Edgar Wallace-Krimis: 78 Titel in einem Band. Edgar Wallace
einmal geküßt habe. Ich war sehr wütend darüber. Er beruhigte mich wieder und sagte, daß er vielleicht ein Vermögen verdienen könnte, wenn ich ihm helfen wollte. Er erklärte auch, er habe vor unserer Heirat keine Ahnung gehabt, daß ich nicht lesen und schreiben könne. Er meinte, daß ihm das noch Schwierigkeiten bereiten werde.
Aber ich könne ihm viel helfen, wenn ich herausfinden würde, wohin Mr. John abends gehe. Ich erfuhr später, daß er diese Information brauchte, um eine Begegnung mit Mr. John herbeizuführen, den er noch nicht kannte. Ich wußte, daß Mr. John Schulden hatte, denn er hatte mir erzählt, daß der Lebensunterhalt in Cambridge sehr teuer sei und er Geld habe borgen müssen. Er bat mich aber, seiner Tante nichts davon zu sagen.
Ich dachte natürlich, daß Albert das erfahren hatte und ein kleines Geschäft mit Mr. John machen wollte. Hätte ich gewußt, wozu ihre Zusammenkunft führen würde, hätte ich mir lieber die Zunge abgeschnitten als Albert erzählt, wo John seine Abende verbrachte. Er ging gewöhnlich in einen Klub in Soho.
Ungefähr eine Woche später teilte mir Selim mit, daß er Mr. John getroffen und ihm aus der Patsche geholfen habe.
›Sag ihm aber nie, daß du mich kennst.‹
Ich versprach es ihm. Miss Janet war sehr streng, und ich hätte sicher Unannehmlichkeiten bekommen, wenn sie etwas von meiner Heirat erfahren hätte. Ich wußte nicht, welches Abkommen Albert mit Mr. John getroffen hatte, aber er schien sehr zufrieden zu sein. Er kam jetzt nicht mehr selbst ins Haus, sondern schickte immer einen Angestellten.
Es ist merkwürdig, daß dieser Angestellte Albert nie zu Gesicht bekam. Ich kam später darauf, daß Albert nicht persönlich mit Mr. John gesprochen hatte, obwohl er das vorgab. Um diese Zeit fing er überhaupt an, sehr geheimnisvoll zu werden. Mr. John erzählte mir, daß er eine sehr gute Vereinbarung mit einem Herrn getroffen habe.
›Er glaubt, daß ich später einmal ein großes Vermögen erben werde, ich sagte ihm aber, daß ich nichts zu erwarten hätte. Er bestand darauf, mir alles Geld zu leihen, das ich brauchte.‹
Ich teilte Albert das bei unserem nächsten Zusammensein mit, er lachte nur. An den Abend erinnere ich mich noch sehr gut. Es war Sonntag, und wir hatten uns in einem Restaurant in der Nähe des King’s-Cross-Bahnhofs getroffen. Ich muß noch bemerken, daß wir uns nur in der Öffentlichkeit sahen, obgleich ich schon über einen Monat mit ihm verheiratet war. Er hat mich kein einziges Mal geküßt.
Es regnete heftig, und als wir aus dem Restaurant kamen, nahm er ein Taxi für mich und sagte dem Fahrer, daß er mich an der Ecke von Portman Square absetzen sollte. Es war etwa zehn Uhr, als ich dort ankam und den Fahrer bezahlte. Albert gab mir immer reichlich Geld. Ich erschrak sehr, als ich mich umwandte und beinahe Miss Janet in die Arme lief. Sie sagte kein Wort, aber als ich heimkam, ließ sie mich sofort rufen.
Sie sagte, sie verstehe nicht, daß ein anständiges junges Mädchen ein Taxi benütze, und fragte, woher ich das Geld hätte. Ich erwiderte, daß ich Geld gespart und daß ein Freund den Wagen für mich bezahlt habe. Sie wollte davon nichts hören, und ich wußte, daß sie mir kündigen würde.
›Bleiben Sie bitte auf und warten Sie auf Mr. John‹, sagte sie.
›Er speist heute auswärts in Gesellschaft einiger Freunde, aber er wird nicht später als elf kommen.‹
Ich war froh, daß sie nach oben ging. Mr. John kam erst nach zwölf, und ich sah sofort, daß er etwas zuviel getrunken hatte. Ich servierte ihm noch eine kleine Mahlzeit.
Er wurde zudringlich, nannte mich sein ›liebes, kleines Mädchen‹ und sagte, daß er mir eine Perlenbrosche kaufen wollte.
Und dann nahm er mich, bevor ich wußte, was geschah, in die Arme und küßte mich. Ich wehrte mich verzweifelt, aber er war sehr stark, und seine Lippen lagen auf den meinen, als sich die Tür öffnete und Miss Janet hereintrat.
Sie wies auf die Tür, und ich war froh, gehen zu dürfen. Ich erwartete bestimmt, daß ich am nächsten Morgen meine Sachen packen müßte, besonders nachdem Miss Janet mir hatte sagen lassen, daß ich nicht mehr arbeiten solle. Ungefähr um zehn Uhr ließ sie mich ins Wohnzimmer kommen.
Ich werde nie vergessen, wie sie in ihrem schwarzen Alpakakleid und ihrer kleinen, weißen Spitzenhaube dort saß. Ihre schönen, schlanken Hände waren im Schoß gefaltet.
›Hilda‹, sagte sie, ›mein Neffe hat Ihnen großes Unrecht getan. Wie weit er gegangen ist, weiß ich nicht. Ich verstehe jetzt aber, warum Sie soviel Geld haben und der Köchin vorige Woche fünf Pfund zeigten. Doch das gehört nicht zur Sache. Sie sind ein junges Mädchen in meinem Hause und stehen unter meinem Schutz. Ich habe eine große Verantwortung vor Gott und den Menschen für Sie, und ich habe angeordnet, daß mein Neffe Sie heiraten wird, um alles wieder gutzumachen.‹
Ich konnte nicht sprechen, ich hätte weinen mögen, als sie zu reden begann. Und dann wurde ich von ihren Worten ganz zerschmettert. Ich wollte ihr erzählen, daß ich schon verheiratet sei und ihr meinen Trauschein zeigen, um es zu beweisen. Aber die Urkunde war nicht in meinem Besitz, Albert verwahrte sie.
›Ich habe mit meinem Neffen gesprochen und habe meinen Rechtsanwalt beauftragt, ihm die nötigen Unterlagen zu beschaffen. Sie werden in der St.-Pauls-Kirche, Kensington, am nächsten Donnerstag getraut werden.‹
Ich machte mich sofort auf den Weg zu Albert. Er hatte ein kleines Büro über dem Laden des Tabakhändlers Ashlar. Ashlar ist später ein reicher Mann geworden und hat, wie ich glaube, ein großes Geschäftshaus errichtet, das seinen Namen trug. Zufällig war Albert im Büro, aber es dauerte sehr lange, bis er die Tür aufschloß und mich einließ. Er sagte, daß er Kunden nie persönlich abfertige, und er war ärgerlich, daß ich zu ihm kam. Aber als ich ihm von der peinlichen Lage erzählte, in der ich mich befand, änderte er seinen Ton. Ich sagte ihm, daß er mit Miss Janet sprechen müsse. Davon wollte er nichts wissen.
›Ich dachte mir schon, daß das passieren würde, Hilda. Du mußt nun verständig sein und etwas für mich tun.‹
Als ich erfuhr, was er von mir verlangte, wollte ich meinen Ohren nicht trauen. Ich sollte Mr. John tatsächlich heiraten!
›Aber das geht doch nicht – ich bin doch schon verheiratet!‹
›Es wird niemand etwas davon erfahren. Du bist mit mir doch in einem anderen Stadtteil getraut worden. Ich verspreche dir, daß er dich an der Kirchentür verläßt und du ihn nie wieder siehst. Tue das für mich, ich werde dir hundert Pfund geben.‹
Er fügte noch hinzu, daß wir beide genug für unser ganzes Leben verdienen würden, wenn ich Mr. John heiratete. Aber er gab mir keine nähere Auskunft.
Er konnte immer sehr überzeugend sprechen, und ich war so verwirrt, daß ich nicht mehr wußte, ob ich bei klarem Verstand war. Er konnte Schwarz zu Weiß machen, wie man so sagt, und schließlich willigte ich ein.
Ich habe mir später oft überlegt, ob er mich auf diese Weise loswerden wollte, aber das war es nicht; denn dann hätte er mich ja überhaupt nicht zu heiraten brauchen. Jetzt bin ich zu der Ansicht gekommen, daß er ein hübsches Mädchen im Haus haben wollte, das alle seine Wünsche erfüllen würde. Er hat wohl nie erwartet, daß mir Mr. John einen Heiratsantrag machen würde, aber er hatte vielleicht etwas viel Schlimmeres kommen sehen. Er war ein gemeiner, kaltblütiger Schuft.
Am Tag vor der Trauung hatte ich noch eine Unterredung mit Miss Janet.
›Hilda‹, sagte sie, ›morgen werden Sie also meinen Neffen heiraten. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß ich auf diese Heirat nicht stolz bin, und gebe Ihnen den Rat, Ihre Meinung für sich zu behalten. Was nun die Zukunft angeht, so können Sie nicht erwarten, daß ein Gentleman wie Mr. John seinen Freunden ein Mädchen Ihrer Art vorstellt. Sie sind vollständig ungebildet, und wenn auch Ihr Wesen nett und liebenswürdig ist, so ist doch Ihre Sprache unmögliche
Es ist merkwürdig, daß ich mich noch an jedes Wort erinnere, das Miss Janet damals sprach, obgleich inzwischen über dreißig Jahre vergangen sind. Ich war sehr empört, aber ich beherrschte mich