Edgar Wallace-Krimis: 78 Titel in einem Band. Edgar Wallace

Edgar Wallace-Krimis: 78 Titel in einem Band - Edgar  Wallace


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sie vor den Friedensrichter.

      Mr. Salter schaute lange darauf, bevor er seine Hornbrille aufsetzte und zu lesen begann.

      Er las sehr langsam, und es kam Andy vor, als ob er jedes Wort abschätzte. Einmal blätterte er zurück und las eine Seite noch einmal. Fünf – zehn – fünfzehn Minuten verstrichen in tiefstem Schweigen. Andy wurde ungeduldig, er dachte an Stella, die draußen im Wagen wartete.

      »Ach!« Mr. Salter legte das Manuskript wieder hin. »Der Geist, der in diesem Tal umging, ist gebannt, Doktor Macleod.«

      Andy verstand ihn nicht sofort. Mr. Salter sah seine Verwirrung und kam ihm zu Hilfe.

      »Ich meine Selim. Hier ist er, enthüllt in seiner ganzen Gemeinheit. Er verkaufte Seelen, brach Herzen, spielte mit dem Leben.« Er tippte auf das Manuskript.

      Andy entdeckte einen ungewöhnlichen Glanz in seinen Augen. Salters Gesicht sah nicht mehr eingefallen aus, und die tiefen Falten waren verschwunden. Er mußte eine geheime Klingel gedrückt haben, denn Tilling kam herein.

      »Bringen Sie mir eine Flasche Portwein.« Als der Diener sich entfernt hatte, fuhr er fort: »Sie können sich beglückwünschen – Sie haben einen größeren Sieg davongetragen, als wenn Sie Ihre Hand auf die Schulter Albert Selims gelegt hätten. Wir müssen Ihren Erfolg feiern, Doktor.«

      »Es tut mir leid, daß ich nicht länger bleiben kann – Miss Nelson wartet draußen in meinem Wagen.«

      Salter sprang auf, wurde blaß und setzte sich wieder.

      »Das bedauere ich aber wirklich sehr«, sagte er atemlos. »Es ist unverantwortlich von Ihnen, mir nichts davon mitgeteilt zu haben. Bitte bringen Sie sie doch herein.«

      Andy sagte zu Stella: »Die Nachricht, daß du im Wagen wartest, hat ihn sehr mitgenommen. Er sieht sehr elend aus.«

      Mr. Salter hatte sich inzwischen wieder etwas erholt. Er beobachtete Tilling, wie er den kostbaren Wein in die Gläser goß.

      »Verzeihen Sie, wenn ich nicht aufstehe«, sagte Mr. Salter lächelnd, als Stella mit Andy eintrat. »Sie also haben den Mann gepflegt, der bei mir einbrach?«

      »Hat Andy Ihnen das erzählt?« fragte sie bestürzt.

      »Nein, Andy hat mir nichts davon gesagt. Aber Sie werden jetzt ein Glas Portwein mit mir trinken, Miss Nelson. Nein? Das war schon alter Wein, als Ihr Vater noch ein kleines Kind war.«

      Er hob sein Glas und trank ihr zu.

      »Was wird nun aus Miss Masters oder Mrs. Bonsor werden?«

      »Sie wird wohl kaum in London bleiben. Sie hat ein schweres Verbrechen eingestanden – obwohl es schon so lange zurückliegt, daß es verjährt ist. Aus gewissen Anzeichen könnte man fast schließen, daß diese vielfach verheiratete Dame sich, zum viertenmal in das Eheleben stürzen wird.«

      Salter nickte.

      »Die arme Frau«, meinte er. »Die arme, getäuschte Frau!«

      Andy hatte nicht erwartet, bei Mr. Salter Sympathie für Mrs. Crafton-Bonsor zu finden.

      »Sie ist nicht besonders arm«, erwiderte er. »Scottie, der doch ein Kenner ist, schätzt den Wert ihrer Juwelen auf mindestens hunderttausend Pfund. Außerdem hat sie große Besitzungen in den Vereinigten Staaten. Ich bin aber eigentlich gekommen, um mit Ihnen über John Severn zu sprechen. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte? Ich bin fest überzeugt, daß Albert Selim diese Eheschließung zu seinem eigenen Vorteil ausnützte!«

      »Das tat er. Selim teilte Severn mit, daß seine Frau gestorben sei. Severn heiratete wieder und hatte, soviel ich weiß, Kinder. Selim hatte die Beweise für seine frühere Bigamie in der Hand, wodurch er große Summen von ihm erpreßte. Der Kontrakt, den Sie fanden, war Schwindel. Selim hat meinem Freund keinen Pfennig gezahlt, er hat nur eine alte Schuld getilgt. Das ist ja auch in der Aussage von Mrs. Crafton-Bonsor angedeutet. Im Lauf der Jahre fand seine Habgier immer neue Methoden, Severn zu quälen. Sie sehen, Doktor, daß ich offen bin. Ich wußte mehr über Severn, als ich Ihnen damals mitteilte.«

      »Daran habe ich nie gezweifelt«, sagte Andy lächelnd.

      »Und Sie, Miss Nelson, sind nun auch eine große Sorge losgeworden. Aber auch Sie haben etwas dafür gefunden.«

      Er schaute Andy an und dann Stella. »Es wird sich alles erfüllen, wie ich hoffe.«

      Bald darauf verabschiedeten sie sich.

      Andy schlief den ganzen Nachmittag, und sobald es dunkel wurde, begab er sich auf seinen Wachtposten in das lange, leere Arbeitszimmer Mr. Merrivans. Die Nacht ging ohne Zwischenfall vorüber. Kurz nach Tagesanbruch sah er Stella über den Rasen kommen. Sie trug etwas in der Hand. Sie kam direkt auf das Haus zu und klopfte zu seinem größten Erstaunen an.

      »Ich habe dir etwas Kaffee und ein paar Brötchen gebracht, Andy. Du Armer, du mußt doch entsetzlich müde sein.«

      »Woher wußtest du denn, daß ich hier bin?«

      »Das vermutete ich. Als du gestern abend nicht kamst, wußte ich, daß du Geisterdienst hattest.«

      »Du kluges Mädchen! Ich hatte es dir absichtlich nicht gesagt.«

      »Hast du nicht wieder den schlimmsten Verdacht gehabt, als du mich so früh am Morgen hierherkommen sahst?« Sie zog ihn am Ohrläppchen. »Du hast doch nichts gesehen und gehört?«

      »Nichts.«

      Sie schaute den düsteren Gang entlang und schüttelte den Kopf. »Ich möchte kein Detektiv sein. Andy, fürchtest du dich nicht manchmal?«

      »O doch, oft. Wenn ich zum Beispiel daran denke, wie ich es fertigbringen soll, dir ein Heim einzurichten, das gut genug für dich ist –«

      »Wir wollen ein wenig darüber plaudern«, sagte sie, und sie saßen zusammen, bis die Sonne durch die Fenster schien. Sie sprachen von Häusern und Wohnungen und von den hohen Kosten, die man für eine Einrichtung zahlen muß.

      Es war Andy nichts von der schlaflosen Nacht anzusehen, als er um elf Uhr im Metropolitan-Hotel stand. Er hatte noch mehrere Punkte aufzuklären.

      »Mrs. Crafton-Bonsor ist abgereist«, sagte der Empfangschef.

      »Abgereist?« fragte Andy erstaunt. »Wann?«

      »Gestern nachmittag, Sir. Sie und Professor Bellingham reisten zusammen ab.«

      »Hat sie auch das Gepäck schon mitgenommen?«

      »Es ist alles fort.«

      »Wissen Sie, wohin sie gereist ist?«

      »Ich habe nicht die geringste Ahnung – sie sagte, sie wolle für einige Tage an die See gehen.«

      Das war eine Überraschung für Andy.

      Er fuhr zur Castle Street, um vielleicht Scottie dort zu finden, aber er traf nur den etwas verwirrten Mr. Martin an.

      »Nein, Doktor Macleod, Scottie war nicht hier. Er ist seit drei Tagen nicht mehr hiergewesen.«

      »Hat er Ihnen denn keine Anweisungen hinterlassen, wie Sie diese Diebsherberge bewirtschaften sollen?«

      »Nein, Sir.« Big Martin sagte das aber in einem Ton, daß Andy sofort wußte, er log. Es hatte keinen Zweck, ihn weiter auszufragen. Andy fuhr nach Beverley Green zurück und legte sich schlafen.

      Um neun Uhr abends ging er wieder in Merrivans Haus. Johnston hatte einen bequemen Lehnsessel in das Arbeitszimmer gebracht. Er war so weich, daß Andy mehrmals einschlief.

      Das hat keinen Zweck, sagte er sich schließlich und ging zu dem vorderen Fenster, öffnete es und ließ die frische Nachtluft hereinströmen.

      Die Kirchturmuhr in Beverley schlug eins, und es war nichts von dem nächtlichen Besucher zu sehen.

      Er hatte den Riegel von dem hinteren Fenster zurückgezogen.


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