Harald Harst Krimis: Über 70 Kriminalromane & Detektivgeschichten in einem Buch. Walther Kabel
Das Tageslicht schien in den Flur hinein.
Und Harst nickte mir ernst zu.
„Lieber Alter – noch nie war der Tod uns so nahe wie hier in diesem Häuschen!“ Er holte tief Atem. „Den Schreibsessel werde ich kaufen. Die drei Kugeln in der Sitzpolsterung sollen mich ständig daran erinnern, daß wir heute überaus leichtfertig mit unserem Leben umgegangen sind. Wir hätten uns hier einschließen sollen. Na – nun wissen wir immerhin, mit wem wir es zu tun haben. Ottmar Orstra ist jener Verbrecher, der vor fünf und ein Viertel Jahren in Berlin am hellen Tage zwei Bankbeamte im Paketraum der Hauptpost niederschoß und mit einem Leinwandsack, der eine Million enthielt, zu entkommen suchte. Er mußte die Beute jedoch wegwerfen und floh über die Dächer, verschwand. – Orstra war damals – höre und staune! – Privatlehrer der beiden Söhne eines Großkaufmanns. Erst nach diesem mißglückten Anschlag ward offenbar, daß der harmlose Hauslehrer, Doktor der Philosophie Ottmar Orstra ein Doppelleben geführt und eine ganze Menge Einbrüche auf dem Kerbholz hatte. Seitdem hat man von ihm nie wieder etwas gehört. Damals war ich noch Gerichtsassessor. Der Fall Orstra hat sich jedoch meinem Gedächtnis gut eingeprägt.“
2. Kapitel
Harsts überlegene Schlauheit und kaltblütige Ausnutzung aller Vorteile hatte uns diesmal vor den Kugeln dieses Menschen bewahrt.
Als wir das Häuschen jetzt verließen, als wir auf die Straße traten, fanden wir hier eine Menge Neugieriger vor, die auf die Schüsse hin zusammengelaufen waren. Einige der Leute kannten uns schon von Ansehen. Auch der Apotheker des Ortes war darunter, ein sehr freundlicher Herr, den Dronting uns vorgestellt hatte.
Harald fragte ihn, ob nicht vor etwa fünf Minuten ein Mann im Touristenanzug mit blondem Spitzbart das Häuschen verlassen habe.
Die Menge umdrängte uns drei. Ein Arbeiter rief an Stelle des Apothekers:
„Ne – nur die alte Fliepsen, die Aufwärterin von dem Halunken Aarström, kam vorhin herausgehinkt. Ich stehe hier schon zehn Minuten; ich muß es wissen –“
Harst wandte sich dem Manne zu.
„Sahen Sie die Fliepsen auch das Häuschen betreten?“
„Und ob! Sie hatte wie immer ihren Marktkorb am Arm.“
„Wo wohnt diese Frau?“
Der Arbeiter kratzte sich den Hinterkopf. „Hm – das weiß ich nicht, Herr Harst. – Weiß es einer von Euch? Diese an die Allgemeinheit gerichtete Frage wurde von einem kleinen Bengel beantwortet.
„Das kann ich sagen! Sie wohnt bei der Witwe Marnö – links vom Bahnhof –“ –
Der Apotheker schloß sich uns an. Er wollte uns zur Witwe Marnö führen.
Harald wollte Auskunft über die Witwe haben.
„Oh – es ist das der schlimmste Geizkragen des Ortes,“ erklärte der freundliche Herr. „Sie haust da mit einem nicht ganz zurechnungsfähigen Sohn zusammen. Es ist ein großes Gartengrundstück.“
„Über die alte Fliepsen wissen Sie nichts?“
„Nein. Nur daß sie erst kurze Zeit hier wohnt. Ich glaube, sie kam zusammen mit der Witwe Marnö hierher.“
„Vor einem Vierteljahr?“
„Ja, das kann wohl stimmen, Herr Harst. Die Marnö kaufte das Grundstück von den Erben des Arztes Baalker.“
Der Leser wird bereits selbst auf den Gedanken gekommen sein, daß „die alte Fliepsen“ überhaupt nicht existierte und daß Ottmar Orstra alias Arbang die Rolle der Aufwärterin gespielt hatte.
Als wir uns nun durch den Gemüsegarten dem Hause der Witwe näherten, sagte Harald leise zu mir:
„Halte die Clement bereit!“
Doch – diese Vorsicht erwies sich als überflüssig.
Frau Marnö, ein hageres Weib mit tückischen Augen und dem unterwürfigen Grinsen einer gemeinen Seele, kam uns entgegen.
„Wie?!“ rief sie dann. „Die Fliepsen soll bei mir gewohnt haben?! Wer hat den Herren das aufgebunden?! Nein – die Fliepsen kaufte hier nur Gemüse und Kartoffeln ein. Sie wohnte doch bei dem alten Säufer, dem Aarström!“
„Das trifft nicht zu, Frau Marnö,“ meinte der Apotheker. „Bei Aarström wohnte sie nicht.“
Harald sagte nun, Frau Marnö hätte doch wohl bereits von den Vorfällen auf der Insel gehört; ob ihr wohl an der Fliepsen etwas aufgefallen sei?
„Ja – das schon, Herr. – Sie sind wohl der berühmte Detektiv Harst? – Na, gut, Herr Harst, – also mir fiel auf, daß die Fliepsen stets nach Schnaps roch und eine so tiefe Stimme hatte.“
„Danke, Frau Marnö. – Sie haben hier ein recht hübsches Grundstück. Wann haben Sie die Besitzung erworben? Der Herr Apotheker meinte vor drei Monaten.“
„Ganz recht. Wir – mein Sohn und ich – wohnten früher bei Göteborg in dem Badeort Langedroog.“
„Ah – in Langedroog. Ich kenne es. Sehr romantisch dort, viel Felsen. So – nun wollen wir nicht länger stören. Besten Dank, Frau Marnö –“ –
Wir kehrten durch die Bahnhofstraße nach dem Gasthof an den Fällen zurück.
„Die alte Fliepsen interessiert mich nicht mehr,“ sagte Harald nun. „Sie entschuldigen, Herr Apotheker. Wir müssen uns verabschieden. Ich möchte mal zu Doktor Tribroog gehen und fragen, wie es mit Sigrid Arbangs Befinden bestellt ist. Auf Wiedersehen –“
Der Arzt wohnte schräg gegenüber dem Gasthof. Es waren nur wenige Schritte bis dorthin.
„Komisch, daß der Apotheker nichts gemerkt hat,“ meinte Harald.
„Allerdings! Aber Du mußt berücksichtigen, daß die harmlosen Leute hier sich gar nicht denken können, ein Mann würde die Rolle seiner eigenen Aufwärterin mimen.“
„Das stimmt, mein Alter. Ottmar Orstra wird uns eine böse Nuß zu knacken geben!“
Wir betraten das Haus des Arztes.
Doktor Tribroog empfing uns mit der Nachricht, daß es Sigrid Arbang bereits besser ginge. Sie hätte sogar schon nach Harst gefragt.
„Anscheinend will sie Ihnen allein etwas mitteilen,“ fügte der Arzt hinzu. „Wenn Sie zu ihr wollen, Herr Harst, – ich habe nichts dagegen.“ –
Wir waren mit dem armen Weibe dann im Krankenzimmer allein.
Harst hatte ihr noch zwei Kissen unter den Kopf geschoben. Sie saß nun halb aufrecht. Ihre Finger glitten unruhig über die Bettdecke hin. Ihre Augen suchten Harsts Gesicht, irrten dann wieder im Zimmer umher.
„Wenn unser Besuch Sie aufregt,“ meinte Harald gütig, „dann gehen wir wieder, Fräulein Arbang –“
„Nein – nein! Bleiben Sie! Es fällt mir nur so sehr schwer, Ihnen die Wahrheit zu gestehen –“
„Ich will Ihnen helfen. Sie sind nicht Arbangs Tochter, der auch gar nicht Arbang heißt, sondern –“
Er machte eine kleine Pause.
Sigrid schaute ihn angstvoll an und hauchte: „Wissen Sie es denn?“
„– sondern Doktor Ottmar Orstra,“ vollendete Harst.
Sie nickte, seufzte schwer und stieß dann hervor:
„Er – er hat mich geraubt!“
Wir hoben unwillkürlich die Köpfe.
„Geraubt?“ fragte Harald ungläubig.