Gesammelte Werke. Robert Musil

Gesammelte Werke - Robert Musil


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sie nun weniger schön fand, sprachen wir seither ernster miteinander. Sie erzählte mir von der Trauer ihrer Kindheit, von lange dauernden Krankheiten ihres Körpers und von den Qualen, die ihr die Launen eines an Paralyse erkrankenden Stiefvaters bereitet hatten. Einmal vertraute sie mir sogar an, daß sie deshalb ihren Mann geheiratet hatte, ohne ihn zu lieben. Bloß weil es Zeit war, sich zu versorgen, sagte sie. «Sans enthousiasme; vraiment sans enthousiasme!» – Aber das vertraute sie mir erst einen Tag vor der Abreise an: Sie wußte eben immer etwas Passendes zu sagen und sprach den Zuhörern aus der Seele.

      Gerne würde ich etwas Ähnliches auch von der Dame aus Wiesbaden berichten, die gleichfalls zu unserem Haus gehörte; aber ich habe leider viel von ihr vergessen, und das wenige, was mir geblieben ist, läßt schließen, daß sich das übrige nicht recht dieser Absicht fügen würde. Ich weiß nur, daß sie immer einen der Länge nach breit gestreiften Rock trug, so daß sie aussah wie ein großes Holzgatter, auf dem oben eine ungeplättete weiße Bluse hing. Wenn sie sprach, widersprach sie, und meistens ungefähr in der folgenden Weise: Man sagte zum Beispiel, daß Ottavina schön sei. Ja – ergänzte sie sogleich – ein schöner römischer Typus. Dazu blickte sie einen so feststellend an, daß man um der Sicherheit des Weltlaufes willen sie berichtigen mußte, ob man wollte oder nicht, denn Ottavina, das Stubenmädchen, war aus Toscana. Ja – sagte sie –, aus Toscana. Aber ein römischer Typus! Alle Römerinnen haben Nasen, die von der Stirn gerade Weggehen! Nun war Ottavina nicht nur aus Toscana, sondern sie hatte auch keine Nase, die von der Stirn gerade wegging; aber wenn die Dame aus Wiesbaden etwas sagen wollte, so überlegte sie es mit solcher Heftigkeit, daß ihr plötzlich ein fertiges Urteil aus dem Munde sprang, bloß weil es die anderen fertigen Urteile aus ihrem Kopf verdrängten. Ich fürchte, sie war eine unglückliche Frau. Und vielleicht war sie nicht einmal Frau, sondern Mädchen. Sie war im Schiff um Afrika gefahren und wollte nach Japan. Sie hatte eine Freundin, die sieben Glas Bier trank und vierzig Zigaretten rauchte, und sie nannte sie einen ganz famosen Kameraden. Ihr Gesicht sah, wenn sie so sprach, wie ein furchtbar lasterhaftes Gesicht aus, mit zuviel Haut und schiefen Schlitzen für Mund, Nase und Augen, man dachte zumindest, daß sie Opium rauchen müsse; aber wenn sie sich nicht beobachtet fühlte, hatte sie ein ganz braves Gesicht, das in dem anderen darin stak wie der kleine Däumling in den Siebenmeilenstiefeln. Ihr Ideal, das sie noch nicht erreicht hatte, war die Löwenjagd, und sie fragte uns alle, ob wir glaubten, daß sehr viel Kraft dazu gehörte? Mut, – meinte sie – Mut hätte sie wohl genügend, aber ob sie auch den Strapazen gewachsen sei? Ihr Neffe rede ihr zu, weil er gerne mitgenommen werden wolle; aber für solch einen zweiundzwanzigjährigen Lausbuben sei das doch noch etwas anderes, nicht? Die gute, weltumsegelnde Tante! Ich bin überzeugt, daß sie ihrem Neffen unter der Sonne Afrikas einen kleinen forschen Klaps auf die Schulter geben wird und daß sich die Löwen davonschleichen werden, so wie Mme. Gervais und ich es taten, wenn wir konnten.

      Ich flüchtete mich dann sogar zuweilen zu Frau Nimmermehr ins Büro oder schlich auf den Gang und spähte, ob ich Ottavina sähe. Ich hätte auch einen Blick auf Gottes Sterne werfen können, aber Ottavina war schöner. Sie war das zweite Stubenmädchen, eine neunzehnjährige Bäuerin, die daheim einen Mann und einen kleinen Knaben hatte; sie war die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Sage niemand, es gebe viel verschiedene Schönheit, Schönheit in vielerlei Art und Stil: das weiß man. Aber die Art von Ottavinas Schönheit könnte mir gestohlen werden; es war Raffaels Art, gegen die ich eine unerlaubte Abneigung habe; was trotz dieser Schönheit das Auge bezwang, war Ottavinas Schönstheit! Zum Glück darf man sagen, daß sich so etwas dem, der es nicht gesehen hat, nicht beschreiben läßt. Wie abstoßend wirken die Worte Harmonie, Gleichmaß, Vollkommenheit, edel! Wir haben sie gemästet; sie stehen wie dicke Frauen auf winzigen Füßen da und können sich nicht rühren. Wenn man aber einmal wirkliche Harmonie und Vollkommenheit sieht, so ist man erstaunt darüber, wie natürlich sie ist. Sie kommt zu ebener Erde herbei. Sie fließt wie ein Bach; gar nicht regelmäßig, mit der unbekümmerten Selbstherrlichkeit der Natur, ohne Anstrengungen zur Großartigkeit oder Vollendung. Wenn ich von Ottavina sage, sie war groß, kräftig, adelig, vornehm, so habe ich das Gefühl, diese Worte seien von anderen Menschen genommen. Ich habe das Bedürfnis, sogleich etwas hinzuzufügen. Sie war groß, aber ohne Verlust an Lieblichkeit. Kräftig, aber nicht voll. Adelig ohne Verlust an Ursprünglichkeit. Eine Göttin und das zweite Stubenmädchen. Ich konnte mit der neunzehnjährigen Ottavina nicht sprechen, weil sie mein gebrochenes Italienisch für unpassend fand und auf alles, was ich sagte, nur mit einem sehr höflichen Ja oder Nein antwortete; aber ich glaube, ich betete sie an. Ich weiß es natürlich nicht sicher, weil auch das bei Ottavina etwas anderes bedeutete. Ich begehrte sie nicht, ich litt keinen Mangel, ich schwärmte nicht; im Gegenteil, so oft ich sie sah, suchte ich mich so unauffällig zu benehmen wie ein Sterblicher, der in die Gesellschaft von Göttern geraten ist. Sie lächelte, ohne daß eine Falte in ihrem Gesicht entstand. Ich konnte sie mir nicht anders in den Armen eines Mannes denken, als mit diesem Lächeln und einem sanften Erröten, das sich wie eine Wolke über sie ausbreitete, hinter der sie dem Zugriff der Begierde entschwand.

      Immerhin hatte Ottavina einen ehelichen Knaben, und ich verzog mich zuweilen zur alten Frau Nimmermehr ins Büro, um im Gespräch mit ihr wieder Anschluß an die Wirklichkeit zu finden. Sie ließ, wenn sie durchs Zimmer ging, die Arme mit den Handrücken nach vorn hängen, hatte den breiten Buckel und Bauch einer Matrone und beschönigte das Leben nicht mehr. Wenn man sie, vom Forschungstrieb geplagt, fragte, ob ihre große schwarze Katze Michette denn eigentlich ein Kater oder ein Weib sei, sah sie einen nachdenklich an und meinte philosophisch: «O je, das kanma gar nicht sage; die is ein Kaschtrath!» – In jüngeren Jahren hatte Frau Nimmermehrs Herz einen einheimischen Freund besessen, Sor Carlo, und wo immer man sich in Frau Nimmermehrs Bereich bewegte, konnte man am Ende einer Perspektive von Türrahmen Sor Carlo sitzen sehen. Zwischen Ostern und Oktober, versteht sich; denn er war ein Wrack und selbst jetzt, außerhalb der Saison, war sein Dasein das eines allen Mitbewohnern zwar bekannten, aber öffentlich nicht zugegebenen Gespenstes. Er saß immer an irgendeiner Wand, reglos in einem schmutzigen hellen Anzug, die Beine wie Säulen gleich dick von oben bis unten, das edle Gesicht mit dem schwarz gefärbten Cavourbart von Fett und Leiden entstellt. Nur wenn ich nachts nach Haus kam, sah ich ihn in Bewegung. Wenn alle Augen, die ihn beaufsichtigten, schliefen, schleppte er sich stöhnend durch die Gänge, von Bank zu Bank, und kämpfte mit Atemkrämpfen. Da lebte er sich aus. Ich versäumte nie, ihn zu grüßen, und er dankte mir mit Würde. Ich weiß nicht, ob er für das Gnadenbrot dankbar war, das ihm Frau Nimmermehr bot, oder ob er gegen Undank protestierte und aus gekränkter Würde tagsüber mit offenen Augen zu schlafen schien. Es verriet auch nichts, wie Frau Nimmermehr für ihren alten Sor Carlo empfand. Man darf wahrscheinlich annehmen, daß die schöne Ausgeglichenheit des Alters sie schon längst der Wichtigkeit enthoben hatte, die ein jüngerer Mensch solchen Dingen beimißt. Wenigstens traf ich sie einmal in ihrem Büro so mit Sor Carlo an: Sor Carlo saß an der Wand und hatte seinen schlafenden Blick durch die gegenüberliegende Wand ins Unendliche gerichtet, und Frau Nimmermehr saß am Tisch und hatte ihren Blick durch die offene Tür ins Dunkle gerichtet. Diese beiden Blicke gingen, von ungefähr einem Meter Raum getrennt, parallel aneinander vorbei, und unter dieser Blickebene saß neben dem Tischbein Michette, die Katze, mit den beiden Hunden des Hauses. Der blonde Spitz Maik, mit dem zarten, ausfallenden Haar und der beginnenden Altersdarre im Rücken, versuchte an Michette etwas, das sonst nur Hunde an Hunden tun, und der dicke rotblonde Spitz Ali kaute indessen gutmütig an ihrem Ohr; niemand wehrte es, Michette nicht und die beiden alten Menschen nicht.

      Wer es bestimmt verwehrt hätte, wäre Miß Frazer gewesen; aber es ist anzunehmen, daß sich Maik in ihrer Gegenwart so etwas gar nicht erlaubt hätte. Miß Frazer saß jeden Abend in unserem Salon auf der Kante eines Fauteuils; den Oberkörper hatte sie brettgerade zurückgelehnt, so daß er die Stuhllehne nur am obersten Rand berührte, und die Beine ungebogen so von sich gestreckt, daß sie die Erde nur mit den Hacken berührten; in dieser Stellung häkelte sie. Wenn sie damit fertig war, setzte sie sich an den ovalen Tisch, mitten in unsere Konversation hinein, und schrieb ihre tägliche Lektion. Wenn diese beendigt war, legte Miß Frazer mit schnellen Fingern zwei Patiencen. Und wenn die Patiencen aufgegangen waren, sagte sie good night und verschwand. Dann war es zehn Uhr. Ausnahmen gab es nur, wenn einer von uns in dem tropisch glühenden Salon ein Fenster öffnete; dann stand Miß Frazer auf und schloß es wieder. Wahrscheinlich vertrug sie den Luftzug nicht. Wir wußten ebensowenig


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