Edgar Wallace-Krimis: 78 Titel in einem Band. Edgar Wallace
schlug es zwei Uhr. Er saß wieder im Lehnsessel, und sein Kinn war auf die Brust gesunken. Er träumte von Stella und Mrs. Crafton-Bonsor.
Aber dann hörte er plötzlich ein Geräusch und war sofort ganz wach. Er schaute nach dem hinteren Fenster und sah, wie sich draußen eine dunkle Gestalt abhob. Die elektrische Leitung war auf seine Bitte hin wieder in Ordnung gebracht worden, und er schlich sich leise zum Schalter. Der Mann öffnete langsam das Fenster und gleich darauf hörte Andy Schritte im Zimmer. Aber er drehte das Licht noch nicht an, er wartete noch. Plötzlich ertönte eine merkwürdige Stimme.
»Komm heraus, Albert Selim, du verfluchter Hund!«
Die Stimme klang unheimlich hohl in dem leeren Raum.
»Komm heraus!«
Andy drehte das Licht an.
Ein Mann in einem gelben Schlafrock stand, den Rücken dem offenen Fenster zugekehrt, im Zimmer. In seiner ausgestreckten Hand hielt er eine lange Pistole, die er gegen einen unsichtbaren Feind gerichtet hatte.
Es war Salter! Boyd Salter!
Andy stockte der Atem. Dann war also Boyd Salter der kühle, gewandte Mann, der ihn so lange und so geschickt getäuscht und der seine Rolle so sicher gespielt hatte!
Seine Augen waren weit geöffnet und blickten starr ins Leere.
Er war nicht bei sich. Andrew hatte es gleich bemerkt, als er seine undeutliche, mißtönende Stimme gehört hatte.
»Das ist für dich, du verdammter Schuft!«
Salter zischte diese Worte durch die Zähne, und Andy hörte, wie die Pistole knackte. Dann sah er, wie Salter sich niederbeugte – zu der Stelle, wo sie Merrivan gefunden hatten. Dann kniete er langsam nieder und seine Hände befühlten einen Körper, den er zu sehen meinte. Er sprach dauernd mit sich selbst.
Salter durchlebte das Verbrechen noch einmal. Nacht für Nacht war er hergekommen. Es war unheimlich zu sehen, wie er das Pult absuchte, das nicht dastand, wie er den Schrank aufschloß, der längst entfernt war. Andrew beobachtete ihn genau. Jetzt steckte der Mann ein Streichholz an und glaubte die Papiere zu entzünden, die er seiner Meinung nach in den Kamin gelegt hatte. Dann blieb er an der Stelle stehen, wo man den Brief gefunden hatte.
»Du wirst keine Briefe mehr schreiben, Merrivan, du verdammter Kerl! Du wirst keine Briefe mehr unter meine Tür stecken – der war wieder für mich bestimmt – wie?« Er wandte sich wieder dorthin, wo die Leiche gelegen hatte. »Für mich?«’ Seine Blicke schweiften umher, und er schien etwas aufzuheben. »Ich muß den Schal des Mädchens mitnehmen«, sagte er dann leise. »Arme Stella! Dieser Teufel wird sie nicht mehr quälen. Ich will ihn mitnehmen.« Er steckte seine Hand in die Tasche, als ob er etwas hineinstecken wollte. »Wenn sie ihn finden, denken sie, daß sie hier war, als ich ihn niederschoß.«
Andrew folgte atemlos allen Bewegungen und Worten.
Nun war ihm plötzlich alles klar. Albert Selim und Merrivan waren ein und dieselbe Person, und der Drohbrief, der allem Anschein nach an Merrivan gerichtet war, stammte von diesem selbst. So war es! Merrivan wollte in der Nacht den Brief nach Beverley Hall bringen. Er hatte ihn geschrieben und zusammengefaltet, aber er hatte keine Zeit mehr gehabt, einen Umschlag zu adressieren, bevor ihn sein Schicksal ereilte.
Salter ging langsam durch den Raum und war ein paar Sekunden später durch das Fenster verschwunden. Er schloß es hinter sich. Gleich darauf war auch Andy im Garten und folgte dem Schlafwandler, der durch den Obstgarten ging. Plötzlich hörte er ihn wieder sprechen.
»Geh aus dem Weg, du verdammter Hund!«
Und wieder knackte der Pistolenhahn.
So war also Sweeny ums Leben gekommen! Sweeny war dort gewesen. Er hatte wahrscheinlich auch die Identität Selims mit Merrivan entdeckt und das Haus in jener Nacht beobachtet. Es war jetzt alles so einfach. Merrivan hatte Salter erpreßt. Aber wer mochte Severn sein – Severn, der Mann von Hilda Masters?
Er folgte Salter durch den Obstgarten, durch ein Tor in der Hecke. Salter war nun auf seinem eigenen Grund und Boden und bewegte sich weiter in jener merkwürdig behutsamen Art, die Schlafwandlern eigen ist. Andrew ließ ihn nicht aus dem Auge. Salter hielt sich auf einem Pfad nach Spring Covert, bog plötzlich unvermittelt nach links ab und überquerte die Wiese vor Beverley Hall.
Kaum war er hier ein Dutzend Schritte gegangen, als plötzlich ein heller Lichtschein aus dem Gras aufblitzte und eine Explosion folgte. Salter taumelte vornüber und fiel zu Boden.
Andy war sofort an seiner Seite. Salter lag bewegungslos.
Andy machte seine Taschenlampe an und rief um Hilfe. Gleich darauf antwortete ihm aus einiger Entfernung der Parkwächter Madding, den er schon von früher her kannte.
»Was ist geschehen, Sir? Sie müssen sich in einem Draht verfangen und einen Alarmschuß ausgelöst haben. Wir haben verschiedene ausgelegt, um die Wilddiebe zu fangen … Mein Gott«, rief er plötzlich erschrocken, »das ist ja Mr. Salter!«
Sie legten ihn auf den Rücken. Andy öffnete seine Pyjamajacke und legte das Ohr auf seine Brust.
»Ich fürchte, er ist tot.«
»Tot?« fragte der Parkwächter erschrocken. »Es war aber doch keine scharfe Patrone in dem Selbstschuß!«
»Er ist durch die Explosion erwacht, und der Schreck hat ihn sicher getötet. Und es ist wohl gut, daß er auf diese Weise starb.«
*
Andy ließ sich müde auf einen Sessel in Nelsons Wohnzimmer nieder.
Stella setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf seine Schulter. Andy nahm einen Zeitungsausschnitt aus seiner Tasche.
»Das fand ich in Salters Geldschrank. Sein Sohn hatte es ruhig aufgenommen. Man erwartete ja ein solches Ende. Er wußte, daß sein Vater Schlafwandler war, er hatte den Schmutz an seinem Pyjama entdeckt und hielt infolgedessen die Tür bewacht. Aber das alte Haus hat ein halbes Dutzend geheimer Wendeltreppen, und er ist jedesmal entkommen. Was hältst du davon?«
Sie las den Zeitungsausschnitt. Er war aus der ›Times‹.
*
›In Übereinstimmung mit den Anordnungen des Testaments des verstorbenen Mr. Philipp Boyd Salter wird sein Neffe, Mr. John Severn, der einzige Erbe seines Onkel, den Namen und Titel John Boyd Salter führen. Eine diesbezügliche gerichtliche Erklärung erscheint in den amtlichen Bekanntmachungen dieser Nummer.
»Hier haben wir also die Aufklärung. Severn und Boyd Salter waren ein und dieselbe Person. Wenn ich so vernünftig gewesen wäre, das Testament des Onkels nachzusehen, hätte ich das schon vor einem Monat wissen können. Er ist als ein glücklicher Mann gestorben. Seit Jahren hatte er unter dem Druck seiner Schuld und der Erpressungen Selims gelebt. Durch Merrivans Verrat hätte sein Sohn den Titel und das Vermögen verloren, die nur an einen rechtmäßigen Erben übergehen können. Aus der Aussage von Hilda Masters – sie hat übrigens vor ihrer Abreise Scottie tatsächlich geheiratet – ging ja die Rechtmäßigkeit seiner Ehe mit der Mutter seines Sohnes deutlich hervor. Merrivan war der größte Schrecken für seine Mitmenschen. Um die Zukunft seines Sohnes sicherzustellen, tötete ihn Salter. Aus demselben Grund drang er, als Parkwächter verkleidet, in Wilmots Haus ein, stahl den Trauschein und verbrannte ihn.«
»Woher wußte er, daß das Dokument dort zu finden war?«
»Downer verriet doch die Sache in dem Artikel, den er über uns schrieb.«
»Und was wird nun. aus Selims großem Vermögen? Fällt es an Artur Wilmot?«
»Nein, an Mrs. Bellingham. Es ist beinahe tragisch.«
Sie lachte und legte ihren Arm um seinen Nacken.
»Scottie ist doch eigentlich sehr geschickt«, meinte sie.
»Ja, aber wie kommst du gerade jetzt darauf?«
»Denk doch