Detektiv Asbjörn Krag: Die bekanntesten Krimis und Detektivgeschichten. Sven Elvestad
verließ das Hotel in fliegender Eile, um zur Polizeistation zurückzufahren.
Dort war alles im hellsten Aufruhr. Die Leute liefen ratlos durcheinander.
»Was ist denn los?« fragte er, von bangen Ahnungen erfüllt.
»Ein Telegramm!« war die Antwort, und er stürzte in das Kontor des Chefs des Sicherheitsbureaus. An dem großen grünen Tisch saß der Chef selbst, eben aus seiner Wohnung hierher berufen. Als Krag eintrat, reichte er ihm ganz umdüstert ein Telegramm. Im selben Augenblick klingelte das Telephon. Es war das Reichstelephon aus Moß.
Der Chef ergriff das Hörrohr, während Asbjörn Krag das Telegramm las.
Das Telegramm war aus Moß abgesandt und lautete:
»Der letzte Wagen des Elfuhrzehnzuges in ganz rätselhafter Weise während der Fahrt zwischen Ski und Moß abgekoppelt. Niemand etwas vor der Ankunft in Moß bemerkt. Vermutlich liegt Verbrechen vor, da abgekoppelter Wagen größere Goldsendung enthielt. Gleichzeitig verdächtig aussehender Reisender, rotbärtig und klein, verschwunden. Schnellzug geht weiter südwärts, aber Lokomotive wird von hier mit Polizei nordwärts gesendet, um Wagen zu suchen.«
Das Telegramm war von dem Stationsvorstand von Moß unterzeichnet.
Asbjörn Krag war ganz blaß und nervös geworden. Also war die Katastrophe doch eingetreten, ohne daß er es hatte verhindern können. Einen Tag früher als berechnet hatte Barra den Coup ausgeführt, eben um die Detektive hinters Licht zu führen. War er denn ein reiner Teufel, dieser Mann? Was sollte Krag nun anfangen?
Er wartete, um zu hören, was dem Chef telephonisch aus Moß mitgeteilt wurde. Es war nur eine kurze Meldung, denn er läutete sofort ab.
»Das ist ja eine schreckliche Geschichte,« sagte er, »wenn nur die Zeitungen nicht schon Wind davon bekommen haben. Ich habe zwar der Polizei in Moß den strengen Auftrag gegeben, alles geheimzuhalten, aber man kann nicht wissen, was geschehen wird, was denken Sie darüber?«
Krag hatte seinen Chef in vollständiger Unkenntnis über die Arbeit gelassen, die er in den letzten Tagen mit der Barra-Sache gehabt hatte.
»Was haben Sie durch das Telephon erfahren?« fragte er zurück.
»Nichts anderes, als daß die Nachforschungslokomotive abgegangen ist. Der Polizeichef teilte es mir mit. Er bat um einige geschickte Detektive. Sie müssen sofort abreisen.«
»Das habe ich mir auch gedacht,« erwiderte Krag. »Ich habe schon einen Extrazug bestellt. Er geht in zwanzig Minuten. Hier gilt es vor allem, rasch zu handeln.«
»Sie hatten also eine Ahnung, was geschehen würde?«
»All das werde ich Ihnen später erklären. Ingenieur Barra ist in Tätigkeit.«
Der Chef fuhr in die Höhe.
»Der Rotbärtige?« rief er.
»Jawohl.«
Asbjörn Krag ging ans Telephon.
»Was wollen Sie tun?« fragte der Chef.
»Ich will nach Horten telephonieren. Ich brauche ein Torpedoboot. Barra hat natürlich das Gold aus dem abgekoppelten Wagen an die See an Bord eines kleinen Dampfers gebracht. Dieser kleine Dampfer ist aus Fredrikshavn gekommen. All das weiß ich. Aber ich habe jetzt nicht Zeit, Ihnen zu erklären, woher.«
Krag bat um Verbindung mit Horten. Einen Augenblick darauf sprach er mit dem wachhabenden Marineoffizier der Werft. In wenigen Worten erklärte der Detektiv ihm die Situation. Es handelte sich darum, den Fredrikshavner Dampfer zu stoppen.
Der Offizier konnte ohne Order des Vizeadmirals, der sich eben in Horten bei den Uebungen der Eskader befand, nichts tun. Aber er versprach, den Admiral augenblicklich wecken zu lassen und dann telephonisch Bescheid zu geben.
Asbjörn Krag sah auf die Uhr. »Noch kann es Zeit sein,« sagte er, »der Nebel hängt dicht, so daß das Fredrikshavner Schiff nur langsam fahren kann. Aber es ist höchste Zeit.«
Im selben Augenblick kam ein Telegraphenbote herein. Es war wieder eine Depesche aus Moß. Der Chef des Sicherheitsbureaus las sie laut:
»Der abgekoppelte Wagen zirka acht Kilometer nördlich von Moß auf einem kleinen Wechselgeleise gefunden. Der Goldinhalt geraubt. Der Wächter bewußtlos nach heftigem Schlage auf den Kopf. Der Räuber vermutlich per Automobil südwärts geflüchtet, die Spuren weisen darauf hin.«
Asbjörn Krag lächelte.
»Wir wollen uns nicht so sehr auf die Spur verlassen, die Ingenieur Barra hinterläßt,« sagte er. »Wenn er Spuren hinterläßt, ist es nur, um irrezuführen. Aber wir haben jetzt auf jeden Fall die Gewißheit, daß ein Verbrechen begangen worden ist.«
Der Chef des Sicherheitsbureaus saß mit dem Telegramm in der Hand da und wußte weder aus noch ein.
»Ich verstehe nicht,« sagte er, »wie Barra und seine Helfershelfer diesen Wagen abkoppeln konnten, während der Zug im Fahren war, ohne daß jemand etwas merkte.«
»Nein, das ist sicher überaus rätselhaft,« erwiderte der Detektiv; aber er erinnerte sich an die Worte des Rotbärtigen von den Schienen, für die die Verantwortung übernommen werden mußte, und fügte hinzu: »Vermutlich wieder irgendeine teuflische Erfindung. Ein Arrangement mit den Eisenbahnschienen. Der Wagen wurde doch eben an einem Wechselgeleise abgekoppelt. Ja! Das müssen wir eben herausbekommen. Hallo! Da haben wir schon wieder Horten!«
Asbjörn Krag war durch das intensive Klingeln des Telephons unterbrochen worden. Es war der Vizeadmiral selbst, der anrief.
»Ich kam eben aus einer Gesellschaft, als ich Ihre Botschaft erhielt,« sagte er. »Ich möchte diese Jagd gerne selbst mitmachen. Zwei Torpedoboote liegen bereit. Es fügt sich insofern günstig, als sie morgen ohnehin auf Uebung sollten. Beide bringen Scheinwerfer mit.«
»Ausgezeichnet! Wann können sie fahren?«
»Sogleich.«
»Haben Sie Bescheid über die Affäre bekommen?«
»Ja, ich habe eben mit Moß telephonisch gesprochen.«
»Haben Sie von den Automobilspuren gehört?«
»Ja, aber ich glaube nicht recht daran.«
»Ich auch nicht. Die Stelle, wo der Wagen abgekoppelt wurde, liegt ja ganz nahe vom Meer;« fuhr Krag fort. »Die Goldsendung ist natürlich hinuntergebracht, an Bord eines wartenden Dampfers.«
»Höchst wahrscheinlich.«
»Wie ist das Wetter?«
»Stockfinster und neblig.«
Krag bat schließlich den Admiral, das eine Torpedoboot nach Moß zu senden, um ihn und noch einen Polizisten mit an Bord zu nehmen. Der Admiral versprach es, und es wurde abgeklingelt.
Der Polizist nahm seinen Rock und Hut, prüfte seine Revolver und rief den Kollegen, der ihn auf seiner Fahrt begleiten sollte.
Gleich darauf saßen die beiden Polizisten in einer Droschke und fuhren in raschem Trab dem Ostbahnhof zu. Hier stand die Lokomotive bereit. Es war der neue, kräftigste Stahlriese der Eisenbahn. Dichter, schwarzer Rauch quoll aus dem Schornstein.
»Ist die Linie bis Moß ganz klar?« fragte Krag, indem er mit seinem Kollegen auf der Lokomotive Platz nahm.
»Der ganze Weg klar!« lautete die Antwort. »Alle sind von dem Extrazug verständigt.«
»Denn los!« – Und die Lokomotive machte einen Ruck und prustete aus der Station in die nächtliche Dunkelheit. Zugleich schrie Asbjörn Krag dem Lokomotivführer ins Ohr:
»Fahren Sie auf Leben und Tod, Mann! Lassen Sie die Stationen vorbeitanzen wie die Telegraphenpfähle!«
Der Lokomotivführer nickte zustimmend, und der Heizer spuckte sich in die Faust und griff nach seinem Schürhaken.
IX.