Schritte an der Grenze. Gabriella Baumann-von Arx
Er möchte im Basislager am Fuß des Mount Everest eine Lodge samt Krankenstation bauen. Dieses Projekt ist unter Alpinisten und Naturschützern sehr umstritten, und seit ich die Pläne kenne, bin ich mit ihnen in einem Punkt einverstanden: Eine Lodge würde in diesem Gebiet eine touristische Entwicklung in Gang bringen, die wohl nur schwer zu bremsen wäre, denn die Chinesen träumen, das ist eine traurige Tatsache, vom großen Geld des Massentourismus. Eine Krankenstation hingegen würde helfen, Leben zu retten.
Russell ist 47 Jahre alt und hat Ähnlichkeiten mit einem »lonely wolf«, der in der freien Natur lebt, sich ab und zu gerne im Rudel aufhält, aber auch immer wieder Reißaus nimmt, um alleine durch die Gegend zu streifen. Russell hat die Berge gewählt, er hätte sich aber ebenso für die hohe See entscheiden und ein Seebär werden können. Die Verantwortung, die er sich immer wieder von neuem auf die Schultern lädt, ist für ihn Business. Damit verdient er sein Geld. Bei den elf Expeditionen, die er bisher am Mount Everest leitete, hatte er keinen einzigen Verlust zu beklagen.
Wie jedes Jahr hat er für sein Expeditionsteam die Logistik erledigt, all die nötigen Bewilligungen eingeholt, für professionelle Führer, Sherpas, Yak-Männer, Yaks, Zelte, Essen und für den besten Koch gesorgt. Kurz, er hat für seine Kunden eine Infrastruktur organisiert, die das Leben in dieser Höhe erleichtert.
Auch ich habe von dieser Infrastruktur profitiert. Zusammen mit meinem Kletterkollegen Robert Bösch. Bei einem Treffen mit Russell vor unserer Abreise besprachen wir das Vorgehen am Berg. Robert und ich würden die Hochlager von Russells Expedition benutzen können. Die Sherpas würden uns viele Lasten abnehmen und in die einzelnen Lager tragen. Aber die Entscheidungen am Berg würden Robert und ich autonom fällen. Russell erklärte sich damit einverstanden.
Robert Bösch ist ein sehr guter Alpinist und, wie ich, Bergführer. Wir kennen uns schon lange, haben manche Tour miteinander unternommen. Darüber hinaus ist er ein ausgezeichneter Fotograf, einer, der schon Bilder von mir machte, als mich noch fast niemand kannte. So auch bei einer Besteigung der Eigernordostwand und beim Durchklettern der Lancelot-Route in den Wendenstöcken. Es war nur logisch, dass ich meinen Sponsor darum bat, dass Robert mich begleiten dürfe, nicht nur, um mich für die Schweizer Medien zu fotografieren und für das Schweizer Fernsehen zu filmen. Nein, Robert und ich waren uns einig, dass oberhalb von 8000 Metern auch noch anderes auf ihn warten würde: Bilder von Schnee und Eis und Kälte. Von unendlicher, sich wölbender Weite. Von Tagen, an denen sich das Blau des Himmels im Eis spiegelt. Und von Nächten, deren tiefes Schwarz sich im Weiß der eisbedeckten Giganten bricht.
Bilder aus über 8000 Meter Höhe gibt es nur wenige, worüber ich mich allerdings nicht mehr wundere. Auf 8000 Metern betritt man einen neuen Raum, man nennt ihn die Todeszone. Kein Mensch überlebt diese Zone, wenn er sich darin zu lange aufhält, und jede zusätzliche Anstrengung wird zu einer extremen Belastung. Robert schleppte bei seinem Gipfelversuch die Fotoausrüstung mit, was das Ganze für ihn schwieriger machte. Auch konnte er durch das Fotografieren keinen eigenen Schritt-Rhythmus finden: stehen bleiben – auspacken – Handschuhe ausziehen – einen Meter nach rechts, einen nach links gehen, um die beste Einstellung zu finden – abdrücken – einpacken – Handschuhe wieder anziehen – weitergehen. In dieser Höhe eine ungeheure körperliche Anstrengung.
Als ich meinen Eltern bei einem gemeinsamen Abendessen mitteilte, ich wolle zum höchsten Punkt unserer Erde aufbrechen, wolle den Mount Everest besteigen und nähme das Risiko eines Scheiterns, wie auch immer dieses aussehen würde, in Kauf, schauten sie mich lange an. Und begannen schließlich, mich aufzuklären. Sie erklärten mir – der Bergführerin –, dass Menschen dort oben schwarze Füße kriegten und ebensolche Nasen, dass Kälte »amputieren« könne und dass ich meine Hände vielleicht nie mehr würde gebrauchen können wie heute. Das heißt, all dies sagte meine Mutter. Mein Vater schwieg.
Raymond Binsack, Vater
Als uns Evelyne von ihrem Vorhaben erzählte, auf den Mount Everest zu steigen, wusste ich sofort, auszureden war ihr dieses Ziel nicht. Sie war schon immer ein »Zwängigrind«, ein liebes zwar, aber auch eines, das ganz schön Nerven kostete. Natürlich fragte ich mich, ob der Everest tatsächlich sein müsse. Gleichzeitig aber wusste ich ja schon längst, dass man Evelyne nicht anbinden kann. Also habe ich auch gar nicht erst versucht, sie von ihrer Idee abzubringen. Und darum habe ich mir, als sie am Mount Everest war, auch nicht so viele Gedanken gemacht wie meine Frau.
Ich bin früher auch geklettert, besuchte im Militär sogar einige Hochgebirgskurse, mehr als ein Hobby war die Kletterei aber nie. So hoch hinaus wie Evelyne – das hat mich nie interessiert. Und als ich dann heiratete und die beiden Töchter auf der Welt waren, habe ich das Seil in eine Ecke gelegt. Ich wollte keine Risiken mehr eingehen, sondern meine Aufgabe als Familienvater wahrnehmen.
Rückblickend muss ich sagen, ich war ein strenger Vater, forderte viel von meinen Kindern, dachte immer: Später sind sie mir dankbar, dass sie eine Linie haben. Meine Philosophie, die ich zu vermitteln suchte, war: Tue recht und scheue niemand!
Früher überließen wir Männer es den Frauen, unsere Kinder zu trösten. Heute sind die Väter zärtlicher geworden, das finde ich schön.
Unsere ältere Tochter, Jacqueline, wurde Lehrerin, Evelyne wollte an die Sportschule Magglingen, um Sportlehrerin zu werden, warum das dann nicht geklappt hat, weiß ich nicht mehr. Sie hatte offensichtlich andere Pläne, lernte Sportartikelverkäuferin – wie gesagt, sie wusste sich durchzusetzen. Meine Frau hatte immer mehr Verständnis für sie als ich.
Nachdem Evelyne auf dem Mount Everest gestanden hatte, wurde ich von Journalisten immer wieder gefragt, ob ich stolz sei auf meine Tochter. Eine Frage, die mir nicht gefällt, das heißt, eigentlich gefällt mir nur dieses eine Wort nicht: stolz. Stolz bedeutet für mich »eingebildet sein«, »den Kopf zu hoch tragen«, »sich brüsten«, »mit hohlem Kreuz gehen«.
Lieber wäre mir die Frage gewesen, was ich an Evelyne schätze, dann hätte ich sagen können: ihre Aufrichtigkeit, ihre fröhliche Natur, ihr Vermögen, frisch von der Leber weg zu erzählen. Etwas, was ich nicht kann. Für all ihre Leistungen – nicht nur für die der Mount-Everest-Besteigung – empfinde ich aufrichtige Hochachtung.
Einmal führte Evelyne eine Gruppe auf eine Skitour und nahm uns Eltern mit. Die Tour ging über Gletscher und durch steiles Gelände, das mit etlichen Gletscherspalten durchsetzt war. Sie machte das richtig gut, so gut, dass ich nicht mal protestierte, als ich dachte, sie hätte den falschen Weg eingeschlagen. Halte dich zurück, sagte ich mir, so selbstsicher, wie sie hier auftritt, wird sie es schon richtig machen. Und tatsächlich, sie führte uns die 3000 Höhenmeter bestens hinunter.
Beeindruckt hat sie mich vollends, als wir mit ihr auf einen Helikopterflug durften. Als Pilotin erlebte ich sie als einen anderen Menschen. Ernst und hochkonzentriert, wenig mitteilsam. Ich fühlte mich absolut sicher. Und bekam erst dann ein flaues Gefühl im Magen, als sie ganz nah an verschiedenen Nordwänden vorbeiflog. Nicht, weil ich Angst gehabt hätte, sondern weil sie uns sagte, die meisten habe sie ohne Seil bestiegen.
Zuerst zeigte sie uns die kalten, abweisenden, grauen Nordwände des Rottalkessels, flog dann weiter zur Nordwand des Großen Fiescherhorns und verschonte uns auch nicht mit dem Anblick der Nordostwand des Eigers. Nichts als Schnee, Stein, Eis. In dieser Wand war meine Tochter geklettert? Ohne Sicherung! Ich schaute Evelyne von der Seite an. Sie sprach, bevor ich etwas sagen konnte. »Überwältigend, diese Flanke, nicht?«, fragte sie und sah dabei so entspannt und glücklich aus, dass ich nur nickte.
Die einzige schlaflose Nacht, die sie mir und meiner Frau mit ihrer Kletterei bescherte, war jene, als sie vor Jahren eine große Klettertour in den Ostalpen unternahm. Sie verabschiedete sich schon am Vorabend von uns, weil sie die Nacht in einer Hütte verbringen wollte, um am folgenden Tag in aller Frühe losgehen zu können. Der nächste Morgen begann strahlend schön, doch im Verlaufe des Nachmittags schlug das Wetter um. Es begann regelrecht zu gießen, und schon bald peitschte der aufkommende Sturm die Bäume. Abends um neun war Evelyne noch immer nicht zu Hause. Sie kam auch nicht um Mitternacht, und als morgens um sechs ihr Bett noch immer leer war, telefonierte ich mit der Rettungsflugwacht und meldete meine