Detektiv Asbjörn Krag: Die bekanntesten Krimis und Detektivgeschichten. Sven Elvestad
»Es kam mir vor, daß er ein Honorar nannte?«
»Ja,« lächelte Krag, »jedenfalls nicht unter hunderttausend Kronen.«
»Was wollen Sie, daß wir tun?« fragte der Arzt.
»Gehen Sie zum Ostbahnhof,« erwiderte Krag, »und erwarten Sie mich dort. Ich komme gleich nach. Wir müssen die Lokomotiven durchgehen. Ich bin sicher, daß Ingenieur Barra sich daran zu schaffen gemacht hat.«
Der Arzt und der Ingenieur verließen Krag, um sich zum Ostbahnhof zu begeben. Hier warteten sie über eine halbe Stunde, bis Krag kam.
»Sie sehen angegriffen aus,« sagte der Doktor, als Krag in den Wartesaal trat.
»Wir leben doch auch in einer ernsten Zeit,« erwiderte dieser lächelnd.
»Wie das?«
»Sechsunddreißig Stunden wird mir jetzt ununterbrochen nach dem Leben getrachtet werden.«
»Ist das möglich?«
»Ja,« erwiderte Krag, »darüber bin ich mir ganz klar. Sie wissen doch, Holst,« fügte er hinzu, »daß ich in meiner Wohnung Gas habe.«
»Das weiß ich sehr gut,« erwiderte der Ingenieur, »und Sie haben mir ja immer gesagt, wie praktisch das ist.«
»Jawohl, aber jetzt habe ich dafür gesorgt, daß die Leitung abgesperrt wird, so daß in den nächsten drei Tagen kein Gas in meine Wohnung kommen kann.«
»Aber warum in aller Welt haben Sie das getan?«
»Weil ich keine Gasvergiftung wünsche,« erwiderte Krag ernst. »Es ist übrigens nicht der einzige Mechanismus, dem ich entronnen bin. Sehen Sie hier,« fuhr er fort, »betrachten Sie einmal diesen Revolver!«
Der Detektiv zeigte den Herren einen Revolver, dessen Mechanismus auseinandergenommen war.
»Den fand ich in meinem Waffenkästchen,« sagte er. »Er gleicht einem meiner eigenen Revolver auf ein Haar, aber ich entdeckte doch sofort, daß es nicht der meine war. Ich sah, daß Ingenieur Barra sich an dem Waffenkästchen zu tun gemacht hatte, natürlich hat er ihn ausgetauscht. Da mir nichts Gutes schwante, untersuchte ich den Revolver sehr genau und vorsichtig, und es zeigte sich, daß sein Magazin mit einem gewaltigen Stück Sprengstoff gefüllt war. Der Revolver war nicht geladen, aber im selben Augenblick, in dem ich versucht hätte, ihn zu laden, würde der Höllenmechanismus gewirkt haben, und dann hätten Sie mich höchstwahrscheinlich nicht hier gesehen, meine Herren.«
»Aber das ist doch entsetzlich,« murmelte der Arzt, »das ist ...«
Er wurde von einem kleinen, schwarzäugigen Judenjungen unterbrochen, der Apfelsinen auf einem Brett feilbot.
»Apfelsinen, Apfelsinen! Frische, saftige Apfelsinen.« rief der Junge.
Krag wollte ihn zuerst abweisen, dann überlegte er es sich und kaufte darauf dem Jungen eine Apfelsine ab, der gleich darauf durch die Türe verschwand.
»Das ist nicht die einzige Gefahr, der ich entgangen bin,« sprach Krag weiter. »Als ich aus meiner Wohnung auf die Straße trat, fielen plötzlich drei Ziegelsteine vom Dach und zerschellten aus dem Trottoir – eine halbe Elle vor mir. Noch ein Schritt, und ich wäre sicher erschlagen worden. Sehen Sie sich jetzt zum Beispiel diese Apfelsine an, die mir von diesem kleinen, schwarzäugigen Halunken gebracht wurde.«
Er riß die Apfelsine auseinander und reichte dem Arzt die eine Hälfte.
»Riechen Sie mal,« sagte er, »ich wette, daß auch dies eine Falle ist.«
Der Doktor schnüffelte lange an der Apfelsine.
»Zyankali,« murmelte der Arzt und erbleichte. »Eines der gefährlichsten Gifte, die es gibt. Es ist erst vor wenigen Minuten eingespritzt worden. Das ist doch das Teuflischste, was mir je untergekommen ist.«
Die drei Männer, von einigen Maschinisten der Eisenbahn begleitet, untersuchten nun alle vorhandenen Lokomotiven. Namentlich wurde die Schnellzugslokomotive Nummer 72 sorgsam geprüft. Schließlich wurde sogar eine Probefahrt veranstaltet, aber man fand nicht den geringsten Fehler an dem Mechanismus.
Asbjörn Krag wendete sich an den Stationsvorstand und fragte, ob mit einem der nach Süden gehenden Züge eine größere Wertsendung abgeschickt werden sollte.
Der Stationsvorstand erwiderte, er habe noch keine diesbezügliche Mitteilung erhalten. Wenn Gold mit den Zügen geschickt wurde, bekam das Personal der Eisenbahn Kenntnis. Dies geschah, damit das Geheimnis der Wertsendung sich nicht verbreitete.
Da auf dem Bahnhof also nichts mehr zu entdecken war, verließen ihn die Herren. Draußen nahmen sie eine Droschke. Asbjörn Krag wurde vor dem Polizeiamt abgesetzt, die beiden anderen fuhren weiter, jeder zu sich nach Hause, da vorläufig – wie Krag sagte – nichts anderes zu tun war, als den Donnerstag abzuwarten und zu sehen, was er an mystischen und verhängnisvollen Begebenheiten bringen konnte.
VIII.
Die Katastrophe
Die Nacht zum Mittwoch schlief Asbjörn Krag allein in der Polizeiwachtstube, wo einige der untergeordneten Konstabler immer anwesend waren. Er wollte es nicht riskieren, allein zu sein, denn er fühlte sich beständig von der Mörderbande des rotbärtigen Ingenieurs umschwärmt.
Am Mittwoch in aller Frühe ging er in die Stadt. Er hatte einen geladenen Revolver in der Tasche. Im Hotel erfuhr er, daß Ingenieur Barra die ganze vorhergehende Nacht aufgesessen war und gearbeitet hatte. Von Zeit zu Zeit hatte man ihn fieberhaft im Zimmer hin und her gehen gehört. Um acht Uhr morgens war ein schwarzbärtiger Mann zu ihm auf Besuch gekommen, und die beiden hatten lange miteinander gesprochen.
»War es ein Nordländer?« fragte Krag.
»Nein,« erwiderte der Hotelportier, »ich glaube, es war ein Spanier oder Italiener, er sprach sehr gebrochen Norwegisch.«
Der Detektiv erbat sich eine nähere Beschreibung, und der Portier berichtete, daß der Fremde von kleinem Wuchs war, aber sehr muskulös und stark, und aussah wie ein Seemann oder etwas Derartiges, denn dicht über dem Handgelenk hatte er einen blauen Anker eintätowiert. Er hatte kohlschwarzes Haar und Bart und trug kleine Goldohrringe. Dieser Schwarze war gegen neun Uhr fortgegangen und gleich darauf hatte sich Ingenieur Barra zum Schlafen niedergelegt.
Asbjörn Krag begab sich zur Polizeistation zurück und sah in den Protokollen nach, ob irgendein Ausländer angemeldet war, dessen Aussehen der Beschreibung des Portiers entsprechen konnte. Aber es war nichts zu finden. Krag setzte darum die ganze Detektivabteilung des Polizeikorps in Bewegung, um den Schwarzen zu finden. Im Laufe des Vormittags wurden alle Pensionen und Hotels der ganzen Stadt durchstöbert, aber nirgends wohnte ein Mann, der der Beschreibung entsprach.
Asbjörn Krag begann ganz fieberisch zu werden. War es denn nicht möglich, den Aufenthaltsort dieses verdammten Schurken und seiner Mitverbündeten zu finden? Es mußte eine ganze Menge solcher geben, aber es konnte nicht die Rede davon sein, herauszufinden, wo sie nachts schliefen oder sich außerhalb der bestimmten Zeiten aufhielten, wo sie mystisch und plötzlich in der Nähe des rotbärtigen Ingenieurs auftauchten und wieder verschwanden. Aber Krag wußte doch jetzt, daß der entscheidende Wendepunkt des Abenteuers unmittelbar bevorstand, in höchstens vierundzwanzig Stunden würde das geschehen, was Barra Reichtum oder Gefängnis bringen mußte.
Donnerstag stand im Telegramm. Also morgen gingen zwei Schnellzüge nach dem Süden, der Tagesschnellzug um zwei Uhr und der Nachtschnellzug um elf Uhr zehn. Natürlich konnte von einem Attentat gegen den Tagesschnellzug nicht die Rede sein – also handelte es sich darum, auf den Elfuhrzehnzug aufzupassen. Er hatte es auch erreicht, daß die Lokomotive Nummer 72 diesem Zuge nicht beigegeben wurde.
Der Detektiv wußte ganz gut, daß man ihm nachspionierte. Nie war er auf der Straße so vielen starrenden