, er gäbe etwas darum, wenn er einmal einen Tag lang wieder keinen Charakter haben könnte. Ich habe ihm natürlich eine Abmagerungskur angeraten, aber er hat nicht den Mut dazu; er erklärt, daß solche Kuren nervöse Angstzustände hervorrufen und überhaupt nicht ungefährlich seien.

      Wer hat dich, du schöner Wald ..?

[27. Juli 1927]

      Wenn es sehr heiß ist und man einen Wald sieht, so singt man: «Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben?» Das geschieht mit automatischer Sicherheit und gehört zu den Reflexbewegungen des deutschen Volkskörpers. Je ohnmächtiger die von Hitze aufgequollene Zunge schon überall im Munde anstößt und je ähnlicher einer Haifischhaut die Kehle bereits geworden ist, desto empfindungsvoller reißen sie dann alle Kraft zu einem musikalischen Finish zusammen und beteuern, daß sie den Meister loben wollen, solang noch die Stimm’ erschallt. – Dieses Lied wird mit der ganzen Unbeugsamkeit jenes Idealismus gesungen, den am Ende aller Leiden ein Getränk erwartet.

      Man braucht, um das ganz klar zu erfassen, nur beinahe gestorben zu sein. Dann liegt man – etwa nach einem schweren Unglücksfall, mehrfach operiert und doch wieder ganz geworden – zur Erholung in dem schönen Sanatorium eines Kurorts, in weiße Tücher und Decken gehüllt, auf einem luftüberströmten Balkon, die Welt ist ein fernes Summen, und jede Wette, wenn das Sanatorium diese Möglichkeit besitzt, wird man so gebettet, daß man wochenlang nichts vor Augen sieht als das steile, grüne Waldzelt eines Berges. Man wird so geduldig wie ein Kiesel in einem Bach, um den das Wasser spült. Das Gedächtnis ist noch voll Fieber und der überstandenen süßen Trockenheit nach der Narkose. Und man erinnert sich bescheiden, daß man in den Tagen und Nächten, wo Tod und Leben miteinander stritten und die tiefsten oder doch letzten Gedanken an ihrem Platz gewesen wären, rein nichts gedacht hat, als immer das gleiche: wie man auf einer Hochsommerwanderung sich dem Saum eines Waldes nähert. Immer von neuem taucht die Phantasie aus der galligen Glut der Sonne in das feuchte Dunkel, um sogleich wieder zwischen prallen Feldern die Wanderung von ferne aufzunehmen. Was sind Gemälde, Romane, Philosophien dagegen! In einem Zustand solcher Schwäche schließt sich das, was einem an Körper geblieben ist, wie eine fiebernde Hand, und die geistigen Einbildungen schmelzen weg wie Körnchen Eis. Man nimmt sich vor, ein Leben zu führen, das so alltäglich wie nur möglich sein soll, mit ernstem Bemühen um Wohlhabenheit und ihre Genüsse, die so einfach und unveränderlich sind wie der Geschmack der Kühle, die Wohltaten jeden Behagens und der Friede, den eine gesicherte Tätigkeit gewährt. Oh, man verabscheut alles Geniale, Revolutionäre, Ungewöhnliche, Anstrengende und Fordernde, solange man krank ist, und sehnt sich nach den ewigen, von Mensch zu Mensch gleichen, gesunden Mittelwerten. Steckt darin ein Problem? Mag es warten! Einstweilen ist es die Frage, ob in einer Stunde Hühnerbouillon oder schon etwas Erquicklicheres kommt, und man summt vor sich hin: «Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben …» Das Leben erscheint so sonderbar gerade gebogen, denn, nebenbei bemerkt, auch musikalisch ist man vordem nie gewesen.

      Aber allmählich schreitet die Genesung fort, und mit ihr kehrt der böse Geist wieder. Man stellt Beobachtungen an. Gegenüber dem Balkon steht noch immer das grüne Waldzelt eines Berges, man brummt ihm noch immer das dankbare Lied zu, das nun einmal nicht abzuschütteln ist; aber eines Tages stellt man fest, daß der Wald nicht bloß aus einer Note, sondern aus Bäumen besteht, die man vor Wald nicht bemerkt hat. Wenn man scharf hinsieht, kann man erkennen, daß diese freundlichen Riesen sich Licht und Boden mit dem Futterneid von Pferden streitig machen. Still stehen sie beisammen, hier vielleicht eine Gruppe Fichten, dort eine Gruppe Buchen; es sieht so natürlich dunkel und hell aus wie gemalt und moralisch so erbaulich wie der schöne Zusammenhalt von Familien, aber in Wahrheit ist es der Abend einer tausendjährigen Schlacht. Gibt es denn nicht gelehrte Kenner der Natur, welche wissen, daß die Eiche – heute ein Sinnbild reckenhafter Einsamkeit – einst in unabsehbaren Heeren ganz Deutschland überzogen hat? Daß die Fichte, welche jetzt alles andere verdrängt, ein später Eindringling ist? Daß irgendwann eine Zeit des Buchenreiches aufgerichtet worden ist, und ein Imperialismus der Erlen? Es gibt eine Baumwanderung, wie es eine Völkerwanderung gibt, und wo du einen einheitlichen, urwüchsigen Wald siehst, ist es ein Heerhaufen, der sich auf dem erkämpften Schlachthügel befestigt hat, und wo dir gemischter Baumschlag das Bild friedlicher Familien vorzaubert, sind es versprengte Streiter, zusammengedrängte Reste feindlicher Scharen, die einander vor Erschöpfung nicht mehr vernichten können!

      Immerhin ist das noch Poesie, wenn es auch nicht gerade die des Friedens ist, den wir im Walde suchen; die wahre Natur ist auch darüber schon hinaus. Genese an ihrem Herzen und du wirst – sofern man dir alle Vorzüge moderner Natur bietet – mit zunehmender Kräftigung eines Tages noch die zweite Beobachtung machen, daß ein Wald meistens aus Bretterreihen besteht, die oben mit Grün verputzt sind. Das ist keine Entdeckung, sondern nur ein Eingeständnis; ich vermute, man könnte den Blick gar nicht in Grün tauchen, wenn es nicht schon mit schnurgeraden Spalten dafür angelegt wäre. Die schlauen Förster sorgen bloß für ein wenig Unregelmäßigkeit, irgendeinen Baum, der hinten etwas aus der Reihe tritt, um den Blick abzufangen, einen querlaufenden Schlag oder einen gestürzten Stamm, den man sommersüber liegen läßt. Denn sie haben ein feines Gefühl für die Natur und wissen, daß man ihnen mehr nicht glauben würde. Urwälder haben etwas höchst Unnatürliches und Entartetes. Die Unnatur, welche der Natur zur zweiten Natur geworden ist, fällt in ihnen wieder in Natur zurück. Ein deutscher Wald macht so etwas nicht.

      Ein deutscher Wald ist seiner Pflicht bewußt, daß man von ihm singen könne: Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben? Wohl den Meister will ich loben, solang’ noch meine Stimm’ erschallt! Der Meister ist ein Forstmeister, Oberforstmeister oder Forstrat, und hat den Wald so aufgebaut, daß er mit Recht sehr böse wäre, wenn man seine sachkundige Hand darin nicht sofort bemerken wollte. Er hat für Licht, Luft, Auswahl der Bäume, Zufahrtswege, Lage der Schlagplätze, Entfernung des Unterholzes gesorgt und den Bäumen jene schöne, reihenförmige, gekämmte Anordnung gegeben, die uns so entzückt, wenn wir aus der wilden Unregelmäßigkeit der Großstädte kommen. Hinter diesem Forstmissionar, der einfältigen Herzens den Bäumen das Evangelium des Holzhandels predigt, steht eine Güterdirektion, Domänenverwaltung oder fürstliche Kammer


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