Gesammelte Werke. Robert Musil
daß auf eine Umdrehung des Lebens mindestens fünf Umdrehungen der Kunst kommen. Betrachtet man als nächstliegendes Beispiel die letzten hundert Jahre, so sieht man die gesamte Gegenwart in einer glatten, ununterbrochenen Bewegung aus der Vergangenheit heraussteigen, während zum Beispiel die Dichtung in der gleichen Zeit klassisch, romantisch, epigonisch, impressionistisch und expressionistisch war. (Kleinigkeiten wie Büchner, Grillparzer, Hebbel nicht zu rechnen.) Es ist leichter vorauszusagen, wie die Welt in hundert Jahren aussehen wird, als wie sie in hundert Jahren schreiben wird. Nicht einmal hinterdrein kann man das prophezeien. Denn wenn man etwa, wie das ja zuweilen vorkommt, ein Theaterstück oder einen Roman wiedersieht, die vor zwanzig Jahren die Seelen mitgerissen haben, so erlebt man etwas, das eigentlich noch kein Mensch erklärt hat, weil es scheinbar jeder für natürlich hält: der Glanz ist weg, die Wichtigkeit ist weg, Staub und Motten fliegen bei der Berührung auf. Aber warum das so sein muß und was sich da eigentlich geändert hat, weiß niemand. Die Komik aller Kunstjubiläen besteht darin, daß die alten Bewunderer so feierlich beunruhigte Gesichter machen, als ob ihnen der Kragenknopf hinter die Hemdbrust gerutscht wäre.
Es ist nicht das gleiche, wie wenn man einer alten Jugendgeliebten begegnet, die mit den Jahren nicht schöner geworden ist. Denn dann begreift man zwar auch nicht mehr, was man einstens gestammelt hat, aber das hängt wenigstens mit der rührenden Vergänglichkeit alles Irdischen und dem bekannt unanständigen Charakter der Liebe zusammen. Aber eine Dichtung, die man wiedersieht, ist wie eine Jugendgeliebte, die zwanzig Jahre lang in Spiritus gelegen ist, so daß sich an ihr nicht ein Haar und nicht eine Schuppe der rosigen Epidermis geändert hat. Ein Schauer faßt dich an! Denn, da sie sich in nichts geändert hat, erscheint dir alles, wie wenn du dich bloß zweimal rasch umgedreht hättest, ohne auch nur das Gespräch zu unterbrechen, und dennoch kannst du im selben Augenblick weder dich, noch sie wiedererkennen! Das ist doch wohl um einen Grad unheimlicher.
Es ist auch nicht so, wie man sonst den Gespenstern alter Erregungen und Begeisterungen begegnet; Feinden, Freunden, durchlärmten Nächten, überstandenen Leidenschaften. Dies alles ist samt seinen Bedingungen versunken, wenn es vorbei ist; es hat irgend einen Zweck erfüllt und ist von der Erfüllung aufgesogen worden; es war eine Strecke des Lebens oder eine Stufe der Person. Aber die gewesene Kunst diente zu nichts, ihr Einst hat sich unmerklich verloren und verlaufen, sie ist niemandes Stufe. Denn fühlt man sich wirklich höher stehen, wenn man auf das einst Bewunderte herabblickt? Man steht nicht höher, sondern bloß anderswo! Ja, ehrlich gesagt, wenn man auch vor einem älteren Bild mit befriedigtem Gähnen feststellt, daß man nicht mehr begeistert zu sein braucht, so ist man noch lange nicht begeistert davon, daß man nun die neuen bewundern muß. Man fühlt sich bloß von einem neurotischen Zwang in den nächsten geraten, was keineswegs ausschließt, daß man sich höchst freiwillig und aktiv gebart; Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit sind ja nicht durchaus Gegensätze, man kann etwas halb unfreiwillig tun und dafür die freiwillige Hälfte sozusagen verdoppeln, so daß man schließlich das Freiwillige unfreiwillig übertreibt oder das Unfreiwillige freiwillig, was fast schon das gleiche ist.
Dennoch steckt ein merkwürdiges Darüberhinaussein in diesem Anderswo. Es ist heimlich mit der Mode verwandt. Die Mode hat ja nicht nur die Eigenschaft, daß man sie lächerlich findet, sondern auch die andere, daß man sich schwer vorstellen kann, ein Mann, der nicht Zug um Zug ebenso lächerlich gekleidet sei wie man selbst, sei geistig ohne Vorbehalt ernst zu nehmen. Ich wüßte nicht, was bei unserer Bewunderung für die Antike einen angehenden Philosophen vor dem Selbstmord schützen könnte, wenn nicht der Umstand, daß Platon und Aristoteles keine Hosen trugen; die Hosen haben, mehr als man denkt, zum geistigen Aufbau Europas beigetragen, das ohne sie seinen klassisch-humanistischen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Antike wahrscheinlich niemals losgeworden wäre. So ist es unser tiefstes Zeitgefühl, daß wir mit niemand tauschen möchten, der in unmodernen Kleidern lebt. Auch in der Kunst haben wir wohl deshalb mit jedem neuen Jahr das Gefühl des Fortschritts, wenn es vielleicht auch nur Zufall ist, daß die Bilderausstellungen zur gleichen Zeit kommen wie die neuen Moden, im Frühjahr und Herbst. Aber dieses Gefühl ist nicht angenehm. Es ist wie im Traum, wo man auf einem Pferd sitzt und nicht herunter kann, weil es keinen Augenblick stillsteht. Man würde sich gern über den Fortschritt freuen, wenn er bloß ein Ende hätte. Man würde gern einen Augenblick anhalten und vom hohen Roß zur Vergangenheit sprechen: Sieh, wo ich bin! Aber schon geht die unheimliche Entwicklung weiter, und wenn man das einigemal mitgemacht hat, so beginnt man sich jämmerlich zu fühlen, mit vier fremden Beinen unter dem Bauch, die unentwegt fortschreiten.
Und so sind zum Schluß doch die Mode und die Kunst und die Liebe und die Begeisterung und die schönen Einfälle alle miteinander verwandt. Schrecklich, wenn man sich an alles erinnert, das man wichtig genommen hat! Die meisten Menschen, wenn man ihnen im vorgerückten Alter – phono-und kinematographisch festgehalten – noch einmal die heftigen Gebärden und großen Worte vorführen könnte, die sie gebraucht haben, würden sich wie irrsinnig vorkommen. Es liegt im Wesen des Irdischen eine Übertreibung, ein Superplus und Überschwang. Selbst zu einer Ohrfeige braucht man mehr als man verantworten kann. Aber schließlich verbrennt der Enthusiasmus, und man hat etwas in der Hand; Kinder bleiben davon übrig, Lebensstellungen, Prozesse, getane Reisen, Erfolge, und vor allem entsteht der in seinem soundsovielten Jahr befriedigt auf sein Leben zurückblickende Mann daraus, eine Person, um deretwillen wir alles in der Welt gerechtfertigt finden würden. Nur von der Kunst geht nichts aus, was ohne Enthusiasmus bestehen bleiben könnte. Sie ist sozusagen nur Enthusiasmus ohne Knochen und Asche, reiner Enthusiasmus, der zu nichts verbrennt. Sie ist nicht unsere Vergangenheit, sondern unser Vergangenes. Begreiflicherweise blicken wir es nicht wenig beklommen an, denn man bekommt es nicht oft zu sehen und hat keine Ahnung, aus wieviel Dampf man besteht.
Ich sage übrigens nicht, so muß es sein. Ich sage nur, so ist es meistens. Und selbst das wissen die meisten Menschen nicht.
Der Mensch ohne Charakter
Ich habe mehrere Freunde, welche keinen Charakter besitzen; wer hätte sie nicht? Aber darunter ist einer, der seinen Charakter fast sein ganzes Leben lang vermißt hat, der ihn schmerzlich entbehrt und gesucht hat; und das ist schon etwas nicht ganz Alltägliches.
Wir waren Nachbarskinder. Wenn er irgendeine der Kleinigkeiten angestellt hatte, die so schön sind, daß man sie nicht gern erzählt, pflegte seine Mutter zu seufzen, denn die Prügel, die sie ihm gab, strengten sie an, und dem sollte sie sich eigentlich nicht aussetzen. «Junge,» jammerte sie, «du hast nicht die Spur von Charakter; was mag aus dir noch werden!?» In den schwereren Fällen wurde der Herr Vater zu Rate gezogen. Dann hatten die Prügel eine gewisse Feierlichkeit und eine ernste Würde, ungefähr wie ein Schulfest. Vor Beginn mußte mein Freund dem Herrn Oberrechnungsrat eigenhändig den Rohrstab holen, der im Hauptberuf dem Ausklopfen der Kleider diente und von der Köchin verwahrt wurde, während er nach Schluß die Vaterhand zu küssen und mit Dank für die Zurechtweisung um Verzeihung für die Sorgen zu bitten hatte, die er seinen lieben Eltern verursachte. Mein Freund machte es umgekehrt. Er bettelte und heulte vor Beginn um Verzeihung und setzte das von einem Schlag zum andern fort; wenn es aber einmal vorbei war, brachte er kein Wort mehr hervor, war blaurot im Gesicht, schluckte Tränen und Speichel und suchte durch emsiges Reiben die Spuren seiner Empfindungen zu beseitigen. «Ich weiß nicht,» – pflegte dann sein Vater zu sagen – «was aus dem Jungen noch werden soll; der Bengel hat absolut keinen Charakter!»
So war in unserer Jugend Charakter das, wofür man Prügel bekommt, obgleich man es nicht hat. Man wird nicht übersehen, daß darin eine gewisse Ungerechtigkeit steckt. Ein logisch gereifter Mensch wird freilich sagen, wenn man von uns Charakter verlangte, so sei dies der übergeordnete und zusammengefaßte Begriff gewesen des Gegenteils von schlechten Zeugnissen, geschwänzten Schulstunden, an Hundeschwänze gebundenen Blechtöpfen, Geschwätz und heimlichen Spielen während des Unterrichts, verstockten Ausreden, zerstreutem Gedächtnis und unschuldigen Vögeln, die ein versteckter Schütze mit der Schleuder geschossen hat. Aber das natürliche Gegenteil von alledem waren doch schon die Schrecknisse der Strafe, die Angst vor Entdeckung und die Qualen des Gewissens, welche die Seele mit jener Reue peinigen, die man empfinden könnte, wenn die Sache schief ginge. Das war komplett; für einen Charakter ließ es keinen Platz und keine Tätigkeit übrig, er war vollkommen überflüssig. Dennoch verlangte man ihn von uns.
Es